Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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14.

»Lieber Charley!

Du schreibst, daß Deine Geschäfte Dich noch ein oder zwei Wochen in Paris festhalten! Ich hab' mir's gedacht. Eure Geschäfte dauern hinterher immer doppelt und dreimal so lang als Ihr zuerst glaubt. Du meinst, ich möge mir inzwischen die Zeit in Biarritz nicht lang werden lassen. Doch, Charley – die Zeit wird mir hier zu lang! Ich habe Sehnsucht nach Charles-Iwan, nach unserem Heim, nach Dir.

Auch nach Dir! Das wird Dich wundern. Aber es ist so. Ich habe in diesen Tagen viel über mich nachgedacht, über unsere Ehe, überhaupt, wie so alles gekommen ist. Man glaubt ja immer, man tut im Leben, was man will. Aber hinterher merkt man, daß einen irgend etwas von hinten unsichtbar gepackt und geschoben hat.

So bin ich Deine Frau geworden. Ich möchte mich einmal brieflich mit Dir aussprechen, ehe ich mich kurz entschließe und dieser Tage auf eigene Faust zu Dir nach Paris komme. Ich habe mir die Frage vorgelegt: Wenn es nun vier Jahre zurück wäre und Du wärest wieder Margarete Teuffern – was würdest Du ein zweites Mal tun? Würdest Du wieder Ja oder Nein sagen? Und ich habe gefunden, daß es darauf gar keine Antwort gibt. Denn der, der sich das jetzt überlegt, ist ein ganz anderer Mensch als der, der vorher die Entscheidung treffen soll. Mit anderen Worten: man kann nichts tun, als sich mit dem Gegebenen abfinden und die Folgen seiner Entschlüsse tragen. Die sind ja nicht immer froher Natur. Unsere Ehe ist nicht so geworden, wie sie hätte sein sollen und hätte sein können: Wir gehen nebeneinander her. Wir sind einander müde. Du kannst ruhig Wochen ohne mich in Paris verbringen, ich sitze hier Hunderte von Meilen von meinem Kind. Wir müssen uns viel näher kommen, Charley!

Das hab' ich ja schon oft versucht – aber, wie mir jetzt klar ist, auf falschem Wege. Ich habe immer nur von Dir alles erwartet, statt einmal mich selber zu prüfen. Dazu hab' ich jetzt hier allein und in fremdem Lande Gelegenheit gehabt und habe es in der Woche seit Deiner Abreise schonungslos getan. Da hab' ich erkannt, daß auch an mir viel Schuld an unserer trüben Ehe liegt. Ich habe eine Verstandesheirat geschlossen. Ich habe keine Liebe, sondern Selbstsucht mitgebracht. Du warst mir nur der Gebende, der Schlüssel zu äußeren Dingen des Lebens, und hast es daran wahrlich nie fehlen lassen, und ich habe sie als selbstverständlich hingenommen. Und wenn ich versucht, die Liebe durch Pflichterfüllung zu ersetzen, – ja, Ihr habt mir ja nie Pflichten auferlegt. Ihr nahmt sie mir sogar aus den Händen: Ich darf noch nicht einmal die Temperatur im Zimmer meines Kindes selbst bestimmen. Ich bin rein ein Luxusgegenstand, und was das Schlimmste ist, ich habe mich darin wohl gefühlt. Das rächt sich jetzt an mir. Mein besseres Teil wird unruhig. Es fordert sein Recht. Es muß es haben. Es gerät sonst einmal auf Abwege. Denn schlafen wie bisher kann es nicht mehr.

Wenn ich jetzt, ohne Dich erst zu fragen, zurückkehre, Charley, mußt Du in mir mehr sehen als bisher. Du mußt mir einen Wirkungskreis geben, der meiner würdig ist, ernste Obliegenheiten. Ich will von jetzt ab Charles-Iwan tatsächlich und in jedem Sinn eine Mutter sein. Wir beide, seine Eltern, wollen uns zusammen einleben in eine wirkliche Freundschaft. Denn wir sind doch aneinander gebunden, und ich brauche einen Halt. Kein Mensch kann auf die Dauer ganz allein sein, am wenigsten eine Frau.

