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Bruchstücke einer großen Konfession – so kann man mit Recht auch die vorliegenden »Bekenntnisse eines Ichmenschen« nennen. Sie sind fragmentarisch wie Beyle-Stendhals ganzes Leben und Schaffen, nach Stimmung und Gelegenheit begonnen und wieder abgebrochen, aber gerade in diesem zwanglosen Aufnehmen und Fallenlassen, dieser unstilisierten Natürlichkeit liegt eine Gewähr für ihre Ehrlichkeit. Wie zwei große Eckpfeiler stehen am Anfang und am Schluß »Das Leben des Henri Brulard«, die Darstellung seiner Kindheit und Jugend bis zur Ankunft des Intendanturvolontars in Mailand, und die »Bekenntnisse eines Ichmenschen«, die Erinnerungen an seine reife Manneszeit, die sein Bewunderer Paul Bourget »neben Shakespeares Sonette, das »Journal intime« von Benjamin Constant, die Bekenntnisse des Hl. Augustinus und etliche andere erhabene oder sündhafte Meisterwerke von hervorragender Gefühlsverfeinerung« gestellt hat.
Zwischen ihnen, die für eine spätere Veröffentlichung bestimmt waren, liegen die regellosen Massen der Tagebücher Beyles, die er nur für sich geschrieben hat, in denen er seine Erlebnisse à nu aufzeichnete, Kritik an Kunst, Literatur und Philosophie trieb, in denen er andere Menschen und vor allem sich selbst psychologisch zergliederte und nach seiner eigenen, eigenwilligen Wahrheit über Menschen und Dinge strebte. Sie sind noch mehr als seine beiden großen autobiographischen Fragmente unmittelbare Bekenntnisse, und als solche bilden sie den wichtigsten Schlüssel für das Werden seiner komplizierten und so scheu verschlossenen Persönlichkeit. Was er weder Mitlebenden noch seinen Werken anzuvertrauen wagte, sich selbst gegenüber hat er es hier offen und ohne Scham gestanden.
Es gibt Künstler und Schriftsteller, die ganz in ihrem Werke verschwinden, deren Leben uns nur geringen Anteil abnötigt. Es gibt andere, deren Leben, ganz unabhängig von ihren Werken, selbst ein Kunstwerk oder ein spannender Roman ist. Werk und Leben sind zwar auch bei ihnen aufs innigste verknüpft, aber das Eigenste, Eigenartigste dieses Lebens geht doch nur mittelbar in das Werk über und wird von ihm halb verschleiert. So ist uns der Mensch Goethe heute ebenso fesselnd wie seine unsterblichen Werke; so erweckt auch der Mensch Stendhal unsere höchste Anteilnahme, selbst wenn er wenig oder gar nichts für die Öffentlichkeit bestimmt hätte. Deshalb sind seine persönlichen Aufzeichnungen von so hohem Wert für den, Seelenforscher, ganz unabhängig von seinen Werken, so sehr sie auch zu deren Verständnis beitragen. Sie sind der Niederschlag eines Lebensromans von kaleidoskopischer Buntheit, dessen Held Soldat, Handlungslehrling, Kriegskommissar, Auditor im Staatsrat und Hofmann, Europawanderer, Schriftsteller und Diplomat gewesen ist, die Beichte einer nach Paul Bourgets Wort»Essais de psychologie contemporaire«, endgültige Ausgabe (mit Nachträgen über Stendhal), Paris 1901. »verstandesscharfen, bis zur Narrheit zärtlichen, bis zur Grausamkeit ironischen, bis zur Tollkühnheit energischen und bis zur naivsten Empfindsamkeit romantischen Seele, der Seele eines Kindes, eines Soldaten und Dichters, eines Weltmannes und Einsamen, eines Freidenkers und Liebenden, kurz, der Seele eines Mannes, der im Alter über vierzig Jahren eine Romanform ohnegleichen erfand«.
Es hat lange gewährt, bis der Mensch Stendhal hinter seinen Werken hervorgetreten ist, bis man ihn als solchen zu würdigen verstanden hat. Den ersten Versuch dazu machte auf Grund langjährigen persönlichen und brieflichen Verkehrs sein Freund Prosper Mérimée, der Carmendichter, in seinen »Notes et souvenirs«, die die Erstausgabe seines Briefwechsels (1855) einleiten und die im Anhang des vorliegenden Bandes wiedergegeben sind. Einen Schritt weiter tat dann Stendhals großer Schüler Hippolyte Taine, der ihn nicht mehr persönlich gekannt hat, in seiner Stendhalstudie,»Nouveaux essais de critique et d'histoire«, Paris 1866 (7. Auflage 1901). in der er Stendhal zuerst als Psychologen feierte, der »unter dem Anschein eines Causeurs oder Weltmanns die schwierigsten inneren Mechanismen erklärte, der den Finger auf die großen Triebfedern legte, der die wissenschaftliche Methode, die Kunst des Entzifferns, Zergliederns und Deduzierens, auf die Geschichte des Herzens anwandte«. Aber auch Taines geistvolle Analyse konnte nur ein Versuch sein, solange Stendhals Autobiographien und Tagebücher in seinem handschriftlichen Nachlaß schlummerten. Erst die Veröffentlichungen des nach Stendhals Vaterstadt Grenoble, dann nach Paris verschlagenen Sprachlehrers Casimir Stryienski, eines Polen jüdischer Abkunft, der nach jahrelanger mühevoller Entzifferungsarbeit der Handschriften Stendhals »Journal«, sein Tagebuch von 1801 bis 1814 (1888), die »Vie de Henri Brulard« (1890) und die »Souvenirs d' Egotisme« (1892) herausgab, schufen die Grundlagen einer psychologisch vertieften Stendhalforschung, zu einer Zeit, wo die psychologische Schulung des modernen Denkens weit genug gediehen war, um den geistigen Vorsprung Stendhals vor seinen Zeitgenossen einzuholen.
Seitdem haben sich die Stendhalveröffentlichungen aller Art gehäuft. Unter ihnen nehmen neben seinen nachgelassenen Romanen »Lamiel« (1889) und »Lucian Leuwen« (1894) sowie den von mir entdeckten NovellenS. Band 3 dieser Ausgabe. vor allem das von Paul Arbelet herausgegebene »Journal d'ltalie« von 1801–1818 (1911) und die ebenfalls von Arbelet besorgte erste vollständige Ausgabe der »Vie de Henri Brulard« (1913), die Stryienski nicht restlos veröffentlicht hatte, die erste Stelle ein, daneben das Braunschweiger Tagebuch (1913) sowie die zahlreichen Briefveröffentlichungen, die uns in Band 8 beschäftigen werden. Und doch sind auch dies alles nur Bruchstücke aus der gewaltigen Hinterlassenschaft Beyles in den Bibliotheken von Grenoble und Paris, von der uns der verstorbene Adolphe Paupe eine summarische Ausstellung gegeben hatIm »Amateur des Autographes« vom November 1912, S. 329 ff. und von der ein großer Teil, darunter zahlreiche Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, noch der Veröffentlichung harrt.
Erst neuerdings hat die französische Stendhalforschung, die so lange ein oft rührendes Dilettantenbemühen oder eine subalterne Verhimmelung war, und die ihre stärksten Anregungen einem Zugewanderten (Stryienski) verdankt, ein ernsthaftes, wissenschaftliches Gepräge angenommen, und sie wird noch Jahrzehnte zu tun haben, um die vorhandenen Schätze zu heben. Dazu kommt, daß diese Last bei dem französischen Nationalcharakter, dem Stendhal, dieser Ausnahmefranzose, manche empfindliche Seitenhiebe versetzt hat, immer nur auf wenigen Schultern opferbereiter Männer ruhen wird, um so mehr als der Weltkrieg auch auf diesem Gebiet zu einer Stagnation des französischen Geisteslebens geführt hat, als wäre Frankreich nicht als Sieger, sondern als geistig und materiell zusammengebrochener Besiegter aus dem Völkerringen hervorgegangen. Man kann also auch heute noch von Stendhal das gleiche sagen, was Jakob Burckhardt von Leonardo da Vinci gesagt hat, daß wir die Umrisse seines Geistes bisher nur ahnen können. Immerhin ist die Fülle des ans Licht Gekommenen gegenwärtig groß genug, um ein Gesamtbild zu gewinnen. Man ist ja bei Stendhals Natur an das Fragmentarische und Problematische so gewöhnt, daß man es auch hier angesichts der Fülle des Fesselnden und Wertvollen, das darin liegt, gern hinnimmt.
