Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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18.

Wieder war der Frühling in Paris. Kastaniengrün. Himmelblau. Sonnenglanz über der Seine. Dort lagen die verstaubten Bücherschätze der Trödler zur Schau. Auf den Boulevards hatte man die Tischchen auf die Straße hinausgerückt, in den Champs Elysées standen die Stuhlreihen. In breiten Kolonnen von Wagen und Automobilen rollte es des Nachmittags hinaus ins Bois und zurück, zeigte draußen auf den Rennplätzen, wie Felder bunter Blüten, Tausende und aber Tausende duftiger Toiletten, entlud aus den Schlünden der Bahnhöfe die Fremden-Völkerwanderung vom Atlantic und Kanal, von den Pyrenäen und dem Rhein. Das Babel lächelte, und die Sonne lachte über ihm. Brannte schon so heiß hernieder, daß Alexandre Feddersen in seinem Privatbureau in seiner Wohnung nahe am Stern aufstand, um die Vorhänge vor die Fenster zu ziehen.

Das lichtgrüne Laub der alten Bäume vor den Scheiben verschwand, das Zimmer hüllte sich in ein trübes Dämmern. In seiner Mitte saß schattenhaft die Gestalt Margaretes in tiefem Schwarz, die weißen Hände im Schoß zusammengelegt, den Kopf vornübergebeugt, von dem der lange Trauerflor nach hinten über die Stuhllehne bis auf den Boden wallte.

Es war still. Von ferne, von der Straße her einmal ein Wagenrollen, das Tuten einer Hupe, der Ruf eines Camelots. Innen im Hause regte sich nichts. Madge Feddersen war auf einem Abstecher nach London, um dort ihre Eltern aus Amerika zu treffen, und kam erst Ende dieser Woche mit ihren Kindern zurück. Ihr Mann hatte sich wieder gesetzt. Er drehte nervös den kleinen blonden Spitzbart, rückte den Zwicker zurecht und hub dann an, mit seiner silbenstechenden, keinen Widerspruch duldenden Bestimmtheit:

»Ja, wie gesagt, liebe Margot ... ich habe mich der peinlichen Aufgabe eines Unterhändlers unterzogen ... Ein Vermittler zwischen Eheleuten hat immer einen heiklen Stand. Auf Dank muß er schon von vornherein verzichten. Aber wenn die Umstände einem diese Pflicht auferlegen – wozu wären mir denn auf der Welt, als um unsere Pflicht zu tun?«

Die junge Frau erwiderte nichts. Sie kannte seit dem ersten Tag ihrer Ehe diese Feddersenschen Gemeinplätze. Die erbten sich seit Generationen in der Familie und Firma fort. Man wandte sie in jeder Sprache und in jeder Lebenslage an. Sie verpflichteten ja zu nichts. Ihr Schwager Sascha redete weiter, ein Papiermesser aus sibirischem Mammut in abgemessenen Zwischenräumen in seiner Rechten hin- und herbewegend:

»Es ist nun schon eine geraume Zeit her, daß der arme kleine Charles-Iwan gestorben ist! Sonst bringt solch ein Schicksalsschlag Ehegatten einander näher. Bei Euch hat er leider im Gegenteil das letzte Band zerrissen. Es muß ein Ausgleich gefunden werden. Die Umstände erfordern zwischen Dir und Charley eine Klärung. Und da er morgen wieder auf längere Zeit ins Ausland verreist, hat er sich mir anvertraut, und ich habe Dich in seinem Auftrag zu dieser Unterredung gebeten!«

Margarete Feddersen hob einen Augenblick den Kopf und sah ihren Schwager stumm an. Ihr Schleier war vorn zurückgeschlagen. Allein er konnte aus ihrem gleichgültigen Gesicht durchaus nicht entnehmen, was in ihr vorging. Er formulierte seinen Gedankengang weiter:

»Gegeben ist die Tatsache, daß Eure Ehe leider nicht glücklich ist. Das war vorauszusehen. An warnenden Stimmen hat es nicht gefehlt. Aber Charley nahm keinen Rat an. Es war für ihn, von allem Persönlichen natürlich abgesehen, nicht die richtige Partie. Sie führte ihn in Kreise, die nicht die unseren sind, die gewisse Bedingungen unseres Lebens nicht erfüllen. Ich war von Anfang an dagegen!«

»Mein Vater auch!« sagte Margarete. »Es war ihm gräßlich. Wir hatten noch nie einen Kaufmann in der Familie!«

Sascha Feddersen blinzelte unter dem hochmütigen Gegenhieb. Dann glitt ein mitleidiges Lächeln über sein mageres, nervöses Gesicht. Er ging über den Zwischenfall hinweg. Nur wurde seine Stimme noch kälter.

»Kommen wir zur Sache, wenn's beliebt! ... Charley glaubt Grund zu der Annahme zu haben, daß Du schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken einer Art von Scheidung spielst. Ist dem so?«

»Ja,« sagte Margarete Feddersen müde.

»Nun, Charley ist darin anderer Ansicht ... Erlaube, daß ich das Fenster aufmache! Es ist unerträglich heiß hier!«

Der Schwager tat es, kehrte auf seinen Platz zurück und führte sein Plaidoyer weiter.

»Die Gründe? Der erste liegt in ihm selbst. Er ist eine empfindliche Natur. Er hat eine starke Meinung von sich und wünscht, daß auch andere sie ihm zollen. Durch eine Ehescheidung gäbe er allen recht, die ihn seinerzeit vergebens zurückzuhalten versucht haben. Der zweite Grund betrifft uns alle. Wir wollen im Interesse der Firma keine unliebsamen Erörterungen vor dem Publikum ... keinen Scheidungsprozeß, der bei unserer Stellung hier wochenlang den Gesprächsstoff bildet und die Blätter füllt. Mit einem Wort: Charley läßt es nur dann zu einer Gerichtsverhandlung kommen, wenn Du ihn dazu zwingst, und vor der Oeffentlichkeit Dich ins Unrecht setzest und die Schuld übernimmst! Eine solche Entlastung wäre für ihn schon im Interesse seiner etwaigen späteren Wiederverheiratung geboten, die sonst ... doch das gehört nicht hierher! Du hast es ja in der Hand, meine liebe Margot! Wenn Du etwa Deinen Mann und Dein Haus verläßt, vielleicht ins Ausland gehst, bleibt ihm ja nichts übrig, als die Scheidung zu beantragen. Aber er selber wäscht dann seine Hände in Unschuld und zieht sie dauernd von Dir ab. Auf irgendwelche Unterstützungen von ihm oder von der Firma hast Du unter keinen Umständen zu rechnen. Wir zahlen nicht einen Sou. Merke Dir das!«

»Ich möchte lieber verhungern, als dann noch von Euch etwas annehmen,« sagte die junge Frau.

»Bleiben wir ruhig! Les affaires sont les affaires! Was Du treibst, ist nur Deine Sache! Dein Mann jedenfalls will makellos dastehen!«

»Makellos? Er hat doch längst seine früheren Beziehungen und Geschichten wieder aufgenommen. Glaubt Ihr denn, ich wüßte das nicht? Deine Frau hat es mir übrigens auch anonym geschrieben!«

Der Schwager überhörte das letztere.