Warum ich Dir das alles schreibe und nicht lieber sage? Lieder Charley, ich fürchte Dein ironisches Lächeln! Vor dem erstirbt mir das Wort im Munde. Ich bringe nicht die Hälfte von dem heraus, was ich jetzt niedergeschrieben habe. Ich flehe Dich an: Lasse von nun an dies Lächeln! Sei gut zu mir, sei ernst zu mir! Ehre Deine Liebe zu mir, indem Du mich von nun ab für voll nimmst und nicht als ein Spielzeug behandelst. Sieh nicht nur mit Wohlgefallen mein bißchen Aeußeres. Gib Dir Mühe, auch einmal in meine Seele einzudringen. Vielleicht ist da mehr. Ich will es Dir lohnen. Ich will Dich lieben. Dann werden wir gewiß noch recht, recht glücklich zusammen.

Ich werde schon, wenn Du mich auf dem Bahnhof erwartest, an Deinem Gesicht sehen, ob Du mich verstanden hast, daß dies eine Lebenswende für mich bedeutet. Eine Wendung zu Dir. Ich flüchte mich zu Dir. Ich muß es. Ich schicke diesen Brief heute als Noten voraus und reise selbst morgen von hier ab. Von Hendaye telegraphiere ich noch genau meine Ankunft in Paris. Auf Wiedersehen! Lies meinen Brief genau! Lies ihn lieber zwei- oder dreimal, bis er Dir alles sagt, was er sagen soll. Küsse Charles-Iwan von mir!

Margarete.«

Sie hatte eine Abschrift dieser Zeilen bei sich und überflog sie noch einmal einst und gedankenvoll, während der Süd-Expreß sie langsam, auf geräuschlos rollenden Rädern nach dem eigentlichen Europa trug.

Die Kammerfrau steckte den Kopf durch den Türspalt und erkundigte sich flüsternd, ob Madame etwas brauche. Margarete Feddersen verneinte. Sie schloß die Augen und lehnte sich in die Polster zurück. Sie war froh, daß sie nun bald schlafen konnte. Als sie am nächsten Morgen den Vorhang zurückzog, war es schon spät. Unermüdlich surrten und sangen unter ihr die Räder. Draußen glitt Frankreich vorbei – aber nicht das lachende Hügelland wie sonst. Dieser kahle Sandboden, diese endlosen Kiefernwälder des Departements Landes erinnerten an die Heimat ... an den Grunewald ... an die Düsterkeit zwischen den Föhren – das Rot der Sonne über der Havel, wie sie es so oft in ihren Mädchenjahren gesehen ...

Seltsam: bei dieser Gedankenverbindung stand Moritz Lünemann vor ihr. Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Es hatte Monate gegeben, wo er ganz aus ihrem Bewußtsein geschwunden gewesen war. Jetzt auf einmal lebte er wieder. Sie wußte selbst nicht, wie das kam.

Und eine tiefe, plötzliche Traurigkeit sagte ihr: Ja, der hat mich geliebt! Der hätte mich in seiner rauhen Art auf Händen getragen. Der wäre mir über Länder und Meere hin gefolgt. Statt dessen fahre ich jetzt von einem Weltteil zum andern hinter meinem Mann her, der mich gar nicht braucht ... Bettle um seine Liebe ... Sie preßte die Lippen zusammen. Sie kam sich entwürdigt vor und doch war sie so voll Reue und guten Vorsätzen, daß sie sich, als der Zug in die Nacht des Tunnels unter Paris hinabschoß, förmlich darauf freute, daß Charley, groß, blond und stattlich, die eigentlichen winzigen Franzosen alle überragend, auf dem Bahnhof stehen und sie begrüßen würde. Aber umsonst strengte sie, dem Coupé entstiegen, die Augen an. Karl Feddersen war nicht zu entdecken. Auch der Diener war nicht da. Das Automobil nicht. Sie schüttelte den Kopf. Ein Schauer der Enttäuschung überlief sie. Es war so traurig, daß das neue Leben gleich wieder damit anfing. Sie wollte sich vor der Kammerfrau nichts merken lassen. »Monsieur wird wohl durch wichtige Geschäfte verhindert sein!« sagte sie so gleichgültig wie nur möglich. »Besorgen Sie das Gepäck und eine Autodroschke!«

Paris lag im Frühlingssonnenglanz. Von drüben am linken Flußufer leuchtete das Grün der Tuilerien, auf dem Seinespiegel schossen die Dampfschiffe, auf dem breiten Quai d'Orsay drängten sich die Menschen. Margarete sah immer noch bei der Abfahrt spähend nach vorn, ob nicht da irgendwo, am Palais Bourbon, an der Deutschen Botschaft, am Versailler Bahnhof ihr Mann ihr, durch irgendwelche Umstände verspätet, begegnen würde. Umsonst! Schon waren sie auf dem Invalidenplatz – am Triumphbogen vorbei – der Wagen hielt vor dem kleinen Palais in der Avenue du Bois de Boulogne.