Es konnte nicht der Zweck dieses Bandes sein, Stendhals Autobiographien und Tagebücher mit dem ganzen Gewirr ihrer für den Forscher wertvollen Einzelheiten restlos wiederzugeben, zumal manches aus der damaligen französischen Zeitgeschichte dem heutigen deutschen Leser zu fern liegt und auch nur durch einen umständlichen Apparat von Anmerkungen lebendig zu machen wäre. Eine solche Fülle mosaikartiger Einzelheiten hätte zudem selbst den weitgespannten Rahmen dieses Bandes gesprengt und wäre für viele Leser durch ihre Breite verwirrend und ermüdend geworden. Ich habe mich daher bei dieser Zusammenstellung von ähnlichen Gesichtspunkten leiten lassen, wie bei der gekürzten Herausgabe seiner beiden italienischen Reiseschriften,»Reise in Italien« (Band 5 dieser Ausgabe) und »Wanderungen in Rom« (Band 6). indem ich veraltete oder fernliegende Einzelheiten unterdrückt und die großen Züge, die bedeutsamsten Stunden von Stendhals Leben um so stärker herausgearbeitet habe. Insbesondere das »Journal« ist stark gekürzt worden. Die zahlreichen Kritiken damaliger Bühnenwerke und Schauspielerleistungen in seinem Pariser Tagebuch sind für die Geschichte von Stendhals Geistesentwicklung gewiß von Bedeutung, gehen aber über den gesteckten Rahmen weit hinaus, nicht minder die breit ausgemalten täglichen Einzelheiten seiner aufkeimenden Liebe zu Melanie Guilbert oder – in den späteren Partien – seiner flüchtigen Liebeleien mit anderen Frauen, die sich bei dem verstümmelten Zustand ihrer NamenOb diese schon im Urtext verstümmelt waren oder erst von Stryienski durch Anfangsbuchstaben ersetzt worden sind, ist bis zu einer wissenschaftlich zuverlässigen Ausgabe der Tagebücher nicht festzustellen, zumal die Nachprüfung der in Frankreich befindlichen Handschriften für Deutsche nahezu unmöglich geworden ist. nicht einmal mit Sicherheit feststellen lassen. Somit bildet die vorliegende Ausgabe nur Bruchstücke aus Bruchstücken, allerdings die bedeutsamsten, die bisher veröffentlicht sind. Gut die Hälfte davon erscheint hier zum erstenmal in deutscher Sprache.
Neben dem »Journal« und dem »Journal d'Italie« ist es vor allem das »Braunschweiger Tagebuch«, das deutsche Leser besonders fesseln dürfte, zumal seine erste französische Veröffentlichung (1913) sich lediglich mit der Wiedergabe des Textes begnügt hat, ohne den zahlreichen, darin vorkommenden Gestalten irgendwie nachzuspüren. Durch Heranziehen der gedruckten Überlieferung wie durch Anfragen bei den Nachkommen der genannten Personen ist es mir gelungen, die Umwelt, in die der junge französische Kriegskommissar verschlagen wurde, lebendig zu machen. Einen Vorgänger habe ich hier freilich schon in dem verdienten Stendhalforscher Dr. Arthur Schurig gehabt, der zuerst den Lebensdaten von Stendhals deutschem Freunde Friedrich v. Strombeck, dessen Schwägerin Philippine v. Bülow und Stendhals platonischer deutscher Liebe, Wilhelmine v. Griesheim, nachgegangen ist, auch Briefe Stendhals an Strombeck entdeckt hat. Aufs höchste zu beklagen ist gewiß, daß das erste Braunschweiger Tagebuch, das die Anfänge seiner Liebe zu Wilhelmine enthalten muß, unwiederbringlich verloren ist: es fiel auf dem Rückzug aus Rußland mit Beyles ganzem Gepäck in die Hände der Kosaken.
Strombeck selbst hat in seinen »Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit«Braunschweig 1833, I, 267ff., II, 136f., 142ff. ein kurzes Lebensbild Beyles entworfen. »Ich darf sagen«, schreibt er, »daß wir Freundschaft für einander empfanden. Er war ein wissenschaftlich gebildeter junger Mann, bei aller echt französischen Lebhaftigkeit von einer Gutmütigkeit, die nicht übertroffen werden konnte. Fast täglich besuchte er mich, begleitete mich auf meinen Spazierritten, verweilte mit mir bisweilen auf meinem Landgute, und selbst auf meinen Harz- und Brockenfahrten war er mein Gefährte. Für den Nutzen meiner FürstinDer Äbtissin Auguste Dorothea von Gandersheim. wachte er fast mit gleicher Sorgfalt wie ich selbst, und seine Ratschläge fand ich immer ausführbar. Ich habe ihn im Jahr 1811 zu Paris wieder gesehen, nach Napoleons Sturz noch einen Brief von ihm erhalten, nachher aber nichts mehr von diesem treuen Freunde gehört.«
Die moralische Quintessenz dieses Braunschweiger Tagebuches, die Betrachtungen über die deutsche Liebe und Ehe, sind später – mit veränderten Orts- und Personennamen, um niemand bloßzustellen – in Stendhals psychologisches Werk »Über die Liebe«Band 4 dieser Ausgabe, Kap. 64. übergeflossen. Er hat stets eine Art von Bewunderung für die deutsche Liebe und Ehe bewahrt, die freilich den lockeren französischen Sitten seiner Zeit so völlig entgegengesetzt war.
Ebenso bekennt er später, wie bedeutsam dieser dreijährige Aufenthalt in Deutschland und Österreich für seinen musikalischen Geschmack gewesen sei. Er selbst sollte 1814 eine freie Bearbeitung von Carpanis »Haydine« herausgeben, und noch auf seinem Grabsteinentwurf setzt er: »Quest' anima adorava Cimarosa, Mozart e Shakespeare«, d. h. seinen italienischen und deutschen Lieblingskomponisten und neben ihnen den großen Briten, der schon damals zum deutschen Nationaldichter geworden war, während Beyle selbst noch 1823 und 1825 in seinen Pamphleten »Racine und Shakespeare« den Versuch machen mußte, seinen Landsleuten für Shakespeares Größe die Augen zu öffnen. Der im Anhang (Nr. 3) mitgeteilte Brief der Philippine v. Bülow über die deutsche Musik und die (damalige) deutsche Empfindungsart zeigt, wie lebhaft der nach übernationaler Bildung strebende junge Franzose die Eindrücke der deutschen Umwelt in sich aufgenommen hat. Allerdings zeigt sein Braunschweiger Tagebuch auch das uns heute wieder geläufige traurige Bild, daß deutsche Hände es waren, die den Fremden ungünstige Bilder vom deutschen Geistesleben zeichneten. Der ganz im französischen Geschmack Friedrichs des Großen aufgewachsene alte Baron v. Bothmer ließ Beyle gegenüber kein gutes Haar an der deutschen Literatur, die doch damals gerade ihren Zenit erklomm, so daß Beyle von diesem Deutschen nur das Echo des französischen Rokokogeschmacks vernahm, den er selbst innerlich längst überwunden hatte. So glaubte er denn sogar die deutsche Literatur nach dem wenigen, was er aus Übersetzungen davon kannte, gegen Bothmer in Schutz nehmen zu müssen. Tiefer eingedrungen ist er in sie freilich nie, und wenn er gerade damals sich mehr mit dem englischen Schrifttum befaßte und zeitlebens das deutsche geringschätzig behandelt hat, so mögen dazu solche abschätzigen Urteile, wie er sie von Bothmer gehört hat, nicht weniger beigetragen haben als die Schwierigkeit des Erlernens der deutschen Sprache, die er später als »Rabengekrächz« bezeichnet hat.
Vollends auf Kriegsfuß stand er sich zeitlebens mit der deutschen Philosophie, deren schwere Terminologie und metaphysische Spekulation seinem auf Klarheit dringenden und auf Empirie fußenden Geiste zu mystisch und verschwommen erschien. Insbesondere mußte ihn Kant abstoßen, vorausgesetzt, daß er ihn verstanden hat: war dessen kategorischer Imperativ der Pflicht doch das gerade Gegenteil von Beyles »egotistischer« Sittenlehre, dem »Beylismus«, der Pflichten nur gegen sich selbst und gegen Freunde anerkannte.
Dagegen hat er in späteren Jahren eine große Hochachtung vor der deutschen Wissenschaft zur Schau getragen, obwohl er bei der Seltenheit von Übersetzungen wissenschaftlicher Werke nur wenig davon gelesen haben mag. Vermutlich lobte er sie nur »aufs Wort«, d. h. ihrem Rufe nach, was sonst bei ihm selten der Fall war, aber es mag ihm ein boshaftes Vergnügen bereitet haben, die Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit der deutschen Wissenschaft gegen die Oberflächlichkeit der (damaligen) französischen auszuspielen. So schreibt er in den »Wanderungen in Rom«:Band 6 dieser Ausgabe, S. 131 f. (4. März 1828). »In Wahrheit findet man wahre Wissenschaft nur jenseits des Rheins.D. h. von Frankreich aus. In Paris druckt man heute frischweg, was man gestern gelernt hat.« Daß Stendhal damit bedeutenden französischen Gelehrten, wie Cuvier, Ampère, Arago, mit denen er damals persönlich verkehrte, Unrecht tat, bedarf kaum des Hinweises.