»Nachweisen wirst Du ihm schwer etwas können,« versetzte er mit sachlicher Ruhe. »Ich billige das ja auch nicht. Keineswegs! Enfin ... Man kann ihm keine Gouvernante an die Leite geben. Er geht nun einmal seine eigenen Wege. Dafür läßt er auch Dir Deine Freiheit, in der Ueberzeugung, daß Du sie nicht mißbrauchen wirst!«

»Er hofft, daß ich sie mißbrauchen werde!« sagte Margarete kalt. »Er rechnet damit! Dann hat er den Vorwand, mich zu verstoßen und selbst im weißen Unschuldsgewand dazustehen!«

»Das sind Phrasen, auf die ich hier nicht antworte. Ich habe Dir unsern Standpunkt entwickelt. C'est à prendre ou à laisser

Sascha Feddersen griff dabei mechanisch nach einem Pack von Schriftstücken auf dem Tisch. Er hatte schon wieder Angst, zu einer geschäftlichen Konferenz zu spät zu kommen.

»Auf alle Fälle hast Du nun Zeit, Dir das Weitere während Charleys Abwesenheit zu überlegen!« sagte er freundlicher. »Nach seiner Rückkehr aus dem Kaukasus werden wir ja dann sehen! Und nun entschuldige mich, bitte! Ich muß auf die Börse! A propos: was hast Du denn für Nachrichten von Deiner Mutter aus Potsdam?«

»Gar keine guten! Sie ist immer noch sehr leidend!«

»Oh, das bedaure ich von Herzen ...«

»Adieu, Sascha!«

»Adieu! Adieu!«

Die Helle des Nachmittags schlug Margarete entgegen, als sie vor das Haus trat. Es war wie ein Bad in warmen, schmeichelnden Sonnenfluten – dazwischen der tiefe Schatten der Kastanien, Lücken von Himmelblau in dem Gezweig – überall Lachen und Leben – geputzte Menschen – in Reihen saßen dort die Kinder vor dem Kasperletheater im Freien und jubelten ... Die junge Frau sah es mit leerem Auge. Sie hatte ihr Automobil heimgeschickt und ging zu Fuß in der entgegengesetzten Richtung. Warum – sie wußte es nicht. Es war ja gleich. Es war alles gleich. Man trieb so mit in diesem Frühlingswallen – das Leben glitt auf der glitzernden Oberfläche dahin, rasch, immer rascher – wie ein Blatt auf dem Spiegel eines Baches. Was schließlich kam? Du lieber Gott – alles nahm ein Ende. Das meiste hatte ja schon ein Ende genommen ...

Die Sonne brannte auf den weiten, schattenlosen Flächen des Tuilerienplatzes. Vor dem Standbild der Stadt Straßburg lagen vergilbte Kränze. Auf einer Bank saß ein alter Herr mit einem Zylinder und dem roten Knöpfchen der Ehrenlegion und fütterte die Spatzen. Sie saßen ihm auf Hand und Schulter. Er lächelte. Unzählige Male hatte Margarete Feddersen das alles gesehen. Heute war ihr zumut, als träume sie diese Stadt und frage sich in einem Uebergang zwischen Schlaf und Wachen: Wie kam ich nur hierher?

Sie sagte sich, während der Arkadenschatten der Rue Rivoli sie aufnahm: Bisher hatte ich immer noch einen Grund für mein Hiersein ... einen Zwang ... ich hatte mein Kind. Ich durfte es nicht verlassen, obwohl ich es nicht liebte. Weil ich es nicht liebte, hab' ich es nicht mehr. Nun bin ich allein. Und doch noch hier. Das ist die Entwürdigung. Die Schwäche. Das Geld. Es macht matt und satt. Es wirkt wie ein süßes Gift. Man gewöhnt sich daran. Man kommt nicht mehr von ihm los ...

Da drüben, jenseits des Rheins, lag das Grau über den Vogesen, Sorge wartete auf die Heimkehrende, Not: Die Krankenstube der Mutter ... das Gnadenbrot bei Verwandten ... ein fremder Tisch, unter den man irgendwie die Füße streckte. Sie hätte aufweinen mögen, nicht aus Angst vor dem Leben, sondern aus Verzweiflung, daß sie dem Leben gegenüber nicht mehr die vollen Kräfte fand. Die Feddersen hatten sie allmählich entnervt. Sie konnte in ihrem Bewußtsein sich und den Reichtum so wenig mehr voneinander trennen wie den Duft von der Blume, den Rahmen vom Bild.

Ueberall grüßte sie der Reichtum. Ueberall umschmeichelte sie Paris, das lockende, das lachende, das Paradies derer, die da nicht säen und nicht ernten. Unter dieser goldenen Sonne lebte es sich leicht, wie die Lilien auf dem Felde – schlimmstenfalls ein Pflanzendasein ohne viel Freud' und Leid. Sie ging die Rue da le Paix hinauf, mein Gott, war dies Paris reich! Hier war der Brennpunkt seiner Schätze. Ein Diamantenladen neben dem anderen. Zu Tausenden funkelten die kleinen wasserhellen Sonnen aus den Schaufenstern, lockte Perlenschimmer, Rubinenfeuer, Smaragdgrün ... Man hatte ein ruhiges Gefühl diesen Schätzen gegenüber. Man konnte eintreten und sie kaufen. Man war nicht arm. Das wenigstens hatte man erreicht, hatte man auch erreichen wollen ... Nach außen stand man groß da, vor den Verwandten daheim, vor aller Welt, eine bewunderte, viel beneidete Frau ...

Wie heiß die Sonne brannte! Wie damals, als sie vor fünf Jahren um diese Zeit von der Hochzeitsreise zurückgekommen war, aus dem Blütentraum der Riviera in die Wirklichkeit der Firma Iwan Feddersen und Söhne. Der Frühling war die rechte Zeit zum Heiraten. Jetzt heiratete wohl auch Moritz Lünemann. Oder hatte es schon getan. Auf einmal war sie auf ihn geraten. Wider Willen. Sie wollte nicht mehr an ihn denken. Und zuckte doch vor Schmerz zusammen. Nie hatte ihr die Post eine Zeile Antwort auf ihren Brief gebracht. Er war über sie hinweggegangen. Ebenso wie ihr Mann sie zur Seite schob. Niemand wollte etwas von ihr wissen. Sie stand ganz allein ...

Ein leidenschaftlicher Trotz war wie ein Kuppler in ihr: Nun gut! Dann laßt mich auch allein mich meines Daseins freuen. Laßt mich verschwenden, genießen – es wird mir schon gelingen, mich zu betäuben, mehr als Euch recht ist oder gerade so wie es Euch recht ist! Das wird dann einmal ein Ende mit Schrecken nehmen. Darauf sind wir alle gefaßt! Aber besser mit dem bißchen, was ich noch bin, aus dem Vollen heraus zugrunde gehen, als ...

Sie schritt weiter und dachte sich in einem grundlosen Lachen, einer Aufgeregtheit, mit unruhigen Augen: Ich bin in einer gefährlichen Stimmung. Sie reizen mich bis zum äußersten, die Feddersen alle! Sie dürfen sich nicht wundern, wenn ich ihnen das Dach über dem Kopf anzünde! An Brennstoff fehlt's nicht! Ueberall in Paris schlagen die Flämmchen aus dem Pflaster und sitzen auf den Telephondrähten und tanzen über der Seine. Wer hier nur mit einem Gedanken will, der zaubert sich damit auch schon die Gelegenheit herbei ...