Es dauerte lange Zeit, bis auf das Klingeln gegen alle Vorschrift statt des Dieners ein verschlafenes Hausmädchen öffnete und Margarete verblüfft ansah. Offenbar hatte kein Mensch ihre Rückkunft erwartet. Die junge Frau trat, an dem Mädchen vorüber, in den Salon. Dort schnellte bei ihrem Eintritt der Kammerdiener aus dem Schaukelstuhl, in dem er die Zeitungen durchgeblättert hatte. Er stotterte etwas. Sie ging schweigend weiter Sie eilte die Treppen hinauf in das Kinderzimmer. Da schlummerte der kleine Charles-Iwan in seinem Bettchen. Sie kniete davor hin. Er sah noch bleicher und hagerer aus als bei ihrer Abreise. Er hatte immer noch das spitze Altmännchengesicht, als lasteten schon alle Sorgen der Firma Iwan Feddersen und Söhne auf ihm. Sie schaute mit einem schwachen mütterlichen Lächeln auf ihn nieder. Dann stand sie auf. Die Fliegen summten. Es war heiß in dem Gemach. Sie wollte ein Fenster offnen. Aber im selben Moment stand die geräuschlos eingetretene Pflegerin neben ihr:

»Guten Tag, Madame! Madame verzeihen: aber Charles-Iwan hat gestern ein wenig gehustet. Der Herr Doktor hat jeden Luftzug verboten!«

Dabei legte die Wärterin schon schirmend die Hand um den Fensterknauf. Margarete Feddersen wandte sich ab. Da fing es schon wieder an. Man war im goldnen Käfig ...

»Wissen Sie nicht, wo mein Mann ist?« frug sie kurz.

»Nein, Madame! Ich bin heute den ganzen Tag noch nicht heruntergekommen. Ich gehe immer nur abends ein wenig an die frische Luft. Vielleicht ist Monsieur in seinem Arbeitszimmer!«

»Ich werde einmal nachsehen!« Die junge Frau sagte es müde. Sie hatte das alte lähmende Gefühl, allein im Kampf mit einer feindlichen Welt zu stehen. Das Schreibkabinett Karl Feddersens, in das sie mit pochendem Herzen hineintrat, war leer. Auf dem Tisch lagen Stöße uneröffneter Briefe, viel mehr, als sonst mit einer Post kamen. Ein Gedanke durchzuckte sie. Sie ging näher heran und ließ hastig die Korrespondenz durch die Finger gleiten. Richtig: da war ihr eigenes Schreiben mit dem Stempel des Postamts in Biarritz, noch verschlossen, wie sie es abgesandt. Und da zuoberst ein Telegramm, noch geschlossen. Sie riß es auf:

»Bin morgen nachmittag 4 Uhr Quai d'Orsay. Margot.«

Nun erklärte es sich, daß sie dort nicht abgeholt worden war. Nein. Es erklärte sich nicht. Dieser Brief mußte spätestens vorgestern, die Depesche gestern eingetroffen sein. Wo war er, ihr Mann, inzwischen gewesen? Sie klingelte nach dem Diener.

»Wissen Sie, wo Monsieur ist?«

»Nein, Madame!«

»Wann ist er von hier fortgegangen?«

»Heute früh, Madame!«

In dem glattrasierten Gesicht ihr gegenüber zuckte keine Wimper.

»Das ist unmöglich ... Diese Briefe sind alle schon von gestern.«

»Ach ja, richtig, Madame ... Verzeihung ... Ich vergaß, Monsieur ging gestern früh von hier fort ...«

»Ins Bureau?«

»Wahrscheinlich, Madame!«

»Es ist gut!«

Der Diene: verschwand. Sie überlegte: Unzweifelhaft hatte Charley plötzlich verreisen müssen. Wahrscheinlich nach Brüssel hinüber. Es kam oft vor, daß er telephonisch dorthin berufen wurde.