Einen wirklich tiefen Eindruck haben ihm nur A. W. Schlegels »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur« (1805–11) hinterlassen, die er 1813 in französischer ÜbersetzungS. »Correspondance« I, 409ff. kennen lernte. Dies Buch hat ihn im Verein mit der Beeinflussung durch die Mailänder Romantik (in den Jahren 1815–21), die sich gleichfalls an deutschen Quellen inspiriert hatte, zum ersten Theoretiker der nachhinkenden französischen Romantik gemacht, als deren Vorkämpfer er in seinen bereits genannten Pamphleten »Racine und Shakespeare« aufgetreten ist.S. »Reise in Italien«, Einleitung, S. XXXIVff.
Am meisten versündigt hat Stendhal sich durch oberflächliche und schiefe Urteile an Deutschlands größtem Geist, Goethe, obwohl gerade er mit ihm zahlreiche Berührungspunkte hatte: in seinem sinnenfrohen Realismus, seinem Glauben an die Persönlichkeit, seiner Bewunderung Napoleons und Lord Byrons, seiner Kunstbegeisterung und Italienschwärmerei und schließlich auch in seiner Stellung zum »Ewig-Weiblichen«; wie denn auch Goethe Stendhals italienischen Reisebildern (in denen Entlehnungen aus Goethes »Italienischer Reise« vorkommen, die diesem nicht entgingen) und seinem Roman »Rot und Schwarz« aufrichtige Bewunderung gezollt hat.
Schließlich ist hier auch noch darauf hinzuweisen, daß Beyle sich sein bizarres Pseudonym de Stendhal, das zum erstenmal in seiner »Reise in Italien« auftaucht, von dem altmärkischen Städtchen Stendal geholt hat, allerdings nicht aus Begeisterung für den von ihm wenig geschätzten Winckelmann, der, wie er einmal schreibt, »in meinem Lehen geboren ist«, sondern wohl eher aus Laune oder in Erinnerung an irgendein Abenteuer in Stendal während seiner Braunschweiger Zeit. In seiner »Reise in Italien«, wo er sich als »Kavallerieoffizier« einführt, der »seit 1814 aufgehört hat, Franzose zu sein«, wollte er mit diesem deutschen Decknamen wohl den Eindruck erwecken, als sei er Angehöriger eines der früheren Rheinbundstaaten gewesen, wie denn jene Reise ja auch in Berlin beginnt und in Frankfurt a. M. endet. Auf seinem Grabstein hat er sich dann später, wie wir sehen werden, als Italiener (Milanse) bezeichnet.
Alles in allem ist Stendhal, wenn man von seiner ehrlichen Liebe zur deutschen Musik, insbesondere zu Mozart, und seiner halb widerwilligen Bewunderung der deutschen Liebe und Ehe absieht, in deutsche Art und Verhältnisse bei weitem nicht so tief und mit so eifrigem Streben eingedrungen wie in die italienische und selbst die englische Wesensart. Aber er ist auch trotz seines traurigen Amtes, das Braunschweiger Land durch Kriegskontributionen auszupressen, nicht als überheblicher oder gleichgültiger Eroberer aufgetreten. Er ist vielmehr stets bestrebt, Augen und Ohren aufzutun und sich ein unvoreingenommenes Urteil zu bilden, freilich noch nicht mit dem psychologischen Scharfblick seiner reifen Mannesjahre, sondern häufig mit der für seine Jugend kennzeichnenden launischen Empfindlichkeit, mehr mit den Nerven als mit dem Verstande, wie er selber sagt.
Eigenartig ist es, daß sein deutscher Freund Strombeck wohl als einziger an dem jungen Beyle eine Gutmütigkeit entdeckt, »die nicht übertroffen werden konnte«. Beyle hat es in seinen späteren Denkwürdigkeiten oft bitter beklagt, daß keiner seiner französischen oder italienischen Freunde seine »tiefe Seelengüte« erkannt habe, die er allerdings später unter der Maske geistreicher Spötterei zu verbergen suchte. Der gutherzige Deutsche hat sie aus verwandter Gemütsanlage heraus erkannt, und selbst von dem alternden, kaltspöttischen Stendhal sagt Ludwig Spacke, ebenfalls ein Deutscher, Beyle gehöre »zu den sonderbar angelegten Naturen, die sich jeder idealistischen Regung schämen und hinter diabolischem Spott oft nur ein tiefverwundetes, für innige Liebe angelegtes Herz bergen«. Bei französischen Zeitgenossen wird man diese Einsicht in eine Wesensseite Stendhals vergeblich suchen; sie wußten an ihm nur die Maske des Geistes zu schätzen, die er seinem Herzen vorhielt, bestenfalls seine Rechtschaffenheit und Offenheit gegen Freunde.
Zum Abschluß dieses Bildes »Stendhal in Deutschland« seien noch ein paar Worte Strombecks über das Braunschweiger Leben in der Franzosenzeit zitiert. »Im herzoglichen Schlosse«, schreibt er, »hauste der Gouverneur, General Rivaud, im Bevernschen Palais der Intendant Martial Daru. An beiden Orten drängten sich Bälle und Gastmähler. Die jungen Damen prangten in ihrem schönsten Glanze und schienen zum größten Teil in den Franzosen keine Feinde zu erkennen. Es schien nicht anders, als wären unsere ungebetenen Gäste unsere Gastgeber. Jedoch muß man zu ihrer Ehre sagen, daß sie ihr böses Amt unter den humansten Formen verwalteten. Vorzüglich zeichnete sich in dieser Hinsicht der Intendant Martial Daru aus, der die Aufmerksamkeit gegen meine, ihm doch persönlich unbekannte Fürstin so weit trieb, daß er gleichsam allen ihren Wünschen, wenn er sie von mir nur angedeutet vernahm, entgegenzukommen suchte.« ... Ein Vergleich mit der Gegenwart liegt nahe, allerdings nicht zum Vorteil der heutigen Franzosen.
Es kann nicht der Zweck dieses Vorworts sein, die französische oder italienische Umwelt, in der Beyle den größten Teil seines Lebens verbracht hat, in ähnlicher Weise zu skizzieren, denn er hat beide in seinen italienischen und französischen Reiseschriften und in seinen Romanen mit Meisterhand selbst gezeichnet. Ebensowenig soll hier ein Lebensabriß Beyles vorausgeschickt werden, um die verschiedenen Teile seiner Selbstschilderung lückenlos aneinander zu ketten. Dies wird vielmehr der Mitarbeit des Lesers überlassen. Nur für Stendhals Lebensabend, der hier fast nur durch seine lakonischen Testamente vertreten ist, soll weiter unten eine biographische Einstellung erfolgen. Und hier mögen noch ein paar Betrachtungen über seine freudlose Kindheit und Jugend in Grenoble folgen, die er im Leben des »Henri Brulard« so tiefbohrend geschildert hat.
»Die bedeutendste Epoche eines Individuums ist die der Entwicklung« – dies Goethewort trifft auf wenige so zu wie auf Stendhal. Seine Kindheit verstehen, heißt die Eigenart seines Charakters verstehen. Er selbst hat sie geschildert, als die Kindheitserinnerungen vor dem geistigen Auge des alternden Mannes mit neuer Macht auftauchten, gebrochen durch das Medium von fünfzig inhaltsreichen Lebensjahren. Ibsens Wort: »Das wiedergeborene Auge verändert die alte Handlung«, könnte als Motto über dieser Darstellung von Stendhals Kindheit stehen. Wäre sein Leben anders verlaufen – und das war ohne Napoleons Sturz wahrscheinlich –, wäre er Oberst oder Baron oder Präfekt oder ein reicher Mann geworden, was er, wie er selbst betont, leicht hätte werden können, er hätte uns gewiß andere Lebenserinnerungen hinterlassen als diese, die, wie sein Kritiker Ernest Seillière»Die romantische Krankheit. Fourier und Beyle-Stendhal«. Deutsch, Berlin 1906, S. 292. sagt, auf jeder Seite den Jakobiner aus enttäuschtem Ehrgeiz, den Bonapartisten aus Widerspruchsgeist, den Anarchisten gegen die soziale Ordnung verraten. Sein Biograph und Widersacher Arthur Chuquet, dessen Hauptbestreben ist, Beyles widerspruchsvolle Natur bei Selbstwidersprüchen, Irrtümern und Unwahrheiten zu ertappen, hat sogar einen großen Teil dieser Kindheitserinnerungen ins Fabelbuch geschrieben, gestützt auf Beyles eigne Worte: »Wahr sind darin nicht die Tatsachen, sondern nur die Eindrücke.« Oder: »Für Tatsachen hatte ich stets nur ein schwaches Gedächtnis.« Nach Chuquets Meinung sind aber diese Eindrücke vielfach erst aus Beyles späterer Lebensanschauung in seine fernliegende Jugendzeit hineinprojiziert.
