Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Schulunterricht

Rom, 16. bis 20. Januar 1836.

Alles, was ich bei Herrn Dubois-FontanelleT. G. Dubois-Fontanelle (1737-1812). Beyle tut diesem Lehrer Unrecht in seiner Darstellung. Er besaß einen weltliterarischen Horizont und machte seine Schüler mit den fremden Literaturen (u. a. Shakespeare) bekannt. Er war freisinnig genug, ihnen einen so freien Roman wie die »Liaisons dangereuses« von Choderlos de Laclos (s. S. 45), als den besten, seit lange geschriebenen Roman zu empfehlen. Vgl. Arbelet, »Jeunesse«, I, 260 ff. lernte, war in meinen Augen nur ein äußerliches und falsches Wissen. Ich hielt mich für ein Genie – wo zum Teufel hatte ich diesen Gedanken her? – und wollte in Molières oder Rousseaus Fußtapfen treten. Aufrichtig und ehrlich verachtete ich Voltaire; ich fand ihn kindisch. Ich schätzte aufrichtig Corneille, Ariost, Shakespeare, Cervantes und, was die Worte betraf, Molière. Nur fiel es mir schwer, sie in Einklang zu bringen. Im Grunde ist mein literarisches Schönheitsideal seit 1796 das gleiche geblieben; es vervollkommnet sich nur alle halbe Jahre oder es ändert sich etwas, wenn man will. Das ist die einzige Arbeit meines Lebens.

Alles Übrige war nur Brotverdienst im Verein mit etwas Eitelkeit, mein Brot so gut zu verdienen wie andre. Eine Ausnahme bildet nur meine Tätigkeit als Intendant in Braunschweig nach Martial Darus Fortgang. Hier reizte mich die Neuheit und wohl auch der Tadel, den Herr Daru dem Intendanten in Magdeburg aussprach.

Mein literarisches Schönheitsideal besteht weit mehr darin, die Werke der andern zu genießen und sie zu würdigen, über ihr Verdienst nachzugrübeln, als selbst zu schreiben. Wenn ich schreibe, denke ich nicht mehr an mein Schönheitsideal, sondern werde von Gedanken bestürmt, die ich aufschreiben muß. Ich denke mir, Herr Villemain wird von Satzformen bestürmt, und ein sogenannter Dichter, ein Delille, ein Racine, von Versformen. Corneille wurde von Antithesen bestürmt. Da also mein Schönheitsideal alle halbe Jahre wechselt, so kann ich nicht mehr sagen, welcher Art es um 1795 oder 1796 war, als ich ein Drama schrieb, dessen Titel ich vergessen habe. Die Hauptfigur hieß Picklar und war wohl aus Florian entlehnt. Das einzige, was ich deutlich erkenne, ist, daß mein Ideal seit sechsundvierzig Jahren darin besteht, in Paris im vierten Stockwerk zu wohnen und ein Drama oder ein Buch zu schreiben.

Die endlosen Kriechereien und die zähe Energie, die nötig ist, um ein Drama auf die Bühne zu bringen, haben mich wider Willen gehindert, ein Theaterstück zu schreiben; noch vor acht Tagen empfand ich bittre Reue darüber. Ich habe zwanzig Entwürfe gemacht, stets mit zuviel Einzelheiten und zu tief, zu unverständlich für das blöde Publikum, mit dem die Revolution von 1789 die Theater bevölkert hat. Als der Abbé Siéyès mit seiner unsterblichen Streitschrift »Qu'est-ce que le tiers-état?« den ersten Streich gegen die politische Aristokratie führte, hat er unwissentlich die literarische begründet.

Ich hatte also ein bestimmtes literarisches Ideal im Kopfe, als ich 1796 oder 1797 den Kursus des Herrn Dubois-Fontanelle durchmachte; es war sehr verschieden von dem seinen. Der Hauptzug dieser Verschiedenheit war meine Bewunderung für die schlichte, tragische Wahrheit Shakespeares im Gegensatz zu Voltaires kindischer Schwulst ... Wenn er Shakespeare tadelte, errötete ich innerlich. Aber ich lernte jene literarische Lehrmeinung um so besser, weil ich mich nicht für sie begeisterte. Es gehört zu meinem Unglück, daß ich denen, für die ich begeistert war, nicht gefiel (so Frau Pasta und Herrn de Tracy); offenbar liebte ich sie auf meine und nicht auf ihre Weise. Ebenso geht es mir oft bei der Darlegung einer Lehrmeinung, die ich anbete. Jemand widerspricht mir, die Tränen treten mir in die Augen, und ich kann nicht weiterreden. Wenn ich es wagte, ich riefe: »Ach, Sie durchbohren mir das Herz!« ...

