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Um dieselbe Zeit saß Karl Feddersen in seinem Hotel beim zweiten Frühstück und ärgerte sich. Er schenkte sich ein Glas Wein ein. Der alte Bordeaux schmeckte wie Tinte. Er wollte essen und schob gelangweilt den Teller von sich und zündete sich eine Zigarre an ... Er nahm seine Kraft zusammen. Diese Aschermittwochstimmung mußte überwunden werden. Diese Tage hier ... das war wie ein Stück Traum ... ein Ende Willenlosigkeit ... nun war der Augenblick, wo man Schluß machte – ein für allemal! Heute abend ging es nach Paris ...
Was inzwischen tun? Es war erst früher Nachmittag. Kaum drei Uhr. Plötzlich kam die Versuchung über ihn: Eigentlich schickt es sich nicht, so wortlos abzureisen! Ich müßte noch einmal Margarete Teuffern sehen oder vielmehr ihren Eltern einen Besuch machen. Ich müßte ihr alles erklären, ihr sagen, daß ich nichts dafür kann, daß aus der Anstellung nichts geworden ist. Ich bin es mir schuldig. Gott weiß, wie sonst ihr Verlobter die Sache darstellt.
Sein Herz hämmerte heftig. Er stand auf. Er war plötzlich entschlossen. Er sah unten im Hotel die Wohnung des Generals nach und stieg in ein Auto, das ihn in fünf Minuten nach dem Westen brachte. Die weiten Dimensionen des Berliner Mietspalastes, vor dem es hielt, machten auf ihn den Eindruck, wie auf die meisten Ausländer. Er war jetzt geneigt, den Teuffernschen Hausstand zu überschätzen. Es war doch jedenfalls eine gute Familie. Hier in dieser Stadt sicher unter den ersten. Er drückte beruhigt auf den Klingelknopf der Flurtür.
Er mußte ein zweites Mal läuten, ehe geöffnet wurde. Vorher war drinnen ein unruhiges Hin- und Hergelaufe gewesen. Im Innern des dunkeln Flurs erblickte er grade noch die Gestalt eines kleinen, alten Herrn, der eilig, um nicht gesehen zu werden, verschwand. Irgend etwas war da nicht in Ordnung. Das merkte er. Auch das Stubenmädchen, das auf der Schwelle stand, machte einen verstörten Eindruck.
»Die Herrschaften empfangen heute leider nicht!« meldete sie, nahm die Karte des Besuchers und schloß gleich wieder die Tür. Karl Feddersen stieg kopfschüttelnd die Treppe hinunter. Es war alles so schnell gegangen. Eigentlich hätte er es sich selber sagen können. Eine bittere Enttäuschung übermannte ihn. Nun war die letzte, allerletzte Gelegenheit vorüber. Er blieb unten im Stiegenhaus stehen ... ärgerlich.
In dem Tor vor ihm klirrte ein Drücker. Es wurde hastig aufgestoßen, eine große, schlanke, junge Dame hob sich mit ihrem weißen Tellerhut nun der Helle des Glasfensters ab und stürmte achtlos mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, so hastig, daß er das Wehen und Fegen ihrer rasch bewegten Rockfalten wie einen Hauch verspürte. Er sah ihr schönes, düsteres Profil. Ein freudiger Schrecken durchzuckte ihn. Er hatte gerade noch Zeit, halb vor sie hinzutreten, ehe sie die erste Treppenstufe gewann, und seinen Hut zu lüften.
»Mein gnädiges Fräulein ...«
Sie schaute auf. Nun erkannte sie ihn. Sie wurde noch bleicher, als sie schon war. In ihre dunkeln Augen kam ein feindseliger, kalter Schimmer. Sie maß ihn kurz, beinahe verächtlich, neigte hochmütig das Haupt und wollte Weiter.