So meint er, Beyle habe seine freudlose Kindheit absichtlich zu schwarz gemalt, um den Glanz der Mailänder Tage zu erhöhen, die doch in seinem Jugendtagebuch selbst so voller Schwermut und Weltschmerz erscheinen. Er weist nach, daß die tiefe Entfremdung zwischen Vater und Sohn erst eintrat, als dieser seinen Säbel mutwillig an den Nagel gehängt hatte, um in Paris seine eigenwillige Selbstausbildung fortzusetzen und einer Schauspielerin nach Marseille nachzureisen. Erst seit ihm der Vater wegen dieser Durchbrennerei die karge Zulage entzog und der Leutnant a. D., um seinen Lebensunterhalt zu fristen, als Handlungslehrling in ein Engros-Geschäft eintreten und »Schnapsfässer abwiegen mußte«, schimpft er den Vater in seinen Briefen an seine Schwester Pauline als »Bastard«. Ebenso bezweifelt Chuquet den Atheismus des vierjährigen Knaben und das Jakobinertum des elfjährigen. Seine Verherrlichung der Gegenrevolutionärin Charlotte Corday und ein (im Text fortgelassener) Dummjungenstreich, ein Attentat auf den Freiheitsbaum, zeigen ihn vielmehr als Antijakobiner, ebenso eine Stelle aus dem »Journal« von 1803, in der er ganz monarchistische Gesinnungen zeigt. Nach Chuquet hätte Stendhal erst seit der Restaurationszeit den Jakobiner hervorgekehrt, um seine legitimistischen Freunde zu ärgern. Gesteht er doch selbst erst nach der Rückkehr der Bourbonen und dem endgültigen Sturze Napoleons: »Zum erstenmal im Leben empfinde ich wahre Vaterlandsliebe.«S. Seite 436.
Ebenso zweideutig erscheint seine Stellung zu Napoleon. Seine Tagebuchaufzeichnungen von 1805, als Napoleon sich die Kaiserkrone aufsetzte, sind gehässig;S. Seite 235, 240. ja, er nimmt zu jener Zeit offen Partei für Napoleons Feind und Nebenbuhler Moreau, als dieser als Verschwörer angeklagt und ausgewiesen wird. In einem seiner selbstverfaßten Nekrologe behauptet er sogar, sich an der Verschwörung zugunsten Moreaus beteiligt zu haben. Erst als er selbst unter Napoleon dient und dieser auf dem Zenit seiner Macht und seines Glanzes steht, erscheint er ihm als »der größte Mann«.»Journal«. S. 335, April 1809. Aber der Sturz Napoleons ist ihm, wie er selbst versichert, ganz recht gewesen, und erst in der Restaurationszeit wird er zum glühenden Napoleonschwärmer, besonders seit dem Tode seines gestürzten Abgottes.
Weiter ficht Chuquet Beyles frühe tiefe Abneigung gegen Racine an, den er in seinem Tagebuch von 1804 noch bewundert.Floreal XII (1804). Und schließlich bezweifelt er die leidenschaftlichen Gefühle des Knaben für seine Mutter, die Beyle aber nicht erst in seiner Autobiographie von 1832, sondern schon in seinem selbstverfaßten Nachruf von 1821 mit einem Anflug von Zynismus gesteht. Aber gerade hier dürfte Beyle wohl die Wahrheit gesagt haben. Die Eifersucht auf seinen Vater, die erotische Empfindung gegenüber der Mutter, ja später selbst gegenüber seiner Todfeindin Seraphie, das alles würde für die neuste Wiener Psychologenschule vielmehr als Musterbeispiel von Pubertätsregungen bei einem frühreifen Knaben von nervöser Feinfühligkeit erscheinen.
Aber Chuquet ist bei allem sachlichen Verdienst um die Stendhalforschung, das ihm niemand abstreiten darf, kein Psychologe; es genügt ihm, Widersprüche festzustellen, um Beyle zu widerlegen und ins Unrecht zu setzen. Und so kommt er zu dem lapidaren Schluß: »Viele Einzelheiten sind also eingebildet oder erfunden, oder, um mit ihm selbst zu reden, die meisten Urteile sind für sein damaliges Alter sehr frühreif.« Selbst wenn man dies zugeben wollte, so haben in dem widerspruchsvollen Knaben doch zweifellos manche Gegensätze gelegen, die eine so glatte Lösung wie die von Chuquet ausschließen. Über manches in seiner Kindheit ist er sich, wie er selbst sagt, erst als gereifter Psychologe klar geworden, und er mag oft nur das aufgezeichnet haben, was in seiner Entwicklungslinie lag, seinen Eigenwillen, seine Gegensätze zu seiner Umwelt, seinen selbständigen Geschmack, während er das, was er mit andern teilte, übergangen hat. Wäre sein äußeres Schicksal und somit auch seine innere Entwicklung anders verlaufen, er hätte, wie bereits gesagt, manches anders gefaßt. Die inneren Gegensätze seiner Darstellung aber beweisen oft gewiß nicht seine Unwahrhaftigkeit, sondern vielmehr seinen »ehrlichen Egotismus«. Daß er z. B. bei seiner liebeleeren Erziehung und seiner inneren Auflehnung gegen alles von seiner Familie Geachtete für die Jakobiner und Königsmörder Partei nahm,Dies bezeugt z. B. auch der Umstand, daß er sich mit dem gleichgesinnten Bigillion bei einer republikanischen Feier kennenlernte. (Arbelet, ›Jeunesse‹, I, 371.) schließt einen Dummenjungenstreich wie das Attentat auf den Freiheitsbaum oder seine Begeisterung für die politische Mordtat der Charlotte Corday keineswegs aus, denn die Taten und Meinungen des Knaben entsprangen aus Gefühlen und Jugendlaunen, nicht aus politischem Urteil und logischer Konsequenz. Ein rückschauender Historiker mag darin innere Widersprüche entdecken, die dem Knaben damals gewiß nicht voll zum Bewußtsein gekommen find; sonst hätte er eben gerade jenes allzu frühreife Urteil besessen, das Chuquet ihm abstreitet.
Überhaupt läßt sich ein so schwieriger innerer Entwicklungsgang nicht so kurz und so dogmatisch abtun, wie Chuquet es bei seinem damals noch recht lückenhaften Material getan hat. Dazu bedarf es einer feinen Psychologenhand und eines auf zahlreiche Quellen zurückgehenden geduldigen Einzelstudiums, wie es neuerdings der verdienstvolle Paul Arbelet in seiner zweibändigen »Jeunesse de Stendhal« getrieben hat, vor allem aber auch größere Liebe zu seinem Gegenstand, als der gestrenge Chuquet besitzt. Eine Untersuchung wie die seine führt nur zur Stellung des Problems, nicht aber zu seiner Lösung.
Auf einen Punkt von Arbelets Studie sei hier noch mit ein paar Worten eingegangen: auf die italienische Abkunft der mütterlichen Vorfahren Stendhals, auf die er sich kraft einer alten Familientradition beruft. Man hat über diesen italienischen »Mörderstammbaum« gespöttelt und darin nichts als eine Fabelei Stendhals gesehen, um sich seine Wahlverwandtschaft mit dem italienischen Charakter rationell zu erklären. Erst die Nachforschungen Arbelets haben seinem dunklen Instinkt und seiner Familientradition recht gegeben. Die Spur seiner mütterlichen Vorfahren führt zunächst tatsächlich, wie er angibt, nach der Provence, und zwar nach dem Dorfe Bédarrides bei Avignon, das bekanntlich vom Mittelalter bis zur französischen Revolution eine päpstliche Enklave in Südfrankreich war. Der italienische Name dieser Vorfahren (Gaignoni oder Gagnoni), der auch im florentinischen Mittelalter nachweisbar ist, legt die Einwanderung eines Vorfahren aus Toskana nahe. Einer dieser provenzalischen Gagnons wurde zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach Grenoble verschlagen: es war der Vater von Beyles Großvater mütterlicherseits, Henri Gagnon. Wir haben hier eins der seltsamsten Beispiele für die Macht des Blutes und der Vererbung vor uns. Durch eine lange Reihe gekreuzter Geschlechter hindurch bricht in Beyle die italienische Seele mit instinktiver Gewalt hervor. So erklärt es sich, daß dieser Ausnahmefranzose zu einem halben Italiener werden konnte – ein im französischen Schrifttum wohl einzig dastehender Fall. »Das wahre Vaterland ist das Land, wo man die meisten Menschen trifft, die einem gleichen«, lautet eine seiner Maximen. In Italien fühlte er sich aus seiner moralischen Vereinsamung erlöst und um zehn Jahre verjüngt. Und wenn er sich schließlich auf seinem Grabstein als Sohn seines geliebten Mailand (Milanese) bezeichnet hat, so ist auch das keine bloße Grille oder, wie seine französischen Landsleute in ihrer empfindlichen Nationaleitelkeit gemeint haben, eine absichtliche Kränkung für sie, sondern der letzte, romantisch aufgehöhte Ausdruck seines tiefen Verwandtschaftsgefühls für das Land seiner mütterlichen Voreltern.