Während sie sich umkleidete und vom Reisestaub befreite, fand sie, daß es wohl am besten sei, wenn sie sich rasch einmal auf dem Kontor erkundigte. Dort mußten sie am besten, wo der Chef war, und hatten telephonische Verbindung mit ihm nach Brüssel. Sie konnte selbst mit ihm sprechen. Sie beorderte das Automobil und befahl dem Chauffeur, sich zu eilen, und zitterte vor Ungeduld, als, wie gewöhnlich, an der Madeleine und auf dem Opernplatz die sechs- und achtfachen Reihen von Fuhrwerken ins Stocken kamen und sich nur noch ruckweise vorwärtsschoben. Aber endlich erreichte sie doch den Boulevard Sebastopol, wenige Minuten vor Sechs, vor Torschluß, und rauschte in die düsteren, von schreibenden und rechnenden Menschen gefüllten Räume, wo sie der erste Prokurist mit tiefem Diener empfing.

»Wie schade, Madame! ... Madame kommen eine Viertelstunde zu spät. Herr Feddersen ist soeben weggegangen!«

Ihre dunklen, unruhigen Augen weiteten sich. Unwillkürlich umkrampfte ihre Rechte den Spitzensonnenschirm, daß die Nähte des weißen Glacéhandschuhen zu springen drohten. Dabei lächelte sie mechanisch liebenswürdig: »War er denn hier?«

»Gewiß, Madame!«

»Den ganzen Tag?«

»Vormittags und nachmittags ein paar Stunden, wie gewöhnlich!«

»Gestern auch?«

»Alle die Tage!«

»Ich komme nämlich eben erst an!« sagte sie leichthin. »Wir haben uns auf dem Bahnhof verfehlt. Da dachte ich, mein Mann sei am Ende verreist.« Sie brach ab. Sie konnte die Komödie nicht weiterspielen. Ihre Stimme zitterte zu sehr. Sie nickte dem an allen Tischen und Pulten aufgesprungenen Personal kurz zu und trat wieder durch die Türe, die der Buchhalter aufriß, und stand mitten im Gewühl des Boulevard Sebastopol vor der finsteren Höhle, in der die Millionen des Hauses Feddersen verdient wurden, und sagte sich, von den Menschenwellen umdrängt, in hilflosem Staunen: »In Paris ist er! Daheim ist er nicht. Wo kann er sein?«

Der Chauffeur wartete, die Kappe in der Hand, auf ihren Befehl. Ja, wohin? ... Irgendwo mußte man doch Gewißheit bekommen. Aber bei wem sich Rats erholen – nur ein Lebenszeichen von ihrem Mann? Er war doch seit Wochen zurück. Er mußte sich doch bei Freunden und Verwandten gezeigt haben ...

»Zu Madame Alexandre Feddersen!« beorderte sie rasch entschlossen. Sie stand mit der Schwägerin wie Hund und Katze. Ein Bruch war, der Männer und des Geschäfts wegen, unmöglich. Dafür seit Jahren eine Politik der Nadelstiche. Aber das galt ihr jetzt gleich. Sie fuhr vor dem prunkvollen Hause in den Champs-Elysées vor, dessen erste Etage Sascha mit seiner Familie bewohnte. Sie sah, wie aus einem der Fenster die Amerikanerin auf das ihr genau bekannte Automobil herunterschaute, das ratternd im Vorhof hielt. Trotzdem lispelte ihr gleich darauf der oben öffnende Diener entgegen, Madame sei leider nicht zu Hause. Der Zorn erfaßte sie. Sie war so nervös und ungeduldig, daß sie den Mann ohne ein weiteres Wort beiseite schob und mit kurzem Klopfen in das Boudoir zur Rechten trat, wo, wie sie erwartet hatte, Madge Feddersen in aller Gemütsruhe saß. Sie war zehn Jahre älter als Margarete, überschlank, überelegant, mit einem mageren, hochmütigen Kopf auf einem langen weißen Hals, den eine Kette Diamanten von halber Haselnußgröße umschloß. Ihr amerikanisch gefärbtes Französisch gab ihrer Stimme immer etwas für Margaretens Ohren Impertinentes. Ebenso war ihr Lächeln. Sie war sitzen geblieben und streckte der anderen nachlässig die Hand hin.