»Cousine ... Cousine Margot!«

Sie hörte hinter sich am Opernplatz eine helle, weiche Männerstimme. Sie erkannte sie sofort, obwohl sie sie seit länger als einem Vierteljahr nicht gehört hatte. Sie wandte den Kopf nicht. Sie schritt weiter. Sie dachte sich nur, sonderbar gefaßt: ›Den hab' ich mir eben selber aus dem Boden herausgewünscht, wie den Teufel im Märchen!‹

»Cousine Margot!«

Endlich war es Alphonse Feddersen geglückt, im Gedränge des Boulevards atemlos an Margaretens Seite zu gelangen. Sein längliches, bräunliches Gesicht mit den schwermütigen Augen strahlte über dem schwarzen Spitzbart von treuherzigem Glück. Er streckte ihr kameradschaftlich die Rechte entgegen. Dabei verbreitete sich in Erinnerung an ihren Verlust ein mitfühlender Ernst über seine Züge. Er gab dem nicht mit Worten, nur mit einem langen, innigen Händedruck Raum. Dann sagte er weich und leise:

»Wie lange haben wir uns nicht gesehen, Cousine Margot? Seit jenem schrecklichen Tag. Ich war damals so empört über Charley ... So verstört, als ich gleich nachher von dem Unglück bei Ihnen hörte ... Ich bin sofort abgereist und erst dieser Tage wiedergekommen!«

Sie hätte ihm antworten können: ›Jawohl! Weil Sie wußten, daß Sie nach diesem Schicksalsschlag mir anstandshalber ein Vierteljahr Schonzeit gönnen mußten.‹ Es war entsetzlich, diese Hellseherei gegenüber all diesen Menschen um sie! Sie bewegten sich vor ihr und sprachen und gestikulierten, als wären sie von Glas. Und dabei war es ihr so gleichgültig, so unheimlich gleichgültig, was aus dem allen wurde. Auch aus ihr. Sie sah sich selbst auch als eine Fremde. Sie brachte kein Interesse mehr an ihrem Schicksal auf. Sie verfolgte es förmlich unpersönlich, ohne Spannung, ohne Willen.

»Wo waren Sie denn?« fragte sie, während der Vetter Alphonse, wie wenn es sich von selbst verstände, an ihrer Linken mit ihr weiterschritt. Er lächelte.

»Ich hab' mich ein wenig am Nil gesonnt! Es war nicht viel los da. Ich habe unter den Palmen von Ghesireh-Palace gefaulenzt und dabei an Sie gedacht. Dann rutschte ich rüber nach Monte Carlo. Was wollen Sie? Irgendeine Heimat muß der Mensch haben! ... Da hab' ich wieder unter den Palmen gesessen und an Sie gedacht ... Und als es zu heiß wurde, hab' ich meine Koffer gepackt und bin hierher gereist und hab' seitdem erst recht an Sie gedacht.«

Sie schwieg.

»Sie sehen angegriffen aus, teure Freundin!« begann er nach einer Weile mitleidig und besorgt. »Bleich wie eine schöne Statue!«

»Sie wissen ja, warum ...«

»Es ist nicht nur dieser eine schwere Verlust, Cousine Margot! Sie leiden an tausend Dingen. Sie leiden am Leben selber! Ich verfolge ja diesen Prozeß seit Jahren!«

»Er geht Sie gar nichts an, Vetter!«

»Oh doch! Wer selbst nicht mit sich zurechtkommt braucht einen Freund, einen Arzt der Seele. Darum nehme ich mir das Recht zur Hilfe! Schon als Ihr Verwandter. Als der einzige Feddersen, der es gut mit Ihnen meint. Die anderen geben Ihnen ja Steine statt Brot. Man muß sich von diesen Leuten emanzipieren. Sie von Grund aus verachten! Das ist der erste Schritt zur Genesung. Ich habe mich gründlich auf eigene Füße gestellt ... Passen Sie auf ... das Auto!«

Er hielt sie, die im Begriff war, über die Bordschwelle zu treten, zurück. Dabei berührte er ihren Arm. Er ließ die Hand an ihrer Schulter liegen und geleitete sie so, mit der Sicherheit eines Vollblut-Parisers, über die Straßenkreuzung. Sie duldete es. Sie war froh, daß irgendein Mensch sich ihrer noch annahm. Als sie drüben waren knüpfte er an seine Worte von vorhin an ...

»Sie nehmen das Leben zu ernst! Da hätten Sie nicht nach Paris heiraten dürfen. Aber, zum Glück, Paris ist stärker als Sie und wir alle! Sie werden sich schon noch mit der Zeit einleben! Sehen Sie mich an! Ich bin hier eingebürgert, ein Philosoph der Boulevards. Ich sage mir: Alles ist vergänglich! Also genießen wir die Stunde. Das Leben ist ja so kurz ... die Festtage darin so selten ... zum Beispiel, wenn ich Sie sehe, Cousine Margot ...«

Margarete dachte sich mit einer stillen Bitterkeit: Du bist wirklich noch der einzige, der sich darüber freut! ... Sie blieb stehen und sagte laut:

»Es wäre gut, wenn Sie jetzt nach Hause gingen, Vetter. Ihre Wohnung ist ja so nahe!«

Er schüttelte stumm den Kopf und begleitete sie weiter. Man wurde ihn nicht los. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht.

»Sie sind keine Frau, die man jetzt allein lassen darf, Margot!« begann er wieder. »Mich täuschen Sie nicht. Ich bin ein alter Menschenkenner. In Ihnen gärt es. Kein Wunder, nach allem, was man Sie in dieser furchtbaren Familie Feddersen hat leiden lassen und noch leiden läßt! Sehen Sie, – hier auf diesem Pflaster, über das wir eben gehen, hat man vor mehr als einem Jahrhundert schon die Menschenrechte erfunden. Ja, das allererste und natürlichste Recht hat doch der Mensch auf sich selbst! Das soll und darf ihm keiner streitig machen ...«

»Es tut's ja auch niemand,« sagte die junge Frau, mehr für sich als zu ihm.

»Selber tut man's! ... Man plagt sich mit unnützen Skrupeln. Aber man muß die schließlich über Bord werfen, wenn man überhaupt leben will!«

Er machte, von den Tuilerien aus, die sie durchschritten, eine weitausgreifende, wie zum Eintritt einladende Handbewegung über das gewaltige Rundbild von Paris.

»Das ist die Stadt der freien Herzen, Margot! Hier wird alles verziehen! Hier scheint die Sonne doppelt so hell! ... Der Tag ist doppelt so reich! ... Es ist die Lebensluft für eine schöne Frau. Nirgends ist sie schöner, kann anderen mehr sein, ist sich selber mehr als hier, wo alles für sie geschaffen ist und sich nur um sie dreht! Sie sind doch eigentlich beneidenswert, Cousine Margot! Sie sind im Grunde viel glücklicher, als Sie sich in ihrem deutschen Trübsinn selber zugestehen wollen. Man muß Ihnen nur erst die Augen öffnen ...«

Er sprach weiter und weiter. Sie hörte es nicht mehr recht: Seine Worte waren nur noch ein Teil des ganzen bunten Klingens und Singens umher, das sie betäubte, ihren Sinn und Willen mit einer süßen Müdigkeit gefangen nahm – die lachenden Menschen, die Sonne, der Frühling, der Reichtum ... und in einem die Jugend ... Sie hatte die Augen halb geschlossen. Sie ging wie im Traum des Weges. Plötzlich standen sie vor ihrem Hause. Alphonse hatte sie durch den Vorgarten bis zum Eingang begleitet. Das erste Ahnen des warmen Maiabends sank hernieder. Der Himmel war blaß geworden. Lange Schatten lagen über den schreienden Tulpenbeeten zu beiden Seiten des Kiespfades. Ein schwerer, einschmeichelnder Hyazinthenhauch stieg vom Boden. Die junge Frau sah ihren Begleiter ungeduldig an.