Gerade solche Feststellungen erhöhen das Vertrauen in Stendhals Darstellung seiner Kindheit. Trotz aller Abstriche und Fragezeichen bleibt sie ein menschliches Dokument ersten Ranges und oft die einzige Quelle seiner Lebensgeschichte, und als solche benutzt sie auch Chuquet unbedenklich – besonders da, wo Stendhal gegen sich selbst zeugt.
»Nicht aus Eitelkeit zu lügen«, ist in der Tat sein Grundsatz bei der Abfassung gewesen. Und der »ehrliche Egotismus«Das Wort »Egotismus« hat Stendhal wohl aus dem Englischen übernommen. Er gebraucht es im Gegensatz zum Egoismus, der gemeinen Selbstsucht, und meint damit seine egozentrische, individualistische Weltschauung. Näheres bei A. Schurig, »Das Leben eines Sonderlings«, S.378. erscheint ihm als ein gutes Mittel, »das menschliche Herz zu schildern, in dessen Erkenntnis wir seit Montesquieu Riesenfortschritte gemacht haben«. Tiefbohrende Psychologenneugier ist es, die ihn das eigene Herz mit Genuß und Staunen a nu studieren läßt, völlig jenseits von Gut und Böse, gewiß manchmal nicht ohne Zynismus, aber nicht aus Zynismus. Es »belustigt« ihn, »alle Schwächen des Tiers schonungslos aufzudecken, ohne sich Selbsttäuschungen hinzugeben«. Er setzt sich selbst oft genug ins Unrecht, wo ein anderer beschönigt, entschuldigt, gelogen hätte. Insofern gehört er, um mit Nietzsche zu sprechen, zum »Orden der heiligen Tollkühnheit«. Rousseaus Lebensbeichte schwebt ihm als Muster vor, aber er nimmt sich vor, freimütiger und ohne Rousseaus Schwulst zu schreiben, und ebenso vermeidet er Rousseaus rührseliges Tugendgeschwätz. Damit hat er Rousseaus »Rückkehr zur Natur« erst zu Ende gedacht. Hatte jener noch an die »ursprüngliche Güte der Menschennatur« geglaubt und die Laster als Ausgeburt der Kultur gebrandmarkt, so sieht Stendhals Psychologenauge die »ursprüngliche Bestie« durch allen Kulturfirnis hindurch und liebt sie just wegen ihrer amoralischen Energie und Natürlichkeit.
Er war einer der ersten, die das Entkräftende, Lebensfeindliche der Moral, die Mittelmäßigkeit und Unselbständigkeit der »zivilisierten Menschheit« erkannten. Und darum liebte er die »rauhen Sitten« des italienischen Mittelalters und der Renaissance, weil sie die Tatkraft und Selbständigkeit des Menschen erhöhten, liebte er die Energie in all ihren Erscheinungsformen, auch im Denken, auch in den Künsten. Seine »Geschichte der italienischen Malerei« bezeichnete er als eine »Geschichte der Energie in Italien«, und ebenso bildet die Bewunderung der Kraft den Grundzug seiner Romanfiguren.
Die Kehrseite dieser Auffassung ist freilich seine moralische Vereinsamung, seine Auffassung des Lebens als einer »Wüste des Egoismus«, die er doch nur selbst um sich geschaffen hat, sein Unverstand für soziale Bindungen und Institutionen, für Familie, Gesellschaft, Religion und Sitte, sein theoretischer Anarchismus. In dieser Einseitigkeit liegt seine Beschränkung, aber auch seine Kraft. Er hat einmal launig den Vergleich gezogen, daß er nur die eine Hälfte einer Orange sähe, seine Zeitgenossen dagegen die andere. Und so konnte es denn nicht ausbleiben, daß er die berufenen Hüter der Moral gegen sich aufgebracht hat und daß sie in ihren Biographien streng mit ihm ins Gericht gegangen sind. Sie haben ihn des Zynismus, der Unmoral, der Selbstsucht, der maßlosen Eitelkeit bezichtigt oder ihn als einen romantisch Erkrankten, einen »höheren Entarteten« hingestellt, dessen amoralische Sittenlehre entsittlichend wirke und daher abzulehnen und zu bekämpfen sei. Für die Vorzüge seiner ungeschminkten Darstellung dagegen, ihre hohe psychologische Bedeutung sind diese Kritiker blind gewesen. Und sie haben noch eins vergessen: Stendhal, dessen Mißtrauen so ausgeprägt war, hat seinen Lesern bisweilen auch das Mißtrauen gegen seine eigenen Ansichten gepredigt. Nicht Nachbeter wünschte er sich, sondern scharfkantige Persönlichkeiten wie er selbst, die in allen Dingen ihre eigene Wahrheit suchen, für die Widerspruch keine unfruchtbare Negation, sondern eine fruchtbare Anregung ist. So wird Stendhal bei aller Kühnheit, ja verletzender Schärfe seiner Gedanken ein Erzieher zur Persönlichkeit und nicht eine »Gefahr«, wenn man nur selbst sein eignes Zentrum besitzt. Auch wenn man ihm nichts aufs Wort glaubt und alles, was er sagt, gründlich prüft, wie er selbst es wünschte, wird man in Probleme hineingeführt, deren Ergründung unbedingt ein Gewinn ist. Darin liegt der Wert und die Bedeutung jeder eigengesetzlichen Seele, die ihre selbstgeschaffene Welt besitzt.
Für solche Geister, für die happy few (die wenigen Glücklichen), denen er herausfordernd seine Bücher widmete, hat er allein geschrieben. Und ebenso wie er sich die Feindschaft jener andern zugezogen, hat er die Anerkennung, ja Bewunderung der freien Geister gefunden, die sich ihm verwandt fühlten, wie Goethe, Hippolyte Taine, Paul Bourget, Jakob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Hermann Grimm, Paul Heyse, Wilhelm Weigand und viele andere ... Gewiß wird nicht jedem Leser alles in dieser Lebensbeichte zusagen. Manchen wird seine »freie und freche Art« verletzen, die GoetheBrief an Zelter vom 18. März 1818. schon bei seinem ersten selbständigen Werk, der »Reise in Italien«, fand, aber er wird auch mit Goethe fortfahren: »Er zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so kann man ihn nicht loswerden.«
Die Darstellung dieser Lebensbeichte springt regellos und unter Wiederholungen von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, von Thema zu Thema, ganz wie der Zufall des Selbstgespräches es fügt. Und doch ist dieser skizzenhafte Zustand nicht zu beklagen. Er ist zunächst, wie schon gesagt, eine Gewähr für die subjektive Ehrlichkeit des Schreibers. »Vielleicht, wenn ich diesen Entwurf gar nicht durchfeile, gelingt es mir, nicht aus Eitelkeit zu lügen«, sagt er selbst. In der Tat hat er ihn nicht mehr durchgefeilt, beschönigt, retouchiert. Und ein zweiter Vorteil: durch das fortwährende Hin- und Herspringen erfahren wir manches aus anderen Lebensabschnitten Stendhals, was bei streng chronologischer Durchführung nie geschrieben worden wäre – lauter Bruchstücke oder Mosaiksteine seines Lebensbildes, die wir sonst nicht besäßen und die der geduldige Leser als solche zu benutzen wissen wird. So tief es zu beklagen ist, daß seine beiden großen autobiographischen Fragmente nicht weiter gediehen sind, so bietet doch gerade die Sprunghaftigkeit ihrer Darstellung wertvolle Bestandteile zur Ergänzung klaffender Lücken seiner Lebensgeschichte.
Für das zweite große Bruchstück, die »Souvenirs d'Egotisme«, gilt das gleiche wie für »Das Leben des Henri Brulard«, nur mit dem Unterschiede, daß dort der zeitliche Abstand zwischen Erlebnis und Niederschrift kaum ein Dutzend Jahre beträgt und daher Verschiebungen der Perspektive und Gedächtnisfehler weit geringer sind als in der Darstellung der fernliegenden Kindheit.
Außer den über beide Fragmente verstreuten Bruchstücken anderer Lebensphasen bieten sich noch zahlreiche andere Dokumente als Ergänzung und teils auch als Kontrolle und Berichtigung dar:
1. die zahlreichen Briefe, insbesondere die ehrlichen Freundesbriefe, die in Band 8 in Auswahl veröffentlicht werden;
2. die zwei selbstverfaßten Nachrufe am Schluß dieses Bandes, die trotz einzelner Aufschneidereien (wie die Teilnahme an der Schlacht bei Jena) manche wertvolle Aufschlüsse bieten;
3. die Testamente, deren wichtigste aus »den Zeiten innerer und äußerer Krisen, wirtschaftlicher Nöte und Lebensüberdrusses, Selbstmordgedanken und Todesgefühle ebenfalls am Schluß dieses Bandes wiedergegeben sind; 4. die Schilderungen von Zeitgenossen, von denen die seines Freundes Prosper Mérimée, die sich auf sein Leben und Schaffen in Paris seit 1822 bezieht, und die des Elsässers Ludwig Spach, der ihn nach 1831 in Rom kennen gelernt hat, im Anhang dieses Buches wiedergegeben sind (Strombecks kurzer Bericht weiter oben auf S.XII);
5. seine zahlreichen Tagebücher, die in diesem Band auszugsweise wiedergegeben sind.