»Sieh da, Daisy! Wie nett! Glücklich zurück ... Gesund und munter! Und ganz sonnverbrannt. Dein Teint hat ein wenig gelitten! ... Aber so nimm doch Platz!«

Margarete Feddersen war stehen geblieben. Sie frug schroff:

»Sag' mal: Warum läßt Du Dich eigentlich vor mir verleugnen?«

Die schmächtige Amerikanerin fiel aus den Wolken.

»Ich? Aber, dear ... ich bitte Dich! Das war höchstens eine Dummheit des Menschen da draußen ...«

»Der wußte genau, was er tat!« Die junge Frau sprach jetzt ruhiger. Sie wollte sich nicht durch Aufregung etwas vergeben. Sie setzte sich sogar. »Es ist mir schon einige Zeit vor meiner Reise aufgefallen, daß Du Dir einen etwas nonchalanten Ton gegen mich angewöhnt hast,« versetzte sie, »so, als ob ich bei Dir nicht mehr für ganz voll gelten sollte! Laß das bitte! Wir sind nun einmal Schwägerinnen. Wir haben es uns nicht ausgesucht. Aber nun müssen wir eben miteinander auskommen. Ich möchte von jetzt ab mit aller Welt in Frieden leben. Drum sag' ich Dir das ganz offen!«

»Eine Tasse Tee, Liebste?«

»Nein, danke ...«

»Es wird Dir gut tun! Was hast Du nur? ... Du siehst ja auf einmal elend aus ...«

»Ich bin müde von der Reise, und wie ich ankam, war Charley nicht da. Ich such' ihn in der ganzen Stadt. Weißt Du nicht, wo er ist?«

»Keine Ahnung!« Es war ein rätselhaftes Lächeln um die dünnen Lippen der Amerikanerin. Dann setzte sie hinzu in einem anscheinend harmlosen Ton:

»Vor einer Woche war er einmal bei mir! Da fühlte er sich ganz wohl für einen Strohwitwer!«

»Seitdem hast Du ihn nicht gesehen?«

»Ja, soll ich Deinen Mann bewachen?«

Das ›ich‹ klang so merkwürdig, halb ironisch, halb mitleidig. Man konnte durchhören: »Hüte Du ihn doch lieber!« Margarete stand auf. Sie hielt es nicht mehr aus, in diesem engen Zimmer, mit den Gedanken, die auf sie einstürmten ... Sie verabschiedete sich hastig, drückte der Schwägerin die spitzen, über und über mit Ringen bedeckten Finger, nahm einen flüchtigen Judaskuß mit auf den Weg und setzte sich in ihre Limousine und fuhr heim.

Dort kauerte sie bleich und erschöpft in ihrem seidenen Schmuckkästchen von Boudoir, vor dessen Fenstern an dem lauen Maiabend die Menschenwellen, die Wagen und Automobilreihen wie das Gewimmel eines Ameisenschwarmes die breiten Anlagen zum Bois de Boulogne hinströmten, und hielt die Finger zwischen den Knien ineinandergekrampft und starrte vor sich hin, immer auf das unregelmäßige violette Fünfeck in dem alten Perserteppich, das vor Jahrhunderten irgendwo in Innerasien braune Frauenhände im Harem geknüpft. Vielleicht war sie selber auch nur solch eine Odaliske, ein teuer bezahltes Spielzeug, das man wegwarf, wenn man seiner überdrüssig war. Ihre Gedanken richteten sich jetzt unablässig auf einen einzigen Punkt, der war lächerlich und doch entscheidend: Karl Feddersen hatte alles, was er des Morgens beim Aufstehen benötigte, Zahnbürste, Kamm, Leibwäsche, hier gelassen und brachte doch die Nächte außerhalb zu. Also mußte er eine Reservegarnitur davon besitzen. Also hatte er eine zweite Wohnung. Also führte er eine doppelte Menage ...