»Bleiben Sie doch einen Augenblick stehen, gnädiges Fräulein!«
Sie hemmte zögernd den Fuß. Er fuhr fort:
»Und geben Sie mir wenigstens die Hand ...«
Sie tat es mechanisch. Er sah durch den Schleier ihre vom Weinen geröteten Augen. Er empfand durch die Kälte des Handschuhs das Zittern ihrer Finger. Er versetzte:
»Und schauen Sie mich nicht so böse an, Fräulein von Teuffern! Es tut mir weh! ... Ich verdiene das nicht! ... Ich kann doch nichts dafür! Ich habe mein Bestes getan ... Sie ja auch ...«
»Ja, gewiß! Verzeihen Sie ...« Sie sagte es mühsam, mit abgewandtem Gesicht. »Ich bin heute so außer mir! ... Ich bin überhaupt so dumm ... Ich danke Ihnen nochmals ... Leben Sie wohl ...«
Er stand so, daß sie nicht gut an ihm vorbei konnte.
»Nein. Noch nicht! Ich möchte mich doch vor Ihnen rechtfertigen. Ich weiß nicht, was der Herr Leutnant Lünemann hier im Hause erzählt hat! Ich kann Ihnen nur versichern, ich habe mir jede Mühe gegeben! Ich habe ihm zugeredet wie einem Freund, nicht wie einem künftigen Angestellten. Es ist sonst nicht mein Brauch. Iwan Feddersen und Söhne laufen niemandem nach. Ich tat es wegen Ihnen! Aber que faire? Er wollte nun einmal nicht. Ihr Herr Bräutigam muß ja wissen, was er tut ...«
Sie warf den Kopf zurück.
»Bitte, nennen Sie ihn nicht mehr meinen Bräutigam!«
Sein Stutzen bemerkend, fügte sie hinzu:
»Ich habe vorhin die Verlobung gelöst. Es ist aus zwischen ihm und mir ...«
»Aber, mein gnädiges Fräulein ...«
»Aus für immer! ... Sie ahnen nicht, welche Ueberwindung mich das kostet, hier zu stehen und noch einmal mit Ihnen zu sprechen, nachdem ich mich so weit vergessen hab' ... Aber Sie sollen es wissen, daß ich mir nicht alles gefallen lasse! Diesen vergeblichen Gang nach dem Tatterfall verzeihe ich ihm nie. Er wollte Ihre dargebotene Hand nicht haben. Dann braucht er meine auch nicht! Wir haben uns vorhin für alle Zeit getrennt ...«
Sie nickte ihm traurig zum Abschied zu.
»Und seien Sie nicht böse, daß wir Sie mit unseren kleinen Sorgen belästigt haben. Ihnen mögen sie komisch erschienen sein. In unseren Verhältnissen bedeuten sie das Leben selber. Oder haben es bedeutet.«
Sie wollte gehen. Karl Feddersen war so betroffen, daß er kaum die Worte fand.
»Ja ... und was wird denn nun, gnädiges Fräulein?« Margarete von Teuffern zuckte die Achseln.
»Was soll denn jetzt werden?«
Dann setzte sie hinzu:
»Nächste Woche fahre ich zu meiner Tante nach Küstrin. Ich komme eben vom Telegraphenamt. Ich habe ihr eine Depesche geschickt, um mich anzumelden!«
»Und was tun Sie in Küstrin?«
»Nichts.«
»Warum gehen Sie denn dann erst hin?«
»Irgendwo muß man doch sein ... Es ist ja ganz gleich, wo ... Denn hier hab' ich alles so dick bis an den Hals ... aber auch alles ... Gott verzeih' mir die Sünde ...«
Sie stand jetzt schon auf der Mitte des ersten Stiegenaufgangs, drei Stufen höher als er. Er konnte ihr nicht gut weiter folgen. Sie sah mit ihrem schönen blassen Gesicht auf ihn hinunter und neigte noch einmal leicht das Haupt.
»Also gute Reise, Herr Feddersen. Und tragen Sie mir nichts nach!«
Ohne seine Antwort abzuwarten, stieg sie die Treppe hinauf. Rasch und elastisch, die rechte Hand lässig auf dem Geländer, mit der Linken ihr dunkles Kleid raffend. Dann war sie verschwunden. Karl Feddersen sah ihr immer noch nach. Er kam nur langsam wie aus einem Traum zu sich, trat auf die Straße hinaus, winkte der nächsten Droschke und fuhr ins Hotel.