Diese Tagebücher sind die wichtigste Quelle für Beyles Leben, denn sie zeigen uns Tag für Tag das Werden seiner Seele, das Aufkeimen, den Höhepunkt und den Abklang seiner Leidenschaften, die bedeutsamsten äußeren Erlebnisse wie seine innersten Wünsche, seine geheimsten Nöte und Gedanken, alles in unmittelbarer, durch keine rückschauende Perspektive verschobener Gegenständlichkeit.
Allerdings sind auch sie keine »Schlüssel für alles«. So erwähnt das erste italienische Tagebuch des Jünglings von 1801-02, das älteste erhaltene, mit keinem Wort seine schwärmerische Liebe zu Angela Pietragrua, die wir erst aus seinem italienischen Tagebuch von 1811 erfahren. So verrät das Braunschweiger Tagebuch nichts von seiner liebevollen Versenkung in die deutsche Musik, die wir aus späteren Aufzeichnungen entnehmen müssen.
Um so breiter fließt das erste Pariser Tagebuch und das seiner Italienreise von 1811 dahin. Während das erste italienische Tagebuch von 1801-02 fast nur dokumentarischen Wert besitzt und in seiner Notizenhaftigkeit höchstens die altkluge Frühreife des eigenartigen jungen Offiziers verrät, ist das erste Pariser Tagebuch die eigentliche Fundgrube für Stendhals eigenwillige Selbstausbildung. Deren Gesamtergebnis erscheint freilich negativ, insofern nichts von dem, was Stendhal sich damals vornahm und anfing – seine dramatischen Versuche, seine Deklamations- und Musikstunden, seine Träume von einer »goldenen« Zukunft als Bankier – zu irgendeinem praktischen Ergebnis geführt haben. Seine wahre Begabung lag auf einem ganz andern Gebiet und sollte sich erst viel später entwickeln. Insofern war diese Pariser Studienzeit nur eine negative Orientierung. Wir kennen ähnliche Irrwege des Genies bei Goethe, der sich bis in die Zeit seiner »Italienischen Reise« hinein zum bildenden Künstler berufen fühlte. Aber wie für Goethe, so waren auch für Stendhal diese Tastversuche keineswegs umsonst. Seine Bekanntschaft mit Bühne, Musik und Theaterwelt sollte ihm später als Kunstkritiker und Ästhetiker mittelbar zugute kommen. Und wenn er auch niemals eine Komödie beendet hat und seine nachgelassenen Lustspielfragmente durchaus mittelmäßig sind, so hat er doch seinen Stil nach eigenem Geständnis an der Komödie geformt: nüchtern und ironisch überlegen.
Nur ganz allmählich bildete sich seine wahre Begabung inmitten dieser dilettantischen Irrwege aus. Er hielt denn auch selbst nichts von Wunderkindern mit frühreifer Begabung. »Ach, nichts läßt das Genie ahnen, es sei denn die Widerspenstigkeit!« ruft er im »Henri Brulard« aus. Trotzdem war diese Pariser Zeit keineswegs nur mittelbar von Wert für seine Entwicklung. Instinktiv schloß er sich an die von der Revolution jäh verschüttete Geisteskultur des ancien régime an, studierte Montesquieu und Helvétius, versenkte sich in die Memoiren und Briefwechsel der Aufklärungszeit, schon hier als Psychologe forschend, noch mehr aber in die Nachblüte der materialistischen Rokokophilosophie. Cabanis': »Rapports du physique et du moral« wurde seine »Bibel«, und Destutt de Tracy, der Verfasser der »Idéologie«, erschien ihm später als der einzige, der ihn hätte umlernen lassen. In der Tat war sein eigenes späteres Werk »Über die Liebe« solch ein »Livre d'idéologie«, das seine erste Anregung aus de Tracy schöpfte,S. Band 4 dieser Ausgabe, Vorwort zur 2. Aufl. (1923). und zugleich eine Untersuchung über die »Beziehungen zwischen Seele und Leib«. Einige Aphorismen dieses Buches werden sogar bereits in seinem Pariser Tagebuch vorweggenommen.S. Seite 231. Diese Aufzeichnungen sind allerdings teils nur Lesefrüchte, wie Paul Arbelet in seiner Veröffentlichung › Le catéchisme d'un roué‹ Auch in der »Geschichte der italienischen Malerei« sahen wir ihn einen Gedanken von Montesquieu und Cabanis, den von der beherrschenden Macht des Klimas und des Milieus, auf einen konkreten Fall anwenden und so Taines berühmte Milieulehre vorwegnehmen. Die Wurzeln zu alledem liegen in seinen Pariser Studienjahren. Die klare Verstandeskultur der französischen Aufklärungszeit formte damals seinen Geist, wie später der leidenschaftliche Individualismus der italienischen Renaissance und des zeitgenössischen Italiens sein Gefühls- und Geschmacksleben gebildet hat.
In diesem Sinne ist das Tagebuch seiner Italienreise von 1811 ebenso grundlegend wie das erste Pariser Tagebuch. Es steht zu seiner »Reise in Italien« (1817) in dem gleichen Verhältnis wie Goethes italienisches Reisetagebuch zu dessen späterer »Italienischen Reise«. Es ist nicht nur deren erste Skizze, sondern es ergänzt sie auch in allem Persönlichen, dort Verschwiegenen, in seinen Herzenserlebnissen. Und es enthält ferner den ersten Keim seiner »Geschichte der Malerei«. Allerdings sinkt dies Tagebuch im Verlauf der Reise zum Notizbuch herab, weil der Reisende sich schließlich nur noch in Stunden der Erschöpfung, wo er zu nichts anderm mehr fähig ist, kurze Aufzeichnungen macht, und zweitens, weil er glückliche Stunden durch ihre Beschreibung zu entweihen fürchtet. Der Gedanke: »Das Glück beschreiben, heißt es verderben«, taucht bereits im ersten Pariser Tagebuch auf und kehrt zum Schaden seiner Aufzeichnungen immer wieder. So bilden seine Tagebücher oft nur das Gerippe seines Lebens und es bleibt der Phantasie des Lesers überlassen, sie mit Blut und Leben zu erfüllen. Aber selbst in diesem Zustand sind sie von hohem Wert.
Ein anderer Mangel dieser Tagebuchaufzeichnungen ist ihre Geheimniskrämerei. Aus Sorge, sich oder andere bloßzustellen, falls seine Herzensbeichten in falsche Hände gerieten, später auch aus Angst vor der Polizei, die ihn, wie der Anhang (Nr. 4) zeigt, ja auch tatsächlich
(Revue bleue, 19. Juni 1909) nachgewiesen hat, die mir leider erst nach Drucklegung dieses Bandes zu Hände gekommen ist. Aber auch als solche behalten sie dokumentarischen Wert für die Geistesrichtung des Jünglings. bespitzelt, verfolgt und ausgewiesen hat, deutete er Personennamen oft nur an, belegte namentlich seine Geliebten mit allerlei Decknamen, die das Verständnis der Texte äußerst erschweren, ja teils unmöglich machen, und verbarg sich selbst hinter allerlei Masken.