Literarisch gesprochen, war mir der Kursus des Herrn Dubois (später in vier Bänden von seinem Enkel gedruckt)Dubois-Fontanelle, »Cours de belles lettres«, Paris 1813-20, 4 Bde. als allgemeine literarische Übersicht von Nutzen. Auch bewahrte er meine Phantasie davor, mir übertriebene Vorstellungen von den mir noch unbekannten Dichtern, wie Sophokles, Ossian usw. zu machen. Er förderte auch meine Eitelkeit, indem er die allgemeine Ansicht bestärkte, daß ich zu den sechs bis sieben klugen Köpfen der Schule gehörte.

Für Herrn Fontanelle war die Zeit, von der er mit Rührung sprach, die seiner Ankunft in Paris im Jahre 1750 gewesen. Alles schwärmte damals für Voltaire und seine unaufhörlich erscheinenden Werke. Mir machte das gar keinen Eindruck; ich verabscheute Voltaires Kindereien in seinen geschichtlichen Werken und seinen niedrigen Neid auf Corneille. Wie mir scheint, fühlte ich damals schon den pfäffischen Ton in seinem Kommentar zu der schönen, mit Stichen geschmückten Corneille-Ausgabe heraus, die in einem der obersten Fächer des verschlossenen Bibliotheksschranks meines Vaters in Claix stand, dessen Schlüssel ich mir stahl. Dort hatte ich, wie mir scheint, vor ein paar Jahren die »Neue Heloise« entdeckt und sicherlich später »Grandisson«,Roman in Briefform von S. Richardson (1753). den ich mit Tränen der Rührung in einer Dachstube im zweiten Stock des Hauses in Claix las, wo ich mich sicher fühlte.

Herr Jay,Louis Joseph Jay, Maler und Zeichenlehrer (1755-1836). dieser große Schönredner und unfähige Maler, besaß die ausgesprochene Gabe, unsere Herzen zum heftigsten Wettstreit zu entflammen, und das erscheint mir jetzt als das größte Talent eines Lehrers. Wie anders dachte ich 1796! Mein Kult galt dem Genie und der Begabung ... Ich war entzückt wie über die schwierigste und schönste Beförderung, als Herr Jay mitten im Jahre mit seiner majestätisch-väterlichen Miene zu mir sagte:

»Nun, Herr Beyle, nehmen Sie Ihre Zeichenblätter und gehen Sie in die Modellklasse.«

Die Anrede »Herr«, in Paris so häufig, war in Grenoble einem Knaben gegenüber ganz ungewöhnlich und verwunderte mich stets, wenn sie mir galt. Ich weiß nicht, ob ich diese Beförderung einem Fürwort meines Vaters oder meinen schönen, gleichlaufenden Strichen in der Zeichenklasse verdankte. Jedenfalls verwunderte sie mich und die andern. Ich kam also zu den zwölf bis dreizehn Modellzeichnern, und meine Zeichnungen in schwarzer und weißer Kreide nach den Köpfen der Niobe und des Demosthenes überraschten Herrn Jay, der mir nicht soviel Talent zutraute wie den andern. Er schien sich sogar darüber zu ärgern.

Bald bekam ich in der Klasse einen Preis.Er erhielt am 16. September 1797 nur eine ehrenvolle Erwähnung im Zeichnen und in der Mathematik. Den ersten Literaturpreis errang er erst am Schluß des folgenden Jahres. Der obenerwähnte Preis ist nicht nachweisbar: Beyle dürfte ihn während des Schuljahres erhalten haben. (Arbelet.) Wir waren unser zwei bis drei und mußten losen. Ich zog den »Versuch über Poesie und Malerei« vom Abbé Dubos,»Réflexions sur la Poésie et la Peinture«, Paris 1719, 2 Bde. Der Einfluß dieses Buches auf Stendhal war tief und nachhaltig. Vgl. Arbelet, »Jeunesse«, I, 304 ff., und »Histoire de l'histoire de la Peinture en Italie«. den ich mit lebhafter Freude las. Das Buch entsprach meinen mir selbst unbekannten Herzensempfindungen.


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