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Rom, 10. bis 13. Januar 1836.
Der strenge Rémy hätte es nur mit scheelen Blicken gesehen, wenn ich seiner Schwester den Hof machte. Bigillion gab mir das zu verstehen; es war das einzige, worin zwischen uns nicht volle Aufrichtigkeit herrschte. Oft, wenn ich gegen Abend nach dem Spaziergang Miene machte, zu Viktorine hinaufzusteigen, bekam ich ein kurzes Lebewohl zu hören, das mich sehr verdroß. Ich bedurfte der Freundschaft und der offenen Aussprache; mein Herz war zerfressen von all den Bosheiten, denen ich mich zu Recht oder Unrecht ausgesetzt geglaubt hatte.
Trotzdem muß ich gestehen, daß ich diese natürliche Unterhaltung weit lieber mit Viktorine als mit ihren Brüdern führte. Heute erkenne ich mein damaliges Empfinden. Es war mir schier unglaublich, das furchtbare Wesen, genannt Weib, so nahe zu sehen, noch dazu mit prächtigem Haar, einem zwar etwas mageren, aber köstlich gebildeten Arm und schließlich einem reizenden Busen, der bei großer Hitze oft nur halb verhüllt war. So saß ich an dem Nußbaumtisch, zwei Schritte von Viktorine, zwischen uns die Tischkante, und sprach wohlweislich nur mit den Brüdern. Deswegen aber hatte ich gar keine Liebesgelüste, ich war scolato (gebrannt), wie man auf italienisch sagt; ich hatte gelernt, daß die Liebe etwas Ernstes und Schreckliches ist. Ich fühlte sehr deutlich, ohne es mir zu sagen, daß meine Liebe zu Fräulein Kably mir alles in allem wohl mehr Pein als Lust bereitet hatte.
So harmlos aber mein Gefühl für Viktorine in Worten und selbst in Vorstellungen auch war, ich vergaß doch meinen Haß und vor allem den Wahn, daß ich gehaßt würde.
Rémys brüderliche Eifersucht schien sich übrigens nach einer Weile zu legen. Oder ging er für ein paar Monate nach Saint-Ismier? Vielleicht wurde er inne, daß ich sie nicht liebte, oder er hatte andre Dinge im Sinn; wir waren eben mit dreizehn bis vierzehn Jahren alle Politiker. Im Dauphiné aber ist man in diesem Alter sehr schlau; wir besitzen nicht die Sorglosigkeit des Pariser Jungen, und die Leidenschaften regen sich bei uns früh. Gewiß nur für Kleinigkeiten, aber schließlich hegen wir doch leidenschaftliche Wünsche ...
Ohne von unserer gegenseitigen Freundschaft zu sprechen, war ich so unklug, die Familie Bigillion eines Tages beim Nachtessen vor meinen Angehörigen zu erwähnen. Mein Leichtsinn wurde streng bestraft. Ich sah die ausdrucksvollsten Gebärden der Verachtung. »Ist nicht auch eine Tochter vorhanden? Jedenfalls eine Landpomeranze.« Nur undeutlich entsinne ich mich der Ausdrücke furchtbarer Mißachtung und der Mienen kalter Geringschätzung, die nun folgten. Behalten habe ich nur den brennenden Eindruck, den mir diese Verachtung machte. Mit der gleichen kalten, höhnischen Geringschätzung sprach gewiß der Baron des Adrets von meiner Mutter oder Tante. Obwohl die Meinigen nur Mediziner und Advokaten waren, fühlten sie sich doch fast als adlig; mein Vater hielt sich sogar für einen herabgekommenen Edelmann. Den Vater meiner Freunde verachteten sie als Ackerbürger und als Bruder des Gefängnisdirektors des Departements, einer Art von höherem Kerkermeister ...
Dieser Dünkel war eine Unterhaltung für meine Familie, die vor Langeweile umkam; ich aber hatte den Appetit verloren, als ich über meine Freunde derart reden hörte. Man fragte mich, was ich hätte. Ich log, ich hätte erst sehr spät gevespert. Die Lüge ist ja das einzige Hilfsmittel der Schwachen. Ich erstickte vor Wut auf mich selbst. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mit meinen Angehörigen von etwas zu reden, was mir naheging!
Diese Verachtung verwirrte mich tief – Viktorines wegen, wie ich jetzt einsehe. Also war es nicht ein schreckliches, so gefürchtetes, aber so ausschließlich angebetetes Wesen, nicht ein hübsches, standesgemäßes Mädchen, mit dem ich das Glück hatte, allabendlich fast vertraulich zu plaudern? Nach vier bis fünf Tagen trug Viktorine den Sieg davon. Ich fand sie liebenswürdiger und standesgemäßer als meine trübsinnige, verkümmerte, menschenscheue Familie, die niemand zum Essen einlud, nie in eine Gesellschaft ging, während Fräulein Bigillion bei Herrn Faure in Saint-Ismier und bei den Verwandten ihrer Mutter oft große Diners mitmachte.