Sein reiches Zimmer dort schien ihm kahl und öde, die Straßen draußen grau, ihn selber fröstelte. Er war in einem Zwiespalt von Ungeduld, wegzukommen, und Unentschlossenheit, zu bleiben, von Galgenhumor, sich und die ganze Sache lächerlich zu nehmen, und wieder von einem so trostlosen Weltschmerz, daß er am liebsten an seinem Schreibtisch, vor dem er saß, in helle Tränen ausgebrochen wäre. Er haßte die Schriftstücke, die da lagen – diese Depeschen – diese Firmenaufdrucke – diese Zahlenreihen ... immer die gleiche Tretmühle ... man war eine Rechenmaschine ... man hatte nichts vom Leben. Mit stillem Ingrimm musterte er einen dicken, eben aus Paris eingetroffenen Brief. Da schrieb der Bruder Sascha schon wieder. Er schrieb jeden Tag, den Gott werden ließ. Oder vielmehr: die Firma rief. Ewig die Firma: Die alte Leier ... Geschäfte ... Geschäfte hier ... Geschäfte dort ... Geschäfte überall ...
Karl Feddersen stand heftig auf und stampfte mit dem Fuß. Herrgott, wenn man es bei rechtem Licht betrachtete: das war ja nur Dummheit – Gewohnheit – Gedankenlosigkeit: diese ewige Rücksichtnehmerei auf die Firma und die Brüder. Er war mündig. Er konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Niemand hatte ihm Vorschriften zu machen. Niemand. Aber auch niemand.
Dann sagte er sich: »Nur kaltes Blut! Es tut Dir ja auch keiner etwas! Halte Du Dich nur selbst im Zaum!« Und im selben Augenblick stand schon wieder Margarete von Teufferns Bild vor ihm. Und mit ihm ein wundervoller, atemloser Schrecken: »Nun ist sie ja frei ...! Du hast es aus ihrem eigenen Mund gehört! ... Du könntest Dein Glück probieren ...«
Es durchzuckte ihn: »Wenn Du ihr nun schriebst? ...« Aber was? Doch nur das eine, ob sie Deine Frau werden will ... Er zitterte. Auf einmal war das alles in greifbare Nähe gerückt! Ach, Unsinn ... ihr schreiben ... in der Verfassung, in der sie war ... gedemütigt, wie sie sich durch ihn fühlte ... ein Fremder wie er ... Sie antwortete ihm womöglich gar nicht ...
Und überhaupt ... dazu dachte er zu sehr als Dreiviertel-Pariser, der er war: in solchen Dingen wandte man sich nach französischer Sitte zuerst an die Eltern und ließ das Mädchen aus dem Spiel. Vater und Mutter kannte er nicht ... nein ... er rief den Diener und ließ ihn für die Reise weiter packen. Er war jetzt ruhig. Er fühlte es mit Trauer. Er hatte es hinter sich. Er war vernünftiger, als er gedacht und gehofft. Morgen war er in Paris. Er raffte die letzten Schriftstücke auf seinem Schreibtisch zusammen, um sie in die Geschäftsmappe zu stecken. Da war der Zufall wieder. Da lag ein weißer Bogen.
»Adolphe!«
»Monsieur ...«
»Ist mein Coups für den Nord-Expreß reserviert?«
»Noch nicht, Monsieur!«
»Warum denn?«
»Der Beamte unten meint, Monsieur bestellten ja doch im letzten Augenblick immer wieder ab. Er wolle lieber noch warten ...«
Karl Feddersen wurde zornig.
»Der Herr unten hat gar nichts zu meinen! Gehen Sie sofort und belegen Sie die Plätze. Diesmal reise ich bestimmt!«
Er sah dabei gereizt, sich eine Zigarette anzündend, in das glattrasierte Lakaiengesicht ihm gegenüber. Es ging ihm durch den Sinn: Ob der Kerl wohl etwas ahnt? Anmerken konnte man seiner stoischen Ruhe nichts. Man hörte es kaum, wenn er, wie jetzt, die Tür hinter sich schloß. Karl Feddersen sah um sich. Er war allein. Drüben lag der Bogen ...
Und gleich darauf setzte er sich an den Tisch, warf seine Papyros fort und begann mit vorgebeugtem Kopf, hastig, in seiner fließenden Kaufmannshand, wie um ein wichtiges versäumtes Geschäft nachzuholen, zu schreiben:
»Euer Exzellenz!