Sie stand langsam auf. Sie kam sich dumm vor, daß sie das nicht gleich begriffen, was alle anderen um sie offenbar schon lange wußten! Wie mochte hinter ihrem Rücken gelacht und getuschelt worden sein! ... Jetzt wurde ihr alles allmählich klar: daher auch die Frechheit der Schwägerin vom Moment ab, wo jene sah, daß Karl Feddersen gleichgültig gegen seine Frau geworden war – daher das geheimnisvolle neue Patent zur Verwertung der Naphtha-Rückstände, das den letzten Winter hindurch so viele abendliche und nächtliche Konferenzen mit den angeblichen Interessenten aus Baku gezeitigt hatte ... das währte schon Monate, vielleicht schon ein halbes Jahr oder noch länger ... sie war bisher blind durch diesen Sumpf geschritten ... ein jäher Ekel schüttelte sie, lief an ihrem ganzen Körper nieder, überwand in ihr Schrecken und Schwäche und Zorn, machte sie unheimlich hellsehend, daß sie die ganze Größe ihres Unglücks überschaute.

Nein. Die ganze noch nicht. Sie hatte ja keine Beweise. Woher sie nehmen, wo alles gegen sie zusammenhielt und ihr ins Gesicht log? Ihr Mann war jetzt gewarnt oder wurde es in den nächsten Stunden, von zwei, drei Seiten zugleich. Der stellte dann einfach alles in Abrede. Er hatte mit Geschäftsfreunden soupiert, Konferenzen gehabt, war nach Brüssel gereist ... Basta! Bitte um Belege für das Gegenteil, mein Bester! ... Dabei lächelte er wohl kühl! ... Lächelte vielleicht auch, wenn er ihren letzten Brief endlich aufmachte und darin las, wie sie noch einmal demütig nicht um seine Liebe, nur um seine Freundschaft warb ...

Das Schreiben gehörte noch ihr! Sie eilte die Treppe hinunter, um es an sich zu nehmen, durch das totenstille Haus in das Arbeitskabinett und machte erschrocken auf der Schwelle Halt. Sie hörte ein Geräusch wie das Rascheln von Papier. Eine Gestalt stand im Abendgrauen am Schreibtisch. Ihr erster Gedanke war: ein Einbrecher! Nein. Es war nur François, der Kammerdiener. Er hatte die Korrespondenz seines Herrn in ein Paket zusammengeschnürt und ging damit, ohne Margarete zu bemerken, durch die Halle und sagte nach hinten, zu dem unsichtbaren zweiten Diener:

»Eugène ... Monsieur hat eben einen petit Bleu geschickt. Sie werden ihm die Briefe wieder um neun Uhr zu Leroux bringen!«

»So wie vorgestern?«

»Geradeso.«

Natürlich: Karl Feddersen hütete sich, das Geheimnis seiner zweiten Wohnung hier im Hause preiszugeben. Er bestellte sich seine Briefschaften einfach ins Restaurant. Leroux war Margarete wohlbekannt. Es lag weit von hier in der Innenstadt, nahe an den großen Boulevards, aber doch so in einer Seitengasse zurück, daß es der große Schwarm der Fremden nicht erreichte. Es war ein Lokal für die Pariser, ohne Preisangabe auf der Speisekarte, mit berühmter Küche. Karl Feddersen hatte selbst seine Frau wiederholt nach dem Theater dort hingeführt. Er ging auch heute nicht allein hin. Es zuckte um ihre Lippen. Aber sie beherrschte sich. Sie machte sich zitternd wieder zum Ausgehen fertig und verließ, in einen dunkeln Mantel gehüllt, scheu vor ihren eigenen Dienstboten sich umsehend, rasch und lautlos, wie eine Fledermaus ins Dämmern hinausfliegt, ihr entweihtes Haus.

Hundert Schritte von Leroux ließ sie ihre Mietsdroschke halten, stieg aus und legte die letzte Strecke der matterhellten, Altpariser Gasse zu Fuß zurück. Sie hob unter einer Gaslaterne die Hand und sah auf die kleine diamantbesetzte Uhr an ihrem Armband. Es war noch nicht neun. Aber sie wagte nicht länger zu warten. Sonst kam der Bote mit den Briefen nach und berichtete seinem Herrn, daß Madame von der Reise zurückgekommen sei. Dann war diese einzige Gelegenheit, die ihr noch blieb, verpaßt. Sie entsann sich noch des Eingangs zu den Sonderzimmern. Entschlossen trat sie ein und durchschritt den langen, lichthellen Korridor. Die meisten Türen waren geschlossen. Man hörte Stimmengewirr und Lachen hinter ihnen. Dazwischen die elektrische Klingel. Ungeduldig. Zweimal nacheinander. Der Kellner stürzte mit flatternder weißer Schürze um die Ecke des Ganges, das feiste Gesicht gerötet. Er prallte beinahe auf Margarete. Er erkannte sie sofort, schnellte wie ein Gummiball zurück und dienerte tief. Sie versetzte gleichmütig, fast ohne ihn anzusehen:

»Mein Mann erwartet mich! Bitte, führen Sie mich zu ihm!«

Der dicke Frackträger setzte eine kummervolle Miene auf:

»Ich bin untröstlich, Madame! Monsieur Feddersen ist nicht hier!«

»Dann kommt er wohl gleich!«

»Er hat sich nicht angesagt. Es wäre jetzt auch schwer ... Beinahe alle Zimmer sind besetzt ...«

Wieder klingelte es. Der Kellner wandte den Kopf nach der Richtung. Es zuckte ihm in den Beinen. Er wußte nicht, wo er zuerst hin sollte. Auf seiner kahlen Stirn standen ganz kleine, feine Schweißperlen. Die Luft war drückend heiß.

»Wahrscheinlich ein telephonisches Mißverständnis, Madame!« meinte er treuherzig und bedauernd. »Es kommt leider so häufig vor ...«

Hinter seinem Rücken öffnete sich die Tür, die zu dem einen Cabinet particulier führte. Ein großer breiter blonder Herr im Frack stand auf der Schwelle, das Gesicht vom Wein erhitzt, eine Zigarette schief im linken Mundwinkel, die Hände in den Hosentaschen. Er war ärgerlich.

»Voyons, Gaston! ... Was ist das für 'ne Wirtschaft! Ich klingele zum fünften Mal!«

Zu gleicher Zeit, im Bruchteil einer Sekunde, durchmaß Margaretes Blick das Innere des Raums. Den halb abgedeckten Tisch ... den Glanz der Kandelaberkerzen über den Früchten und den beiden Champagnerschalen – durch das feine Blau der Rauchwölkchen einen mächtigen, schiefsitzenden Federhut – das Gesicht einer jungen Frau darunter ... echt pariserische, weiß überpuderte Züge, wie man sie täglich zu Hunderten sah – im nächsten Moment war Karl Feddersen instinktiv davor getreten, um zu retten, was noch zu retten war. Er schaute seine Frau an, als sei ein Geist vor ihm aus der Erde gestiegen, und sie ihn. Die Verachtung schnürte ihr die Kehle zusammen bei seinem unglücklichen Versuch, halb schuldbewußt zu lächeln, halb jetzt noch ihr gegenüber eine majestätische Haltung zu bewahren. Sie hätte ihm am liebsten mit der Hand ins Gesicht geschlagen ... Aber sie wandte sich um. Sie eilte, ohne ein Wort zu sagen, den Gang zurück, hinaus ins Freie, und hatte, als ihr die frische Frühlingsluft entgegenwehte, zuerst nur den einen Gedanken: »Gottlob ... im Frack, mit bloßem Kopf, kann er mir nicht auf die Straße folgen. Ich bin ihn los ...«

Trotzdem stürzte sie den Fußsteig entlang, bis sie das Menschengewühl der Boulevards erreichte und in ihm versank wie ein Tropfen im Meer. Herrenblicke folgten ihr sofort – es tuschelte hinter ihr – es räusperte sich an ihrer Seite – sie achtete nicht darauf. Sie schritt wie eine Nachtwandlerin geradeaus, immer weiter, bis sie hellen Lichterglanz vor sich sah und merkte, daß sie die falsche Richtung nach der Place de la République, statt nach der Madeleine eingeschlagen hatte. Sie stand halb betäubt und wußte nicht, was tun. Da leuchtete der weiße Zylinder eines Droschkenkutschers vor ihr auf. Das gab ihr plötzlich die Entschlußkraft wieder. Sie rief den Wagen an, stieg ein und fuhr heim.