Erst viele Jahre später erkannte ich, was damals in meinem Herzen vorging, und mangels eines besseren Wortes habe ich es Kristallbildung benannt ...In seinem Buch »Über die Liebe« (Bd. IV dieser Ausgabe). In einer Anmerkung sagt Stendhal: »Als ich um 1806 wieder mal nach Grenoble kam, sagte mir jemand, der Bescheid wußte, Viktorine sei verliebt. Ich war sehr eifersüchtig auf den Betreffenden und vermutete, es sei Felix Faure. Später erzählte mir jemand, sie hätte mit ihm von dem Manne gesprochen, den sie so lange geliebt habe, und dabei gesagt: ›Schön ist er wohl nicht, aber man wirft ihm nie seine Häßlichkeit vor. Er war der geistvollste und liebenswürdigste unter den jungen Leuten meiner Zeit.‹ ›Kurz,‹ setzte der Betreffende hinzu, ›Sie waren es.‹ Diese so glorreich ausgefallene Verachtung schuf eine neue Tatsache zwischen Fräulein Kably und meinem damaligen Zustand. Das war ein großer Schritt, obwohl ich es in meiner Unschuld nicht ahnte. Muß man doch zwischen sich und seinen Kummer neue Tatsachen legen, und wäre es ein Armbruch ...
Nach Seraphies Tod hätte ich mich aus Liebesbedürfnis mit meiner Familie wieder aussöhnen können. Dieser Zug von Hochmut stellte Viktorine zwischen mich und sie. Ich hätte es den Bigillions verziehen, wenn man ihnen ein Verbrechen nachsagte, aber Verachtung nicht! Mein Großvater hatte sie mit größter Grazie und daher größter Wirkung ausgedrückt.
Ich hütete mich wohl, meiner Familie von anderen Freundschaften zu erzählen, die ich damals schloß: mit Galle und La Bayette.
Galle war der Sohn einer Witwe und ihr ein und alles; der Vater war wohl ein alter Offizier gewesen. Dieser für mich so seltsame Anblick fesselte und rührte mich. »Ach!« sagte ich bei mir, »wenn doch meine arme Mutter noch lebte!« Hätte ich doch wenigstens Verwandte wie Frau Galle gehabt, wie hätte ich sie geliebt! Sie behandelte mich sehr respektvoll als Enkel des Herrn Gagnon, des Wohltäters der Armen, die er umsonst behandelte und denen er sogar ein Pfund Fleisch zur Kraftbrühe schenkte. Mein Vater war unbekannt.
Galle war blaß, mager, schmächtig und pockennarbig, übrigens von sehr kaltem, zurückhaltendem, bedachtem Wesen. Er war im Besitz eines kleinen väterlichen Erbteils und fühlte, daß er es nicht verlieren durfte. Er war schlicht, ehrlich und durchaus kein Aufschneider und Lügner. Ich glaube, er verließ Grenoble vor mir, um in Toulon zur Marine zu gehen.
Zur Marine wollte auch der liebenswürdige La Bayette, ein Neffe oder Verwandter des Konter- oder Vizeadmirals Morard de Galles. Er war ebenso liebenswürdig und vornehm, wie Galle achtbar war. Ich entsinne mich noch der reizenden Nachmittage, die wir im Fenster seines Stübchens verplauderten. Es lag im dritten Stock eines Hauses, das auf den neuen DepartementsplatzHeute Place de Gordes. ging. Ich teilte mit ihm sein Vesperessen: Graubrot und Äpfel. Ich war hungrig auf jede ehrliche, ungeheuchelte Unterhaltung. Zu diesem Verdienst, das alle meine Freunde besaßen, kam bei La Bayette noch große Vornehmheit der Gesinnung und der Manieren und ein seelisches Zartgefühl, das zwar nicht zu tiefer Leidenschaft befähigte, wie bei Bigillion, aber eleganter im Ausdruck war. Ich glaube, er gab mir gute Ratschläge, als ich in Fräulein Kably verliebt war. Er war so gut und ehrlich, daß ich ihm davon zu erzählen wagte. Wir kramten alle unsere kleinen Erfahrungen über das Weib aus, oder vielmehr alles, was wir aus Romanen wußten. Unsere Unterhaltung muß sehr spaßig gewesen sein. Nach Seraphies Tod hatte ich die »Geheimen Memoiren«»Mémoires secrets sur les règnes de Louis XIV. et de Louis XV.« Paris 1791. von Duclos gelesen und bewundert; mein Großvater las sie.
Ich glaube, in der Mathematikklasse lernte ich beide Freunde kennen. Jedenfalls freundete ich mich dort mit Louis de Barral an, der jetzt mein ältester und bester Freund ist. Er liebt mich von allen Menschen am meisten, und ich glaube, kein Opfer wäre mir für ihn zu groß.
Damals war er sehr klein, mager und schmächtig, aber sein blasses Gesicht, die Folge einer schlechten Angewohnheit, die wir alle hatten, wurde eigenartig belebt durch die prächtige Uniform eines Ingenieurleutnants, die er trug. Man nannte das, dem Ingenieurkorps zugeteilt sein. Das wäre ein gutes Mittel gewesen, um die wohlhabenden Familien mit der Revolution auszusöhnen oder doch ihren Haß zu dämpfen ... Was mich an Barral bestach, war seine schöne blaue Uniform und die Art, wie er Voltaireverse aufsagte.
