Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Mathematischer Wissensdurst

Rom, 24. bis 26. Januar 1836.

Ich liebte die Mathematik um so mehr, als ich meine Lehrer, Herrn Dupuy und Herrn Chabert, mehr verachtete. Trotz der hochtrabenden, weltmännischen und salbungsvollen Art, mit der Dupuy die Leute anredete, erriet ich doch, daß er weit unwissender war als Chabert, der in der sozialen Rangordnung des Grenobler Bürgertums weit unter Herrn Euler stand, aber am Sonntagmorgen bisweilen einen Band Euler vornahm und sich ehrlich mit den Schwierigkeiten herumschlug. Trotzdem machte er stets den Eindruck eines Apothekers, der gute Rezepte kennt, aber keine Ahnung hat, wie eins aus dem andern entsteht. In seinem Kopf war keine Logik, keine Philosophie; infolge seiner Erziehung oder aus Eitelkeit, vielleicht auch aus Frömmigkeit, haßte er selbst die Worte dafür.

Es ist nicht zu verwundern, daß ich nicht gleich auf eine Abhilfe kam. Niemand half mir; mein Großvater hatte eine Abneigung gegen die Mathematik, die einzige Lücke in seinem fast universellen Wissen. Und mein Vater verabscheute sie aus Frömmigkeit; etwas Nachsicht hatte er mit dieser Wissenschaft wohl nur deshalb, weil man daraus lernt, Pläne von Grundstücken aufzunehmen. Ich machte ihm denn auch immerfort Kopien der Pläne seiner Güter. In der Zentralschule waren allerdings fünf bis sechs mathematische Leuchten, die 1797 oder 1798 auf die Polytechnische Hochschule kamen, aber auf meine Zweifel ließen sie sich nicht ein. Vielleicht drückte ich mich nicht deutlich genug aus, oder meine Fragen setzten sie in Verlegenheit ...

Um ruhiger nachzudenken, setzte ich mich in den Salon meiner armen Mutter, der höchstens ein- bis zweimal im Jahre geöffnet wurde, um den Staub zu entfernen. Dies Zimmer gab mir innere Sammlung; ich hatte damals noch das Bild der hübschen Soupers vor Augen, die meine Mutter gegeben hatte. Schlag zehn Uhr ging die Tischgesellschaft aus dem lichterstrahlenden Salon in den schönen Speisesaal, wo ein riesiger Fisch angerichtet wurde. Das war der Luxus meines Vaters; dieser Trieb zeigte sich noch in seiner Frömmelei und in seinen landwirtschaftlichen Spekulationen, zu denen er herabgesunken war.

Meine Begeisterung für die Mathematik beruhte wohl vor allem auf meinem Abscheu gegen alle Heuchelei, deren Inbegriff für mich meine Tante Seraphie, Frau Vignon und ihre Pfaffen waren. In der Mathematik schien mir jede Heuchelei ausgeschlossen, und in meiner jugendlichen Einfalt wähnte ich, das gleiche sei bei allen Wissenschaften der Fall, auf die sie Anwendung findet. Wie wurde mir da zumute, als mir niemand einen algebraischen Grundsatz erklären konnte, nämlich, daß – x – =   ist. Aber was noch schlimmer war, statt mir diese Schwierigkeit zu erklären (denn sie ist gewiß erklärbar, weil sie zur Wahrheit führt), führte man Gründe ins Feld, die denen, welche sie mir angaben, offenbar selbst nicht recht klar waren.

Setzte ich Herrn Chabert zu, so wurde er verwirrt, sagte seine Aufgabe her, gegen die ich gerade meine Bedenken erhob, und sagte schließlich etwa: »Aber das ist so Brauch, jedermann läßt diese Erklärung gelten. Für Euler und Lagrange, die gewiß soviel verstanden wie Sie, genügte sie. Wir wissen ja, daß Sie viel Geist besitzen (das hieß: daß ich einen ersten Preis in der Literatur davongetragen und mit den Herren vom Departement geredet hatte), aber Sie wollen offenbar ein Eigenbrötler werden.«

Herr Dupuy schließlich begegnete meinen schüchternen Einwänden mit hochmütigem Lächeln. Obwohl weit weniger bewandert als Chabert, war er weniger spießbürgerlich und beschränkt und schätzte seine eigenen mathematischen Kenntnisse vielleicht richtig ein ...