Sie dachte über nichts mehr nach. Nur fort von hier, fort aus diesem Hause, fort aus dieser Stadt, in der man ihre Würde mit Füßen trat. Mit Packen hielt sie sich nicht weiter auf. Sie erinnerte sich, daß gegen zehn Uhr vom Ostbahnhof ein Nachtexpreß erster Klasse abging, nach Metz oder nach Straßburg ... nach Deutschland ... Sie hatte den Fiaker, mit dem sie gekommen, draußen halten lassen. Vorsichtig, auf den Fußspitzen, in Hut und Mantel und Reiseschleier schlüpfte sie in das Zimmer ihres Kindes, blieb horchend stehen und blickte sich um wie ein Dieb in der Nacht. Sie vernahm nichts als ihr eigenes wildes Herzklopfen. Sie atmete auf. Sie hatte Glück. Die Pflegerin war eben auf ihrem gewohnten Abendspaziergang. Mit bebenden Händen hob Margarete ihr Kind aus dem Bettchen, wickelte es, während es kläglich zu schreien anfing, ungeübt und ungeschickt ein, und während sie es auf ihren Armen durch die Halle zum Ausgang hintrug, hatte sie zum erstenmal in diesen Stunden der Demütigung das Gefühl eines Triumphs. Nun war sie doch die Stärkere gegenüber ihrem Mann. Sie nahm ihr Eigentum mit sich ... hinüber über den Rhein ...

Als sie in die Droschke steigen wollte, stand keuchend die Wärterin neben ihr. Sie war die letzten hundert Schritte auf dem Nachhauseweg gerannt, so daß die Vorübergehenden ihr neugierig nachschauten ... Andere blieben stehen. Im Haustor versammelte sich bestürzte Dienerschaft.

»Wohin, Madame?«

»Das geht Sie gar nichts an!« sagte die junge Frau. »Melden Sie nur meinem Mann, ich sei mit Charles-Iwan davon! Er weiß schon warum!«

»Aber ich darf Charles-Iwan nicht verlassen! ... Ich bin für ihn verantwortlich!«

Die hagere Person drängte sich heran. Margaretes Augen blitzten.

»Unterstehen Sie sich, mich oder den Jungen anzurühren! ... Meine Geduld ist jetzt zu Ende. Mit Euch allen! ... Mit der ganzen Wirtschaft hier!«

Ihre Stimme klang schneidend. Sie setzte, ohne sich umzusehen, den Fuß auf das Trittbrett. Die Pflegerin kletterte zäh hinterher und nahm ihr gegenüber Platz.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame! Ich weiche nicht von dem Kind!«

»Dann kommen Sie in Gottes Namen mit. Vorwärts!«

Erst am Triumphbogen nannte Margarete dem Kutscher das Ziel der Fahrt. Sie war froh über diese Vorsicht. Denn sie mußten auf dem Bahnhof noch fast eine halbe Stunde warten. Karl Feddersen hätte sie leicht einholen können, wenn er gewußt hätte, wo sie waren. Auch jetzt noch fürchtete sie, ihn jeden Augenblick in der Türöffnung des trüben, muffigen Saals erscheinen zu sehen, auf dessen verschossenen Plüschpolstern sie, Charles-Iwan auf dem Schoße, saß. Neben ihr die Wärterin. Die hatte ihr, als Margarete die Fahrkarten löste, mit einem süßlichen Lächeln den Kleinen für einen Augenblick abnehmen wollen und die junge Frau hatte dazu gelacht:

»So dumm bin ich nicht, um nicht zu wissen, daß Sie mit dem Jungen spornstreichs zum nächsten Auto rennen!«

Dann erhob sie sich tiefaufatmend:

»Gott sei Dank! Nun ist's Zeit. Wir können einsteigen!«

In der nachtdunkeln Halle stand der Wagen. Sie las: »Paris-Lüttich-Verviers-Köln« und dachte sich: In Köln hat Papa als Bataillonskommandeur gestanden. Sie zog den Schleier vor die Lampe ihres Abteils und drückte sich scheu wie ein verfolgter Verbrecher mit ihrem Kind in eine Ecke der Polster. Draußen auf dem Bahnsteig lärmte es in französischen Lauten. Offiziere gingen sporen- und säbelklirrend vorbei, Gepäckträger in blauen Blusen, spitzbärtige Herren im Zylinder. Dann wurde es stiller. Ein Pfiff. Ein Ruck in den Achsen. »Endlich!« murmelte sie, mit einem grausam harten Gesichtsausdruck zwischen den Zähnen. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte in die Nacht hinaus ...


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