»Warum haben Sie sich nicht draußen auf der Straße verabschiedet, Vetter?« sagte sie. »Wenn Sie nach dem damaligen Auftritt mit meinem Mann nur einen Zollbreit Erde betreten können, der ihm gehört ...«

»Er ist ja nicht hier!« erwiderte Alphonse nachlässig. Er nahm Karl Feddersen nicht ernst. »Ihr Gatte ist überhaupt drüben in Brüssel!«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Ich weiß mehr von ihm, als gut ist!« Auf den Zügen des schwarzen Vetters war ein leises mephistophelisches Lächeln. Sie verstand, was er meinte. Sie wandte sich ab und preßte die Lippen zusammen.

»Er kann jeden Augenblick von Brüssel zurückkommen!« versetzte sie hart. »Also bitte – gehen Sie!«

Zugleich war der Hausmeister durch die geöffnete Türe herangetreten, eine Depesche aus Brüssel in der Hand. Monsieur sei untröstlich, dort durch Geschäfte festgehalten zu sein. Es sei ihm unmöglich, rechtzeitig zum Diner in Paris einzutreffen. Er müsse den Mitternachtszug benutzen.

»Na also!« sagte Alphonse mit philosophischer Ruhe und einem verdächtigen Augenzwinkern, als er das Wort »Geschäfte« hörte. Er sprach unbekümmert vor den Dienstboten Deutsch, was der Hausherr als Ehrenlegionär und frischgebackener Franzose ängstlich vermied. »Dann können Sie mir ja erlauben, noch ein bißchen einzutreten, Cousine!«

»Nein!«

»Warum nicht? Ich muß Ihnen noch manches sagen! ... Im Freien, unter den vielen Menschen findet man nicht die rechten Worte!«

»Adieu!«

Er musterte sie förmlich ergriffen.

»Sie arme, kleine Frau!« meinte er kopfschüttelnd. »Ich glaube wirklich, Sie haben immer noch Angst vor Ihrem Mann. Dann sind Sie der einzige Mensch auf der Welt, dem der gute Charley dies Gefühl einflößt. Er kann stolz darauf sein. Aber er will es ja gar nicht! Tut er Ihnen denn etwas? Er kümmert sich ja gar nicht um Sie! Er läßt Sie treiben, was Sie mögen, und gibt seinen Segen dazu ... Eh bien ... dann machen Sie doch davon Gebrauch! Warum wollen Sie päpstlicher sein als der Papst?«

Dabei trat er unbefangen hinter ihr in das Haus, gab Hut und Stock dem Diener und folgte ihr in die ebenerdigen Empfangsräume. In denen waren schon ein paar elektrische Lampen aufgedreht. Ein purpurnes Dämmern ging von ihren rotumflorten Kugeln aus und mischte sich mit der strömenden Helle, die durch die Türen des kleinen runden Speisesaals flutete. Dort gossen Wachskerzen, groß wie Opferstöcke, ihren weichen Schimmer über Silber und Blumen ... Es war für zwei gedeckt. Für Hausherrn und Hausfrau. Alphonse Feddersen tat bestürzt.

»Verzeihen Sie nur, Cousine!« sagte er und griff sich vor dem Spiegel nach dem Kragen, als wolle er da nach der weißen Binde fahnden. »Ich bin nicht im Abendanzug! Ich ahnte ja nicht, welch ein Glücksfall mir bevorstand ...«

»Ja, habe ich Sie denn etwa eingeladen?«

In seinen samtweichen, schwarzen Augen war ein beinahe zärtlicher Vorwurf.

»Sie wollen doch nicht allein hier den Abend sitzen und Trübsal blasen? Da Charley nicht kommt ...«

»Er kann aber kommen! Vielleicht sind seine Geschäfte in Brüssel doch früher zu Ende ...«

Alphonse Feddersen lachte hell.

»In Brüssel? ... Es ist ja richtig, daß er heute den Tag über in Brüssel war. Daß er jetzt längst wieder in Paris sitzt, und zwar Gott weiß wo und Gott weiß mit wem – liebe Freundin ... Wir sind doch keine Kinder! ... Wir wollen uns doch nichts vormachen! ... Ich bewundere nur Ihre himmlische Geduld ...«

Sie schaute zur Seite. Eine heiße Rachsucht knisterte mit lockenden Flämmchen in ihr. Alphonse Feddersen fuhr als milder Tröster fort:

»Ihr Mann wandelt auf verbotenen Wegen! Warum sollen Sie nicht auf erlaubten gehen? Ihren richtigen Vetter in Gegenwart der Dienerschaft bei sich schauen? Guter Gott ... Sie sind doch keine Nonne, die sich einmauert, um fremde Sünden zu büßen! Und wenn Sie's täten, glauben Sie, daß es Ihnen auch nur eine Menschenseele zu beiden Ufern der Seine dankt? Auslachen würde man Sie, die prüde, kleine Deutsche, mit der ihr Mann anstellen kann, was er will!«

»Bitte, warten Sie hier!« sagte Margarete. »Ich komme bald wieder herunter!«

Als sie nach einer Viertelstunde wieder erschien, in halsfreiem schwarzen Kleid, mit schwarzen Spitzen, ein Perlendiadem in dem dunklen Haar, lächelte der Vetter Alphonse befriedigt. Sie hatte sich seinetwegen Mühe gegeben. Sie sah blendend schön aus, trotz ihrer wächsernen Blässe, durch die die Aufregung zitterte. Ihr Mann hatte dem Gast das Haus verboten. Sie hatte ihn sich hereingeholt. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Es war eine Kriegserklärung. Eine offenkundige, zum Glück. Vor Augen und Ohren der Dienerschaft. Sie wechselte die Farbe und atmete rasch und unregelmäßig. Sie fühlte das Fieber des Aufruhrs in sich. Eine verzweifelte Stimmung. Lust, die Augen zuzumachen. Angst vor sich. Angst vor allem.

»Morgen werde ich einen Auftritt mit Charley haben!« sagte sie, »wenn er hört, daß Sie dagewesen sind!«

Der Vetter lächelte gutmütig und entfernte den Bart von seiner Auster.

»Morgen reist Charley nach Baku! ... Gott mit ihm! Er kommt so bald nicht wieder. Ich kenne die Freuden von Baku: Es werden Bohrtürme zu brennen anfangen, die Schwarzarbeiter werden streiken, die Pest wird aus Turkestan herüberkommen, die Naphthapreise werden sinken ...«

Er malte behaglich diese Schreckgespenster aus und trank der schönen jungen Frau zu.

»Bedauern wir unseren guten Charley nicht! Er will es nicht anders. Die Feddersens sind nun einmal Kettensklaven des Geschäfts. Daß er das zuweilen durch Anwandlungen einer philiströsen Unmoral unterbricht, macht die Sache nicht besser! Im Gegenteil! Diese Leute sind in allem klein!«

Er hob immer noch sein Glas. Er lächelte schmeichlerisch, mit seinen sanften, mandelförmigen Augen, den weichlichen roten Lippen. Sie hatte die seltsame klare Empfindung, daß er ihr als Mensch nie gefährlich werden könnte, nur als verkörperter Geist des Widerspruchs. Das aber wohl. Sie zögerte, mit ihm anzustoßen. Dann tat sie es doch. Ihre Hand zitterte dabei. Sie leerte den schweren Sektkelch in einem Zuge. Eine Sekunde blickten sie sich in die Augen. Dann fragte er ganz gemütlich:

»Was tun Sie denn nun in nächster Zeit als Strohwitwe, Margot?«

Sie zuckte die Achseln.

»Was ich immer tu: Nichts!«

Er beugte sich über den Tisch vor.

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen! Aber seien Sie nicht gleich böse!«

Margarete schwieg. Er strahlte plötzlich, als käme die Erinnerung an ein Paradies über ihn.