Den gleichen Mummenschanz hat Stendhal auch in seinen beiden großen autobiographischen Fragmenten getrieben, und so gilt das Obengesagte auch für sie. Aber nicht genug damit. Wie sein Geistesbruder Benjamin Constant, der einzige ebenbürtige Psychologe unter Beyles Zeitgenossen (wie sein autobiographischer Roman »Adolphe« beweist), sein Tagebuch in griechischen Lettern schrieb, verschanzte Beyle sich hinter seiner schlechten Handschrift, die »Indiskrete abschreckt«, wie er mit Genugtuung sagt. Und um die Polizei vollends irrezuführen, treibt er auch noch ein Versteckspiel mit Worten, besonders mit gefährlichen Worten. So schreibt er statt Religion gionreli, statt prêtre (Priester) repet, statt Rom Omar oder Mero, statt Mailand (Milan) 1000 ans, statt Republikaner Kainsrepubli; statt Gott und König gebraucht er englische Vokabeln. Selbst sein Lebensalter geheimist er in Rechenexempel hinein, wie 25 X ¼ 3 (53 Jahre) oder 5² X 2 1/;9 – lauter Anagramme, die ernster Prüfung freilich nicht standhalten, aber oberflächliche »Spione« abschrecken mochten. Jedenfalls verraten sie seine fast krankhaft gesteigerte Geheimniskrämerei und Furcht vor der Polizei, die freilich nach den Verfolgungen durch die Metternichsche Polizei, die auch in Rom weitergingen,S. Nr. 4 im Anhang. durchaus nicht unbegründet war, aber doch bisweilen groteske Formen annahm, so wenn er auf jeden der drei Handschriftenbände seiner Jugendbiographie noch eine besondere Erklärung »für die Herren von der Polizei« setzt, wie: »Dies ist ein Roman im Stil des Landpredigers von Wakefield. Der Held, Henri Brulard, schreibt sein Leben mit 52 Jahren, nach dem Tode seiner Frau, der berühmten Charlotte Corday(!).« Allerdings vergißt er dabei, daß er der Polizei sein Alter hatte verheimlichen wollen. Solche kleine Schrullen, die der Wiedergabe nicht wert scheinen, enthüllen uns doch eine Seite von Beyles eigenartigem Charakter, und eine andere zeigt sich uns in den beiden klassischen Testamenten, die am Schluß des Fragments abgedruckt sind. In dem ersten bestimmt er, daß Exemplare derselben an die Bibliotheken von Edinburg, Philadelphia, Neuyork, Madrid, Mexiko und Braunschweig geschickt werden, und im zweiten vererbt er die Handschrift einer ganzen Reihe Pariser Verleger, und falls diese kein Interesse dafür haben, dem ältesten Londoner Verleger, dessen Namen mit einem C anfängt ... Selbst in dieser grotesken Form verrät sich Beyles brennende Sorge um seinen Nachruhm, den er sich an Stelle des ihm versagten und teils mutwillig von ihm verscherzten Tagesruhmes erhofft. Das Unterirdische, Scheue, Rebellische eines neuen Menschentypus kommt in solchen Bestimmungen ebenso zum Ausdruck wie in seiner heute bewahrheiteten Prophezeiung: »Ich werde erst um 1900 gelesen werden.« Er schreibt mit Bewußtheit für die Zukunft, wendet sich an Leser, deren Geistesart er nicht kennt, malt sich mit geheimer Freude aus, wie sie seine Lebensbeichte aufnehmen werden, und lebt als Toter unter noch nicht Geborenen, während er vor den Zeitgenossen den Schlüssel seines Wesens versteckt. Wahrlich »Memoiren von jenseits des Grabes«, wie Chateaubriand seine schon bei Lebzeiten veröffentlichten Denkwürdigkeiten nennt, und zutreffender für Beyles Fragment, das tatsächlich erst lange jenseits des Grabes ein immer steigendes Interesse erweckt hat, während Chateaubriands »Mémoires d'outre-tombe« längst der Literaturgeschichte verfallen sind.
Als Beyle seine beiden großen autobiographischen Fragmente schrieb, hatten seine Tagebuchaufzeichnungen längst fast ganz aufgehört. In diesen Fragmenten erscheint er als rückblickender Geschichtschreiber seines eigenen Lebens, der sich selbst historisch geworden ist und dessen Urteil über Menschen und Dinge feststeht. Der Eindruck des Augenblicks, das Erlebnis ist nicht mehr mächtig genug, um sich in Tagebüchern zu entladen, und seine Vergangenheit erscheint dem alternden Manne wichtiger als sein gegenwärtiges Sein. Trotzdem wäre es falsch, ihn für geistig erstarrt zu halten. »Ich brauche täglich drei bis vier Kubikfuß neuer Ideen, wie ein Dampfschiff Kohlen braucht«, schreibt er damals aus Italien. Aber diese Ideen wirft er nicht mehr in Tagebuchform hin, sondern er verarbeitet sie schon seit 1817 in seine Werke hinein oder bringt sie in seinen Briefen zum Ausdruck. So werden diese Werke und Briefe zur letzten Quelle seines Lebensromans, und das Biographische mündet schließlich in seine Schöpfungen aus.
Vergleicht man z. B. seine beiden großen Autobiographien mit »Rot und Schwarz«, so wird man darin tausend kleine Züge aus seinen persönlichsten Erinnerungen wiederfinden, wie ich dies in der Vorrede zu »Rot und Schwarz« bereits ausgeführt habe. Insofern ist Stendhal einer der ersten, bewußt nach Modellen arbeitenden Naturalisten, den der französische Naturalismus (Zola) zu seinem Ahnherrn erklärt hat, nur daß er seinen Personen oft mehr Geist gibt, als seine Modelle, besitzen und sie psychologisch in einer Weise vertieft, die dem konsequenten Naturalismus ganz fern lag, weswegen ihn wiederum die französische Psychologenschule (Paul Bourget) zu ihrem Ahnherrn erklärt hat. Ebenso zahlreiche Fäden aber spannen sich zwischen Beyles persönlichen Aufzeichnungen und Erlebnissen und seiner »Kartause von Parma«, so vor allem die höchst naturalistische und originelle Schilderung der Schlacht bei Waterloo, zu der offenbar sein Tagebuch der Schlacht bei Bautzen (in diesem Bande) die Eindrücke geliefert hat. Gestalten seiner Jugendliebe, wie die holde Clelia Conti, deren Urbild Mathilde Dembowska ist, die Herzogin von Sanseverina, zu der die »erhabene Dirne« Angela Pietragrua Modell gestanden hat, selbst Mathildes ihm verhaßte Kusine, Frau Traversi, in dem Roman Signora Raversi, tauchen wieder auf, daneben seine zahlreichen Erfahrungen mit dem Kleinstaatdespotismus in Oberitalien nach Napoleons Sturz, die sich in den (im Anhang Nr. 4) abgedruckten Wiener Polizeiakten spiegeln. Es würde zu weit führen, allen diesen Parallelen hier nachzugehen; sie sind in der Einleitung zur »Kartause von Parma« weiter verfolgt, und der gründliche Leser wird sie selbständig weiterspinnen. Hier handelte es sich nur darum, auf den Zusammenhang mit seinen persönlichen Auszeichnungen hinzudeuten.
Über die Testamente seien noch ein paar Worte hinzugefügt, da sie in ihrer geschäftlichen Kürze der Ergänzung bedürfen. Die erste Gruppe (1-3) fällt in die letzten Monate des Jahres 1828. Was hatte zu dieser Krisis geführt, in der Stendhal offenbar mit Selbstmordgedanken spielte, wie die Worte der Entschuldigung an seinen Vetter Colomb »für all die Ungelegenheiten, die ihm dies bereiten wird« beweisen? Mit dem Jahre 1826 hatte eine neue Reihe von Schicksalsschlägen begonnen, ähnlich der Krisis von 1819 bis 1821, die mit dem Tod seines Vaters begann, der bei Beyle jede Hoffnung auf das erwartete Erbteil vernichtete, und die mit seiner Verdächtigung als Karbonaro, dem Bruch mit Mathilde und dem Abschied von seinem geliebten Mailand endete. Die Krisis von 1826 begann damit, daß ihn Menta (Gräfin Curial) verließ. Im folgenden Jahre erschien sein erster Roman »Armance«, der ein völliger Mißerfolg war und wegen des heiklen Stoffes als »Werk eines Mannes von schlechtem Ton« verurteilt wurde. Im Juli 1828 machte der englische Verleger Colburn bankrott, für dessen »New Monthly Review« Stendhal zahlreiche Beiträge geliefert hatte, so daß auch diese Einnahmequelle versiegte. Umsonst versuchten Colomb und Crozet, irgendeine Anstellung für ihn durchzusetzen. Er sollte an der Königlichen Bibliothek angestellt werden, gewiß ein geeigneter Posten für ihn, und Beyle hätte trotz seines oft betonten Widerwillens gegen die Bourbonen zugegriffen, wie ein Ertrinkender nach einem Rettungsseil, aber man wollte keinen »Wolf im Schafstall« haben, und so zerrann auch diese Hoffnung. Wie zum Hohn erhielt er darauf noch einen Titularposten ohne Gehalt beim Heroldsamt, der aber mit der Zeit weiter hätte führen können. Doch das gegenwärtige Bedürfnis war dringend, und Beyle, der alte Jakobiner, hielt es unter seiner Würde, im Heroldsamt zu erscheinen ... Nun blieb nur noch die Hoffnung auf einen kleinen buchhändlerischen Erfolg. Seit Juli 1828 hatte der treue Colomb seinen Vetter zur Ausarbeitung seiner »Wanderungen in Rom« bestimmt und arbeitete selbst mit ihm bis zum März 1829 unausgesetzt daran.S. Band 6 dieser Ausgabe, Einleitung, S. VIII. Dies hochherzige Benehmen Colombs half Beyle über die Krisis hinweg, und als das Buch sich der Vollendung näherte, ging Mareste auf die Verlegerjagd. Mitte März 1829 wurde es für bare 1500 Franken verkauft, aber es war doch wenigstens ein Lichtstrahl, der Beyle zur Vollendung einer ebenfalls schon begonnenen zweiten großen Arbeit, des Romans »Rot und Schwarz«, ermutigte, mit dem er sich seinen Weltschmerz und Ingrimm ganz von der Seele schrieb. Das Werk erschien im Druck erst nach der Julirevolution, die den darin gegeißelten Zuständen ein jähes Ende bereitete und die Beyles Leben noch einmal aufhellte.