Es ist mir nicht vergönnt. Euer Exzellenz persönlich bekannt zu sein. Trotzdem wage ich es, mich an Sie zu wenden. Ich hege einen Wunsch, dessen Unbescheidenheit niemand besser kennt, als ich selbst. Ich möchte Sie bitten, mir Gelegenheit zu geben, während der Zeit, die ich noch in Berlin zu bleiben gedenke, in Ihrem Hause verkehren zu dürfen.
Diese Bitte – ich gebe es zu – hat etwas Befremdendes für einen Ihnen Unbekannten, einen Ausländer, der nur dadurch mit Ihrer Familie in flüchtige Berührung gekommen ist, daß er sich nach Kräften, aber ohne seine Schuld vergeblich bemüht hat, einen ihm von Ihrem Fräulein Tochter ausgesprochenen Wunsch zu erfüllen.
Ich bin untröstlich, daß gerade durch diesen an meine Person geknüpften Zwischenfall Ihr Fräulein Tochter, wie sie mir selbst vorhin bei einer zufälligen Begegnung auf der Treppe Ihres Hauses sagte, veranlaßt worden ist, sich wieder als völlig frei zu betrachten. Anderseits würde ich ohne diese Wendung nie den Mut und das Recht zu der Bitte haben, daß Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin nur Ihr Haus öffnen, um mich kennen zu lernen. Und in dieser Andeutung ist wohl auch der Zweck meines Briefes klar genug enthüllt ...«
Es räusperte sich immer jemand hinter ihm. Adolph? stand da.
»Hier die Billette, Monsieur! Ich habe sie gleich bezahlt!«
»Sehr gut! Geben Sie her!« sagte Karl Feddersen, zerriß sie geschäftsmäßig, warf sie in den Papierkorb, winkte dem Diener, der keine Miene verzog, wieder zu gehen, und fuhr eilig mit dem Schreiben fort:
»Zu meiner Einführung bemerke ich, daß ich Mitteilhaber einer in mehreren Staaten Europas domizilierenden Weltfirma, des Hauses Iwan Feddersen und Söhne, bin. Ich selbst wohne für gewöhnlich in Paris. Ich bin ein reicher Mann. Ich glaube nicht, daß meine künftige Frau sich je irgendeinen Wunsch würde versagen müssen ...
Mein seliger Vater war in Rußland Kaufmann erster Gilde, Kommerzialrat und erblicher Ehrenbürger. Ich gehöre mithin einer hochangesehenen Familie an. Inwieweit nun, was wichtiger ist, meine Persönlichkeit für mich spricht, das erproben zu dürfen, ist die Bitte dieser Zeilen, die ich in der Hoffnung, hierdurch ganz korrekt zu verfahren, nur an Eure Exzellenz, nicht an Ihr Fräulein Tochter richte, deren augenblicklichen, bekümmerten Gemütszustand niemand mehr bedauern und ehren kann als ich. Ich würde auch mit meinem Ansuchen an Sie noch eine taktvolle Frist gewartet haben. Aber die vielen Geschäfte meines Hauses, deren Sklave ich mehr bin als ihr Herr und die mich von einer Stadt zur andern treiben, rauben mir die Möglichkeit, hier ruhigere Tage abzuwarten.
Zu jeder weiteren Auskunft finden mich Eure Exzellenz stets willig bereit. Ich bitte, Ihrer Frau Gemahlin meinen Respekt zu Füßen legen zu dürfen und sich der vollkommenen Hochachtung versichert halten zu wollen, mit der ich bin
Euer Exzellenz ergebenster Diener
Karl Feddersen.«
Der junge Millionär schloß das Schreiben, adressierte es und trug es selbst hinunter. Vor dem Hotel gab er es eigenhändig einem Radfahrdienstmann zur sofortigen Besorgung. Er trat mit bloßem Kopf unter die überwölbte Vorfahrt und sah durch die Laternenhelle des Pariser Platzes die rote Mütze des Boten, den weißen Schein des Briefes nach dem Dunkel des Tiergartens zu entschwinden. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Er war auf einmal ganz klar mit sich. Er begriff nicht, warum er diese Zeilen nicht gleich schon heute nachmittag geschrieben hatte. Das alles mußte ja so sein ...