»Mein Gott ... muß es jetzt in Biarritz schön sein ...! Sie sind abgespannt und erschöpft! Diese stählerne Seeluft – das ist die richtige Stärkung für Ihre Nerven ...«

»Sind Sie ein Arzt?«

»Ich weiß besser als eine Autorität von der Sorbonne, was Ihnen fehlt: ein bißchen Sonnenschein, innen und außen. Weiter nichts! Denken Sie nur, wie am Baskenstrand jetzt alles über und über von Magnolien blüht! Passen Sie auf: Ich pflege Sie dort schon gesund!«

»Was denken Sie sich denn eigentlich dabei, Vetter? Soll ich mit Ihnen auf Reisen gehen? Ich glaube wirklich, Sie sind nicht ganz bei Trost!«

Er machte ein erstauntes und halb gekränktes Gesicht.

»Sie haben ein Mißtrauen gegen mich, Margot ... Alles, auch das Unverfänglichste, fassen Sie bei mir gleich falsch auf! Ueberall wittern Sie bei mir eine Falle! Sie sind doch frei wie der Vogel in der Luft. Wer hindert Sie denn, Ihre Kammerfrau und Ihre Koffer aufzupacken und nach Biarritz zu fahren? ...«

»Ja, mich ...«

»Und wenn Sie da am Strande promenieren und sich doch ein bißchen verlassen fühlen, da sagen Sie sich: Wie nett! Da drüben steht ja der gute Alphonse und fängt Tintenfische. Ist der auch hier? Ja – warum soll ich nicht schließlich auch nach Biarritz reisen! Ich hab' ja auch nichts vor! ... Denken Sie nur: welch Wiedersehen! Wir werden uns königlich amüsieren! Wir werden zusammen bummeln. Ich mache Ihnen die Honneurs der Pyrenäen. Ich führe Sie hinüber nach San Sebastian zum Stiergefecht. Ich bringe Sie im Auto ins Tal von Ronceval. Ich bin Ihr getreuer Reisekurier und Gesellschafter. Und dabei Ihr aufrichtiger Freund, Margot!«

Er legte treuherzig die Hände zusammen. Sie hörte dem Fuchs im Schafpelz mit einem sonderbaren, zweifelnden Lächeln zu. Er redete in einem fort. Seine Worte verklangen ihr am Ohr. Vor ihr stiegen die Bläschen im Champagnerglas. So verperlte das Leben. Bald wurde es ganz schal. Noch war man jung. Die Tage flohen und flohen ... Und Alphonse Feddersen plauderte. Es war, als gösse er ihr behutsam, tropfenweise etwas Betäubendes in die Seele. Einen Schlaftrunk. Sie spürte solch eine Müdigkeit. Und eigentlich war es doch nur dummes Gerede, was er auskramte. Er wollte sie aufheitern. Es gelang ihm auch. Sie lachte ein paarmal wider Willen über seinen Galgenhumor. Sie wurde wieder lebhaft und hatte glänzende Augen, als sie nach Tisch in ihrem kleinen blauen Salon beim Kaffee saßen.

Sie hatte vor, ihn nun fortzuschicken. Er hatte es sich in dem Diwan schon bequem gemacht, in fast zu lässiger Haltung. Er ließ sich schon ein bißchen gehen. Das ärgerte sie. Aber zugleich dachte sie an ihren Mann. Ein wütender Zorn und Abscheu durchfröstelte sie ... Ein kalter Hohn ... Sie war plötzlich versöhnlicher gegen Alphonse Feddersen gestimmt. Der saß jetzt wieder wohlerzogen aufrecht. Das Lächeln auf seinen Lippen war bescheiden. Es zeugte nur von Dankbarkeit, bei ihr weilen zu dürfen. Und in gewissem Sinne war sie ihm dankbar. Er näherte sich ihr sanft. Er ging zart mit ihr um ...

Die Zigarettenwölkchen zogen durch den Raum und spannen ihn in bläuliche Schleier ein. Sie schwatzten beide wieder gedämpft – krauses Zeug. Dann wurde der Vetter ernster.

»Haben Sie einmal einen Mann gekannt, der das Große Los gewonnen und es zerrissen hat und in den Papierkorb geworfen?« sagte er. »Ich kenne einen. Er heißt Charley Feddersen. Er ist ein Dummkopf. Er weiß nicht, was er tut. Tausend andere beneiden ihn, und er ... Erinnern Sie sich noch, Margot, was ich einmal sagte: Daß Sie die schönste Frau von Paris sind?«

Dabei wollte er ihre Hand fassen. Sie entzog sie ihm rasch. Er sagte nur einfach und innig:

»Du bist es wirklich!«

Margarete erhob sich.

»Ich habe Ihnen schon früher verboten, mich Du zu nennen!« versetzte sie kurz. Aber es war ein Schwanken in ihrer Stimme. Eine Unsicherheit. Die merkte ein Mann wie er auf der Stelle. Er lächelte und meinte, sitzen bleibend, versöhnlich: »Wir sind doch Vetter und Cousine! Ihre Feinde, wie den greulichen kleinen Sascha, duzen Sie, und ich ... Wir wollen doch Freunde und Kameraden sein in Zukunft! Wir wollen doch zusammen ein neues Leben anfangen in Biarritz, nicht wahr? Passen Sie auf: Ich bin ein guter Führer! Sie werden mit mir zufrieden sein. Aber dafür verlange ich auch Vertrauen! Bitte, bitte, meine teuerste Margot! ... Ich flehe Sie darum an bei Ihrer Schönheit, bei Ihrem Unglück, bei allem, was mir heilig ist!«

Die junge Frau hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie stand mitten im Zimmer. Nun hörte sie wieder seine weiche Stimme.

»Teure Margot: Sie haben in ganz Paris, vielleicht auf der ganzen Welt, nur einen einzigen wahren Freund. Das bin ich. Stoßen Sie den Mann nicht zurück, dessen Leben sich nur um Sie dreht, der nur Ihr Glück will, wo alle anderen, Ihr Mann an der Spitze, wetteifern, Sie unglücklich zu machen, der jedes Opfer für Sie zu bringen bereit ist ... Solche Freunde sind selten! ... Da darf aber auch kein Mißklang und kein Mißtrauen mehr bestehen. Du mußt an mich glauben, Margot! Ich glaube ja auch an Dich, wie an eine Heilige ... Ich will Dir dienen ... ich will Dich auf Händen tragen ...«

Mochte es wahr sein oder nicht, was er da sagte – es griff ihr in ihrer Verlassenheit ans Herz. Es klang so tröstend. Es tat so wohl. Sie hatte auf einmal das ruhige, hoffnungslose Gefühl: Jetzt ist er stärker als ich!

Sie rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Aber sie wußte: Wenn er vom Diwan her hinter ihrem Rücken bat: ›Komm, setz' Dich wieder zu mir!‹, dann würde sie es tun. Sie war unter seinem Willen. Da sah sie vor sich in der großen Scheibe des Fensterpfeilers sein Spiegelbild und erschrak. Ein kaltes Rieseln überlief sie vom Kopf bis zum Fuß. Ihr Herz stand still. Es war ihr, als nähme ihr jemand mit einem Griff eine Binde von den Augen. Alphonse Feddersen ahnte nicht, daß sie ihn beobachtete. Er hatte sich gespannt vorgebeugt. Sein Auge hing an ihr mit einem kaltblütigen Funkeln, wie das des Jägers am Wild: ›Gehst Du mir jetzt ins Garn oder nicht?‹ Und um seinen Mund zuckte ein heißes Lächeln wie das eines Fauns – ein Lächeln, vor dem ihr schauderte ... Plötzlich hatte sie ihre Ruhe. Sie drehte sich um. Sie trat vor Alphonse Feddersen hin. Er erhob sich unter ihrem Blick, dessen Bedeutung er nicht begriff. Er war etwas verlegen. Sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. Sie lachte.