Durch Vermittlung einflußreicher Freunde wurde er von der Regierung Louis Philippes zum französischen Konsul in Triest ernannt, und als Metternich dem Verfasser »gottloser«, »liberaler« Schriften (s. Anhang, Nr. 4) das Exequatur verweigerte, zum Konsul in dem Hafenstädtchen Civitavecchia im Kirchenstaat. Dies »afrikanische« Fiebernest wurde für ihn also zum rettenden Hafen, wo er wenigstens auf seine alten Tage vor Nahrungssorgen geschützt war, aber das Fieberklima und körperliche Gebrechen,»Ich friere an den Beinen, habe etwas Kolik und bin schläfrig«, lautet eine seiner Randglossen bei der Niederschrift des »Henri Brulard« (27. Dezember 1835). »Die Kälte und der Kaffeegenuß am 24. Dezember sind mir auf die Nerven gegangen. Wie soll ich da erst die Kälte in Paris ertragen?« Gicht und Nierengrieß, und nicht minder der Mangel einer geistig ebenbürtigen Gesellschaft drückten ihn nieder. Auch häufige Aufenthalte in Rom, wo er sich eine zweite Wohnung eingerichtet hatte und monatelang »residierte«, bildeten keinen Ersatz für die geistreiche Unterhaltung der Pariser Salons, die ihm zum Lebensbedürfnis geworden war. So ward ihm das Schreiben zum Trost und zur Zerstreuung, aber die Last der »offiziellen Kette« hielt ihn von größeren Phantasieschöpfungen ab, und er fühlte doch, daß er der Welt noch manches zu sagen hatte, bevor die »Zauberlaterne« seiner Phantasie erlosch. Nur die einsamen Nachmittags- und Abendstunden hatte er für sich frei, und in ihnen entstanden neben einigen seiner italienischen Novellen die beiden großen autobiographischen Fragmente, die »Werke strenger Selbstprüfung«, in denen er die Summe seines Lebens zog, und daneben, in Stunden der Schwermut, der Todesahnung oder gar des Spleens, eine Reihe von Testamenten (Nr. 4-7). Wie fein und vornehm er in ihnen seinem Gönner, dem Grafen Molé, gedankt hat, indem er ihm seine einzige Kostbarkeit, die eben erst erworbene Tiberiusbüste, vermachte, darauf sei hier nur zart hingedeutet.
Das eben gefallene Wort »Spleen« ist nicht übertrieben. Seine Gemütsdepressionen drücken sich nicht nur in verzweifelten Briefen aus, sondern auch in Testamenten wie das zweite, am Schluß des »Henri Brulard« (S. 209) abgedruckte, das geradezu auf Geistesverwirrung schließen läßt, oder gar in dem tragikomischen Wunsche des alternden Don Juans nach Weib und Kind und in dem 1835 gefaßten Entschluß, eine Ehe weit unter seinem Stande und noch mehr unter seinem geistigen Niveau einzugehen, was zum Glück vereitelt wurde, weil der Oheim der Braut, ein Mönch, an seiner Gottlosigkeit Anstoß nahm.»Soirées du Stendal-Club«, 331 ff. In solchen Seelenstimmungen sind die Testamente von 1835 bis 1836 entstanden. Besonders bedeutsam darin ist die Bestimmung, auf dem protestantischen Friedhof in Rom begraben zu werden. Der alte Freigeist, obwohl katholisch getauft und erzogen, wollte durch diese Bestimmung und sein Bekenntnis zur »Augsburger Konfession« verhüten, daß er als Diplomat auf einem katholischen Kirchhof bestattet würde.
In solchen Gemütsstimmungen tauchte der alte Jugendtraum, in Paris zu leben und Bücher zu schreiben, mit erneuter Macht wieder auf. Beyle sehnte sich nach seinem Dachstübchen in der Rue Richelieu zurück, wo er, wie er jetzt glaubte, hundertmal glücklicher gewesen war. Dieser Wunsch sollte 1836 in Erfüllung gehen – zu seinem Glück wie zu dem der Weltliteratur. Er erhielt einen dreijährigen Urlaub nach Paris, wo sein unsterblicher Roman »Die Kartause von Parma« und seine Reisebilder aus Südfrankreich»Mémoires d'un touriste« (1838). entstanden. In diese Zeit fallen auch die Testamente Nr. 8 und 9 sowie die »Mitternachtsträumerei in Montpellier« (1838), die bereits den geistigen und körperlichen Abstieg und den häufigen Gedanken an das Ende seiner Lebensbahn verraten.
Am selben Tage, wo Beyle die »Kartause von Parma« beendete, erfolgte der Sturz seines Gönners, des Grafen Molé (22. März 1839), ein schicksalsvolles Zusammentreffen, das ihn (im Juni) zur Rückkehr nach Civitavecchia nötigte. Aus diesem letzten kummervollen Aufenthalt stammt sein letztes, tatsächlich ausgeführtes Testament, worin er sich nochmals als Sohn seines geliebten Mailand erklärt. Die Migräne, die ihn plagte, war ein Vorbote des Schlaganfalls, der ihn am 15. März 1841 »das Nichts streifen« ließ. Alt und gebrochen kehrte er am 8. November nach Paris zurück, wo ihn am 22. März 1842 ein neuer Schlaganfall auf der Straße niederwarf, an demselben Tage, an dem dieser große Verpasser guter Gelegenheiten einen vorteilhaften Vertrag mit der »Revue des deux Mondes« zur Veröffentlichung neuer italienischer Novellen abgeschlossen hatte.Sie sind, soweit vollendet, 1912 von mir ans Licht gezogen worden. Vgl. Band IV dieser Ausgabe. Ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, starb er am 23. März 1842. Sein treuer Vetter und Testamentsvollstrecker Romain Colomb, sein Freund Mérimée und ein Dritter, Unbekannter, wahrscheinlich ein Diener, waren die einzigen, die ihm das letzte Geleit zum Montmartre- Friedhof gaben. Der Nachlaß dieses großen Schriftstellers, der seinem Lande und der Welt eine lange Reihe bedeutender und teils unsterblicher Werke hinterließ, ergab einen Gesamterlös von etwas über 3800 Franken.
Angesichts dieses Endes sentimental zu werden, wäre nicht im Geiste Beyle-Stendhals. Auf ihn passen die Worte, die Edmond Rostand seinem Cyrano von Bergerac nachruft, dessen Leben und Tod den Vergleich mit Stendhal herausfordert:
... Il a vécu sans pactes,
Libre dans ses pensées autant que dans ses actes.
Nur durch seine eigenwillige Sorglosigkeit, seine Verachtung jedes Tagesruhms konnte er zu jener scharfkantigen Persönlichkeit, jenem tiefbohrenden Psychologen werden, als den ihn die Nachwelt bewundert hat.
Die bis auf Arbelets Ausgabe des »Journal d'Italie« kärglichen oder gänzlich fehlenden Anmerkungen der französischen Texte sind in der vorliegenden Verdeutschung so reichlich vermehrt worden, als es das Verständnis des modernen deutschen Lesers zu erfordern schien. Angaben über Personen und Bücher sind meist bei der ersten Nennung des Namens oder Buchtitels erfolgt, in einzelnen Fällen erst dort, wo Stendhal näher auf sie eingeht. Jedenfalls sind sie an der Hand des Namenverzeichnis (am Schluß des Bandes) leicht aufzufinden. Für die Daten der Familiengeschichte ist im Anhang (Nr. 1) ein Stammbaum der Familien Beyle und Gagnon gegeben, um zahlreiche Anmerkungen sowie die Berichtigung chronologischer Fehler und anderer Irrtümer Stendhals zu ersparen. Kleine Erinnerungsfehler sind im Text selbst stillschweigend verbessert. Zu Stendhals Entschuldigung muß jedoch hinzugefügt werden, daß er diese Jugenderinnerungen als Fünfziger fern der Heimat und ohne die Möglichkeit, Urkunden einzusehen, die erst die neuste Forschung ans Licht gezogen hat, aus dem Gedächtnis niederschrieb. Trotzdem sind seine Irrtümer im ganzen unerheblich. Wer sich ausführlich mit den Daten seiner Jugendgeschichte bis 1802 beschäftigen will, wird mit Nutzen das schon genannte gediegene Werk Paul Arbelets »La Jeunesse de Stendhal« lesen, das erschöpfendes archivalisches Material bietet.
Zum Schluß habe ich noch eine Dankespflicht abzutragen. Herr Archivrat Dr. Paul Zimmermann in Wolffenbüttel hatte die Güte, die Korrekturen des »Braunschweiger Tagebuches« mitzulesen und sie durch wertvolle Anmerkungen zu ergänzen. Ihm ist auch das schwer auffindbare Bildnis von Beyles Jugendfreund Frhr. v. Strombeck zu verdanken. Ferner hat der verdienstvolle Stendhalforscher Dr. Arthur Schurig in Dresden die Güte gehabt, einen großen Teil der Korrekturen dieses Bandes mitzulesen und ihn durch Anmerkungen aus seiner reichen Sachkenntnis zu vervollständigen. Beiden Herren sei auch an dieser Stelle für ihre wertvolle Unterstützung herzlich gedankt.
Berlin, Frühjahr 1923.