Lange brauchte ich zu der Erkenntnis, daß mein Einwand gegen Minus mal Minus gleich Plus dem Herrn Chabert nicht in den Kopf wollte, daß Herr Dupuy mir immer nur mit hochmütigem Lächeln antwortete und daß die »hellen Köpfe«, denen ich Fragen stellte, sich über mich lustig machten. Von meinen Verwandten unter einer Glasglocke erzogen und bis zu meinem fünfzehnten Jahr ohne Berührung mit Menschen, hatte ich zwar lebhafte Empfindungen, war aber noch weit unfähiger als andre Knaben, die Menschen zu beurteilen und ihre verschiedenen Komödien zu durchschauen. So sagte ich mir denn schließlich, was ich mir noch heute sage: Minus mal Minus muß Plus ergeben, denn wenn man diesen Grundsatz beim Rechnen stets anwendet, gelangt man zu wahren und unanfechtbaren Resultaten ...

Wer ich fragte mich, ob die Herren Dupuy und Chabert nicht eben solche Heuchler wären wie die Priester, die bei meinem Großvater die Messe lasen, und ob meine geliebte Mathematik nicht nur ein Betrug sei. Ich wußte nicht, wie ich zur Wahrheit gelangen sollte. Wie begierig hätte ich jedes Wort über die Logik oder über die Kunst, die Wahrheit zu finden, aufgenommen! Das wäre der rechte Augenblick gewesen, mir de Tracys Logik zu erklären. Vielleicht wäre ich dann ein andrer geworden und hätte einen weit schärferen Verstand gehabt. Mit meinem armseligen Verstande schloß ich also, daß Herr Dupuy wohl ein Heuchler sein könne, daß aber Herr Chabert ein eitler Spießbürger sein müsse, der nicht einsehen könne, daß es Einwände gäbe, die er nicht erkenne.

Mein Vater und Großvater besaßen die Folioausgabe der »Enzyklopädie« von Diderot und d'Alembert, ein Werk im Werte von 700 bis 800 Franken. Es gehörte gewiß viel dazu, daß ein Provinzler ein solches Kapital in ein Buch steckte, woraus ich schließe, daß mein Vater wie mein Großvater vor meiner Geburt völlig zur Partei der Philosophen gehört hatten. Mein Vater sah es nur mit Verdruß, wenn ich in der »Enzyklopädie« blätterte. Ich aber setzte das größte Vertrauen darein, weil ich sah, daß mein Vater eine Abneigung dagegen hegte und daß die Priester, die im Hause verkehrten, einen Haß darauf hatten ... Ich schlug also d'Alemberts mathematische Artikel auf, aber ihr geckenhafter Ton, der Mangel jeder Verehrung für die Wahrheit stieß mich ab; zudem begriff ich wenig davon. Wie glühend verehrte ich damals die Wahrheit! Wie ehrlich war mein Glaube, sie sei die Königin der Welt, die ich betreten sollte! Ich sah keine andern Feinde der Wahrheit als die Priester.

War mein Kummer über Minus mal Minus gleich Plus aber schon groß gewesen, wie verdüsterte sich erst meine Seele, als ich die Statik von Louis Monge studierte, der die Aufnahmeprüfungen für die Polytechnische Hochschule leitete! Im Anfang der Geometrie hieß es dort: »Parallelen nennt man zwei Linien, die, unendlich verlängert, sich niemals berühren.« Am Anfang der Statik aber hieß es: »Wenn man zwei parallele Linien unendlich verlängert, so kann man annehmen, daß sie sich berühren.«

Ich glaubte, einen Katechismus zu lesen, noch dazu einen sehr ungeschickten. Umsonst bat ich Herrn Chabert um Aufklärung. »Lieber Junge,« sagte er mit jener väterlichen Miene, die dem Dauphineser Fuchs so schlecht ansteht, »das werden Sie später erfahren.« Dann trat er an seine Tafel, zog in geringem Abstand zwei Parallelen und sagte: »Sie sehen, man kann sagen, daß sie sich im Unendlichen berühren.« Ich war nahe daran, alles aufzugeben. Ein geschickter, scheinheiliger Jesuit hätte mich damals bekehren können, wenn er zu mir gesagt hätte:

»Du siehst, alles ist Irrtum. Oder vielmehr, nichts ist falsch und auch nichts wahr. Alles ist Übereinkunft. Nimm die Übereinkünfte hin, die dich in der Welt vorwärts bringen. Der Pöbel ist patriotisch und wird diese Seite der Frage stets besudeln. Werde also Aristokrat Wie deine Eltern, und wir werden Mittel und Wege finden, dich nach Paris zu schicken und dich einflußreichen Damen zu empfehlen.«

Hätte man mir das mit Beredsamkeit gesagt, ich wäre ein Schurke geworden und heute steinreich.


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