»Gute Nacht, Vetter!«

»Aber Margot ...«

»Gute Nacht! Schlafen Sie wohl!«

Er war verblüfft. Er stammelte:

»Margot ... Sie stellen mich vor ein Rätsel!«

»Versuchen Sie doch, es daheim zu lösen! Es ist schon spät!«

»Jetzt, wo es am nettesten ist, schicken Sie mich fort! Ist das mein Dank?«

»Was man tut, muß man um Gotteslohn tun! Gott befohlen, lieber Vetter!«

Dabei drückte sie auf den Klingelknopf, eine Ankündigung für den Diener draußen, daß der Gast im Begriff sei, sich zu empfehlen. Alphonse Feddersen sah ein, daß seines Bleibens hier für heute nicht mehr war. Er ging tieftraurig nach der Tür. Dort blieb er stehen.

»Sie kränken Ihren einzigen Freund!« sagte er voll schmerzlicher Sanftmut. »Ich verzeihe es Ihrer Verbitterung. Sie haben es verlernt, an Uneigennützigkeit zu glauben. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf ...«

»Doch, Alphonse ... tun Sie's!«

Er hielt die Klinke in der Hand. Er zögerte immer noch.

»Ich scheide mit blutendem Herzen! Aber ich komme wieder ...«

»Sie machen den Weg vergebens! Wir wollen lieber gleich voneinander Abschied nehmen!«

»Was soll das wieder heißen, Margot?«

»Das werden Sie und alle, die es angeht, morgen noch erfahren! Adieu!«

Sie schloß selbst die Tür hinter ihm. Nun war er draußen. Nun half ihm der Diener in Hut und Mantel. Nun schlug das Haustor. Nun verhallten seine zaudernden Schritte in der Frühlingsnacht. Da atmete sie auf. Sie öffnete die Fenster. Ein frischer, herber Hauch strömte herein, umhüllte sie mit einer Welle von Reinheit und Kühle. Sie lehnte an der Brüstung und schaute hinüber nach dem Widerschein des nächtlichen Paris, einer trüben Lohe am dunkeln Himmel, und sagte laut vor sich hin: »Gott sei Dank!«

Dann sah sie auf die Uhr. Es war gegen Elf. Sie schickte die Dienerschaft schlafen und setzte sich hin und wartete auf ihren Mann.

Langsam verstrich die Zeit. Die Pendule auf dem Kamin zeigte die Mitternacht – sie meldete in regelmäßigen Abständen mit seinen silbernen Schlägen durch die Stille das weitere Vorrücken der Zeiger. Margarete achtete nicht darauf. Ungeduld und Unruhe hatten sie verlassen.

Zwei Uhr ... Es war ihr gleich. Einmal mußte Charley kommen. Sie blieb hier, und wenn es bis zum hellen Tag währte. Sie war auch gar nicht müde. Der Wille zur Entscheidung hielt sie wach. Still saß sie da. Fern schlief Paris. Die Bäume vor den Scheiben rauschten zuweilen im Nachtwind. Drei Uhr. Draußen hallten Schritte Sie blickte hinaus. Nein. Er war es nicht. Ein Blusenmann aus dem Volke ging vorbei. Vielleicht schon zu seiner Arbeit. Ihr kam ein Einfall. Sie stand auf und verlöschte im ganzen Erdgeschoß das elektrische Licht. Wenn Karl Feddersen die helle Fensterfront sah, schöpfte er am Ende Verdacht und kehrte um. Er war ja feige. Er ging allem, was Aug' in Auge hieß, gern aus dem Wege.

Die Laternen warfen von der Straße her einen schwachen Schimmer in die Räume. Margarete harrte, fast ohne sich zu rühren. Dann fuhr sie auf. Da knarrte leise das Tor. Da flammte das Licht im Vestibül auf. Da schlichen vorsichtige Schritte. Das war ihr Mann. Er kam heim wie der Dieb in der Nacht. Er wähnte sie längst zur Ruhe und dachte auf den Fußspitzen unbemerkt sein Schlafzimmer oben zu erreichen. Unsicher, zusammenschreckend, blinzelte er die schlanke, hohe Gestalt an, die wie eine Erscheinung vor ihm in dem dunklen Türrahmen stand, lächelte gezwungen und etwas schuldbewußt und machte Halt.

In ihr war ein Schauer des Widerwillens. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Er war übernächtig und bleich, die Lider rot gerändert. Die weiße Krawatte verschoben. Burgunderflecke auf der Hemdbrust. Seine Haltung nicht ganz sicher. Ein unbestimmter Hauch – Parfüm, welke Blumen, Wein – um ihn her. Sie spürte vor diesem Dunstkreis denselben befreienden Ekel wie vorhin vor Alphonses Nähe.

Karl Feddersen hatte sich jetzt gesammelt. Er bemühte sich, würdevoll und gleichgültig auszusehen, so gut es ihm in seiner Verfassung möglich war.

»Du hier?« fragte er erstaunt, mit etwas schwerer Zunge. »Warum schläfst Du denn nicht?«

»Ich habe mit Dir zu reden!«

»Morgen hoffentlich!«

»Nein. Sofort!«

»Aber Kind!« Er gähnte hinter der hohlen Hand und markierte den überarbeiteten Geschäftsmann. »Denke doch ein bißchen an meine Nerven. Ich mußte wohl oder übel heute in Brüssel bei den Leuten zum Diner bleiben. Komme jetzt eben hundemüde nach Paris ...«

»Da bist Du wohl im Frack auf der Eisenbahn gefahren?« sagte sie ruhig. Daran hatte er in seinem leicht vom Wein umnebelten Gehirn nicht gedacht. Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Margarete machte das anstoßende Zimmer hell.

»Komm nur herein!« versetzte sie. »Es hilft Dir nichts! Diese Viertelstunde bleibt Dir und mir nicht erspart!«

Karl Feddersen war im Augenblick so verdutzt und durch sein schlechtes Gewissen befangen, daß er ohne Widerrede gehorchte. Sie schloß die Tür hinter ihnen beiden.

»Ich war heute bei Sascha,« sagte sie. »Ich habe mit ihm über meine Lage gesprochen. Danach muß alles, was für unsere Trennung erforderlich ist, nach Deinem Wunsch von mir ausgehen. Es bleibt mir also keine Wahl, als daß ich Dich verlasse und die Schuld auf mich nehme, die auf Deiner Seite liegt!«

Die Ueberraschung hatte ihren Mann ernüchtert. Er zupfte sich mechanisch, mit einem Blick in den Spiegel, die Krawatte zurecht. »Herrgott – wie schau' ich aus!« murmelte er und meinte dann kalt und nachlässig zwischen den Zähnen:

»Diese Phrasen können wir uns auch auf morgen versparen, meine liebe Margot!«

»Es sind keine Phrasen! Was ich Dir in dieser Stunde sage, Charley, das ist mein heiligster Ernst!«

Er lächelte spöttisch.

»Du kannst doch nicht verlangen, daß ich Dir diese Reden vom Weggehen glaube?«

»Warum nicht?«

»Sehr einfach, ma chère: Weil dazu Geld gehört und ich nicht geneigt bin, irgendwelche pekuniären Opfer für eine Frau zu bringen, die mir durch ihr Weglaufen zeigt, daß sie keinen Wert auf mich und die ihr von mir gebotene glänzende Existenz legt!«

Zu seinem Erstaunen nickte sie.

»Du sprichst mir aus der Seele, Charley! Ich habe Dich des Geldes wegen geheiratet. Also ist es nur recht und billig, daß ich ohne Dein Geld von Dir gehe.«

Er fing wieder an zu lächeln. Er nahm sie nicht ernst.

»Wovon willst Du denn leben?«

»Das laß meine Sorge sein! Du wirst nichts mehr von mir hören und sehen, wenn unsere Scheidung vollzogen ist. Und ich nichts mehr von Euch ... Gottlob ...«

Sie waren Aug' in Auge. Sie maßen sich prüfend. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann wich die nervöse Spannung aus Karl Feddersens Gesicht, das die blauen Ringe unter den Augen nach der durchlebten Nacht viel älter als sonst erscheinen ließen. Der gewohnte Ausdruck kühler Sachlichkeit kam zurück. Das war ja alles da drüben nur Getue, eine mitternächtige Ueberrumpelung. Nichts dahinter. Er ärgerte sich, daß er sich ein paar Minuten hatte ins Bockshorn jagen lassen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, stand breitbeinig da und schaute seine Frau phlegmatisch an, ob sie nun bald Ruhe gäbe. Sie hatte bei ihren letzten Worten einen Augenblick der Schwäche gehabt. Ein verzweifelter Weinkrampf wollte plötzlich über sie kommen. Sie hatte ihn mit äußerster Kraft niedergekämpft. Jetzt verflog vor seiner Schläfrigkeit der letzte Rest. Seine eisige Art durchkältete auch sie. Wie sie da mitten im Zimmer unter dem grell glänzenden Kronleuchter gelassen, gedämpften Tones, miteinander sprechend standen, konnte man glauben, es handelte sich um die alltäglichsten Dinge.

Karl Feddersen war müde. Er wollte mit dem unerquicklichen Auftritt zu Ende kommen.

»Das ist ja alles Unsinn – mit der Scheidung!« versetzte er trocken und trat zur Tür. »Solche Worte sind zu ernst, als daß man sie unnütz in den Mund nimmt. Ich will das künftig nicht mehr hören, verstehst Du?«

»Mein Entschluß steht fest!«

» Mais c'est absurde, ma chère! Wie willst Du denn einen solchen Sprung ins Dunkle wagen? Und wohin?«

»Ich frag' Dich nicht, woher Du heute kommst! So frag' Du mich auch nicht, wohin ich morgen geh'!«

»Ich tu', was Du willst – wenn Du mich endlich zu Bett läßt!«

»Versprich mir nur, daß Du mich, wenn ich von hier weggehe, auch wirklich freigibst!«

Da kehrte ihm mit den Geistern des Weins der Zorn zurück. Seine übernächtigen, schlaffen Züge belebten sich. In das kalte Blau seiner Pupillen trat ein Funkeln. Der ernsthafte Gedanke an ihre Flucht verletzte seine Eigenliebe tödlich.

»Wenn Du mir diesen Schimpf antust,« sagte er kalt und herrisch, »wenn Du mir so alle meine Wohltaten lohnst ...«

»Deine Wohltaten?«

»Jawohl! Was warst Du denn, bis ich Dich emporgehoben und zu einer der reichsten Frauen von Paris gemacht hab'? – Wenn Du mich nun zum Dank dafür vor aller Welt lächerlich machst – dann sind wir geschiedene Leute für immer.«

Sie atmete tief auf.

»Das wollt' ich bloß hören!« sagte sie.

Seine Erregung war schon wieder verflogen. Er gähnte.

»Im übrigen ... das sind Phantastereien! Ich diskutiere heute nicht mehr darüber. Morgen ist auch noch ein Tag. Dormez bien, ma chère!«

Er nickte ihr ganz freundlich zu und stieg die Treppe des Vestibüls hinauf, mit der Gelassenheit eines Mannes, der schließlich doch die Sachlage beherrscht. Er summte sogar eine Melodie zwischen den Lippen. Margarete sah ihm nach, wie er, ohne noch einmal den Kopf nach ihr zu wenden, langsam eine Stufe nach der andern nahm. Sie wartete, bis seine ein wenig unsicheren Schritte oben verhallt waren. Sie wußte, in der Verfassung, in der er sich befand, schnarchte er in fünf Minuten. Der Sicherheit halber ließ sie eine Viertelstunde verstreichen. Dann klingelte sie ihrer Kammerfrau und sagte, als die verschlafene Person erschien:

»Ich muß verreisen. Monsieur hat mir eben beunruhigende Nachrichten über das Befinden meiner Mutter in Deutschland mitgebracht.«

»Mein Gott, Madame – jetzt so spät in der Nacht?«

»Er hat die Briefe bei seiner Rückkehr vorgefunden; sie waren an ihn adressiert, um mich nicht zu erschrecken. Ich nehme vorläufig nur das Allernötigste mit. Packen Sie rasch! Es ist nicht nötig, daß jemand im Hause aufwacht!«

Die Jungfer begriff, daß ihre Herrin jetzt nicht viel Menschen und Fragen um sich haben wollte. Sie machte sich an die Arbeit. Margarete saß inzwischen am Tisch und schrieb, während draußen das erste Morgengrauen durch die Vorhanglitzen leuchtete:

»Lieber Charley! Ich gehe also jetzt. Laß es Dir gut gehen. Verzeihe mir, wie ich Dir verzeihe; und mache uns auch das Aeußerliche der Scheidung nicht unnötig schwer. Meine Adresse ist bei meiner Mutter. Was Du mir an Schmuck geschenkt hast, lasse ich alles hier und lege den Schlüssel zur Kassette in diesen Brief. Ich versiegle ihn der Sicherheit halber. Wir hätten uns nie sehen sollen. Es wäre für uns beide besser gewesen. Aber es liegt nun hinter mir und ich nehme getrost den Kampf mit dem Leben auf. Ich mache Dir keine Vorwürfe mehr. Du kannst auch nicht anders sein als Du bist, und bist eben anders als ich: Ihr alle seid es. Ich war ewig fremd unter Euch und wäre es immer geblieben. Vergiß mich und lebe wohl!

Margarete.«

Sie schrieb nicht mehr ›Margot‹. All dieser Tand, die Spielerei, die man mit ihr getrieben, fiel. Sie drückte den Stempel in das heiße Wachs. Die Kammerfrau sah mit großen Augen zu. Jetzt wurde ihr die Sache nachgerade unheimlich, zumal auch Monsieur gar nicht zum Vorschein kam. Sie schlug vor, den Chauffeur zu wecken und ihn zu benachrichtigen, wann er morgen früh vorfahren solle.

»Morgen früh!« sagte Margarete Feddersen. »Es ist ja schon morgen früh! Da« – sie schlug die Portiere zurück – »da ist es ganz hell auf der Straße. Und da hinten kommt vom Bois her eine leere Droschke. Rufen Sie die an!«

Der Kutscher, der einen Nachtschwärmer heimgebracht hatte, hielt. Die junge Frau trat in Hut und Mantel auf die Straße. Die Luft war kühl und feucht. Die Spatzen piepten in der Stille. Durch unbestimmtes Grau blitzten die ersten Sonnenflimmern auf den Dächern. Tautropfen hingen wie versiegende Tränen an Baum und Strauch. Sie nahm im Wagen Platz und schickte die Jungfer, die sich ihr gegenüber setzen wollte, ins Haus zurück. Das Pferd zog an. Die Räder rollten. Da waren schon die verschlafenen Elysäischen Felder, das Riesenrundbild der Seine mit ihren altersgrauen Türmen und Palästen, gespenstig ragte, nebelumzogen, an seiner Spitze sonnenvergoldet, der Eiffelturm, hoch von seiner Vendôme-Säule sah der kleine Korse auf das Häusermeer hernieder – auf den Boulevards war schon etwas Leben, die ersten Kaffeehäuser offen, die Stiefelputzer auf der Bordschwelle, weißröckige Barbiergesellen vor ihren Läden. Auf dem Bahnhof gab es Menschen in Hülle und Fülle. Ein Gedränge, ein Pfiff der Lokomotive ... Margarete Feddersen war auf einmal unterwegs und sah draußen die morgenhellen Fluren Frankreichs vorübergleiten, die Schlösser und Meierhöfe, die Rebhügel, die Städte. Stunde um Stunde ging dahin. Welsche Laute klangen um sie. Sie dachte mit Ungeduld: Wann hör' ich endlich Deutsch? Sie fühlte sich noch nicht frei. Sie hatte immer die Vorstellung, es müsse sich noch etwas ereignen, sie zurückzurufen, damit alles beim alten bleibe. Sie sehnte den Abend herbei.

Und der Abend kam, und sie war in Deutschland und glaubte noch kaum daran. Aber da vorne dämmerte eine große Stadt, in der durch das Maizwielicht schon die ersten Lichter aufflammten, und über das Meer ihrer Dächer erhob sich etwas in die Wolken: Das war nicht das kahle Eisengerippe des Eiffelturmes ... Feierlich schaute mit seinen himmelstürmenden Bogen und Zinnen der Kölner Dom auf das Gewimmel der Menschlein in der Tiefe. Hart über seinen Spitzen leuchteten hoch oben die ersten Sterne. Dort drüben, gleich hinter dem Hausgiebel, floß der Rhein ...

Margarete Feddersen hatte während des Aufenthalts in Köln den Zug verlassen. Sie saß im Wartesaal, eine Tasse Kaffee vor sich. Sie hatte seit dem Morgen noch nichts genossen – und dachte sich weiter: Dort fließt der Rhein. Bald überschritt man ihn. Ihr war, als sei dann die letzte Brücke hinter ihr abgebrochen. Sie fühlte sich leicht und erlöst. Aber zugleich kam nach vollendeter Tat die Erschöpfung. Sie senkte müde die Wimpern und die Unruhe hielt sie doch wach. Die Zukunft. Sie sagte sich: Bald fahr' ich weiter, in die Heimat hinein, aber auch in die Nacht hinein. In das Dunkle und Ungewisse. Von morgen ab bin ich ein anderer Mensch, der viel zu bereuen, viel gut zu machen, viel abzuarbeiten hat. Wie fang' ich das an? Helfen wird mir keiner, kann mir keiner. Was mache ich aus mir?

Sie hob den Kopf. Um sie war die Unrast des Bahnhofs. All die Menschen, die da hasteten und sich drängten, wußten, wohin sie wollten. Sie hatten irgendwo draußen in der Ferne, im Abenddämmern ein festes Ziel. Margarete Feddersen beneidete, während sie still dasaß, diese aufgeregten, geschäftigen Hin- und Hereilenden. Einmal schien ihr jemand von früher vertraut dort am Ausgang – ein kleiner Herr mit rotem Haar, der sich energisch seinen Weg durch die Menge bahnte. Aber sie sah den Generaldirektor Malloney nur von hinten. Er verschwand. Es war ihr gleich. Sie fühlte sich hier geborgen, auch ohne eine Menschenseele zu kennen. Sie hörte um sich deutsche Laute, wenn es auch nur Rufe nach dem Kellner, Wortwechsel mit dem Kofferträger waren. Sie sah deutsche Gesichter ... Offiziere, Kaufleute, Dienstmänner, Damen ... Ein nachträglicher Schauer vor Paris packte sie – das Grauen, einer tödlichen Gefahr entgangen zu sein. Nur noch ein Schritt war es bis zum Abgrund gewesen ...

Ihr Auge schweifte über die Menschenmenge und blieb an einer auffallenden Kopfbedeckung hängen. Es war der breitkrämpige, an einer Seite aufgeschlagene Schutztruppenhut von Südwest. Nun sah sie auch den Träger, einen jungen Offizier, in der kleidsamen grauen Reitertracht, mit den hohen gelben Stiefeln. Freunde aus der Garnison umdrängten ihn. Sie lachten und stießen mit den mit Rheinwein gefüllten Römern zum Abschiedstrunk an. Manche Reisende blieben stehen und blickten neugierig hinüber. Margarete Feddersen atmete auf. Ihr war ein Gedanke gekommen ...

Sie hatte noch Zeit bis zur Abfahrt. Sie ließ sich vom Kellner Tinte und Feder bringen und schrieb in hastigen Zeilen an ihre Freundin, das einstige Fräulein von Frisching, die nun dort drüben in Südwestafrika als Farmersfrau lebte:

»Liebe Magda!

Vor langen Jahren haben wir als junge Mädchen einmal nachmittags in Berlin im Hotel Adlon gesessen und von dem armen Robert Gellin gesprochen, dessen Todesnachricht eben aus Südwestafrika angekommen war. Inzwischen hast Du seinen Bruder dort geheiratet. Ich aber lernte an jenem Nachmittag meinen späteren Mann kennen. Ich wollte, die Stunde wäre an mir vorübergegangen. Mir hat sie keinen Segen gebracht. Meine Ehe ist sehr unglücklich geworden. Sie wird jetzt geschieden. Mein Kind ist tot. Ich kehre mit leeren Händen nach Deutschland zurück und habe nur noch den Wunsch, mich mit Anstand irgendwie durchs Leben zu schlagen.

Zunächst erwartet mich in Potsdam die Pflege meiner Mutter. Sie ist sehr krank. Die Aerzte lassen über kurz oder lang das Schlimmste ahnen. Solange sie uns erhalten bleibt, ist natürlich mein Platz bei ihr. Aber dann?

Du hast mich vor einem Jahr in Berlin als Braut im Spaß eingeladen, auch nach Südwest hinüberzukommen. Heut' nehm' ich Dich beim Wort. Hand aufs Herz: Kannst Du mich dort brauchen? Auf Eurer Farm? Oder sonst irgendeine Familie dort? Ich hoffe doch! Man hört doch immer, wie sehr noch dort arbeitswillige Hände not tun.

Ich schreibe Dir ganz offen. Du warst immer ein ehrlicher, grader Kerl, schon in der Zeit, wo wir alle noch dumme Mädel waren und die Köpfe voll Krimskrams hatten und uns einbildeten, man sei zum Vergnügen auf der Welt. Du wirst mich auch jetzt nicht im Stich lassen, sondern mir gleich antworten. Das weiß ich. Es dauert ja doch ein Vierteljahr, bis ich Deinen Brief kriege. Aber es hat ja vollauf Zeit.

Schreib' mir nicht, daß ich Dir leid tue, sondern ob ich kommen kann. Geld bringe ich keinen Groschen mit, das sag' ich gleich! Nur meinen guten Willen, Gesundheit und ein gottlob noch unverzagtes Herz. Grüße unbekannterweise Deinen Mann von mir und sei im voraus bedankt und geküßt von Deiner alten

Grete.«

Der Brief war nach dem Postamt Windhoek adressiert und noch in Eile eingeschrieben. Der Zug hatte seine Fahrt nach Berlin wieder aufgenommen. Die Häuserreihen Kölns glitten vorüber. Margarete saß am offenen Fenster. Der Abendwind blies herein. Das war nicht die weichliche schwüle Luft der Seine. Es war deutscher Frühling – leichter Regenschauer – letztes Sonnengold im Westen – frische Kühle. Und dann plötzlich die Weite: Da lag der Rhein. Mächtig ragten an seinen Ufern die Kirchen. Auf seinen Wellen lebte es von Schiffen. Weithin rauchten die Schlote. Tausende von farbigen Lichtern spiegelten sich rechts und links vom Zug in dem heiligen Strom.


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