Seine Mutter, eine sehr vornehme Dame, war eine Grolée, wie mein Großvater mit Ehrerbietung sagte. Sie war die Beste ihres Ordens, die diese Tracht trug. Ich sehe sie noch bei der Herkulesstatue im Stadtgarten, in einer geblümten blauen Satinrobe mit mächtigen Bäuschen, einer riesigen Puderperücke und wohl einem Hündchen im Arm. Die Gassenbuben folgten ihr bewundernd von weitem, und ich wurde von dem treuen Lambert geführt; ich mochte drei bis vier Jahre alt sein, als ich diese Erscheinung sah. Diese vornehme Dame hatte chinesische Sitten. Ihr Gatte, der Parlamentspräsident Marquis de Barral, wollte [während der Revolution] nicht auswandern und wurde dafür von meiner Familie geschmäht, als hätte er zwanzig Ohrfeigen erhalten ... Er hatte sich 20-25000 Franken Einkommen gerettet, von denen er 1793 die Hälfte oder zwei Drittel dem Vaterland schenkte, d. h. um nicht guillotiniert zu werden. Vielleicht hatte ihn seine Liebe zu Frau Brémont, die er später heiratete, an Frankreich gekettet.
Ich will nicht behaupten, daß der Gerichtspräsident de BarralEr war erster Gerichtspräsident von 1804-15. ein Genie war, aber in meinen Augen war er das völlige Gegenteil meines Vaters und hatte solchen Abscheu vor aller Pedanterie, daß er es sorglich vermied, die Eigenliebe seines Sohnes zu verletzen... Er brachte ihm Voltaires Satiren bei, das einzige wirklich Vollkommene, das dieser große Reformator nach meiner Meinung geschaffen hat. Damals lernte ich, was guter Ton ist, und es nahm mich sofort für ihn ein. Immerfort verglich ich diesen Vater, der Verse machte und seine Kinder äußerst schonend behandelte, mit der finsteren Pedanterie meines Vaters.
Ich hegte die größte Hochachtung vor dem Wissen meines Großvaters und liebte ihn aufrichtig. Ich sagte mir zwar nicht: »Ließe sich das grenzenlose Wissen meines Großvaters nicht mit der heiteren, höflichen Liebenswürdigkeit des Herrn von Barral vereinen?« Aber mein Herz nahm diesen Gedanken gleichsam vorweg; er sollte später für mich grundlegend werden ...
Ich machte mir damals kein Idealbild von Herrn von Barral, da er meiner Familie wegen seiner Nichtauswanderung ein Greuel war. Weil die Not mich zum Heuchler machte (ein Fehler, den ich seitdem nur zu sehr abgelegt habe, was mir z. B. in Rom sehr geschadet hat), erzählte ich zu Hause von meinen neuen Freunden La Bayette und de Barral.
»La Bayette, gute Familie!« versetzte mein Großvater. »Sein Vater war Kapitän zur See, sein Oheim Parlamentspräsident. Aber Barral ist ein Flachkopf.«
Hier muß ich gestehen, daß Herr von Barral mit zwei Stadtpolizisten eines Nachts um zwei Uhr zu dem früheren Parlamentsrat d'Anthon kam, um ihn zu verhaften. Der arme Kerl war halb blind und außerdem notorisch verdächtig wie mein Vater. Er war von fanatischer Frömmigkeit, sonst aber nicht bösartig. Man fand es eines Barral unwürdig, daß er einen früheren Kollegen am Parlamentsgericht verhaftete ...
Man muß gestehen, daß ein französischer Bürger von 1794 ein recht komisches Tier war. Er klagte beständig über den Adelsdünkel, schätzte aber einen Menschen nur wegen seiner Geburt. Tugend, Güte, Hochherzigkeit galten nichts. Ja, je mehr sich jemand hervortat, um so mehr wurde ihm sein Mangel an vornehmer Abkunft vorgeworfen! ...
Wenn ich mit Barral spazieren ging, begegneten wir Michoud, der ein sehr dummes Gesicht hatte, aber ein guter Kerl war ... Er hat mich bis zu seinem Tode geliebt, und ich hegte die größte Hochachtung vor seinem gesunden Verstand und seiner Gutmütigkeit. Ein andermal schlugen wir uns mit Fäusten, und da er doppelt so groß war wie ich, zog ich den kürzeren. Ich machte mir Vorwürfe darüber, nicht, weil ich Prügel bekommen, sondern weil ich seine große Gutmütigkeit verkannt hatte. Ich war boshaft und machte spitze Bemerkungen, die mir manchen Faustschlag eingetragen haben. Der gleiche Charakterzug hat mir in Italien und Deutschland beim Heere etwas Besseres eingebracht und in Paris scharfe Kritiken in den kleinen Literaturblättern.
Wenn mir ein Witzwort einfällt, sehe ich immer nur seinen Witz und nicht seine Bosheit. Ich bin stets von seiner Wirkung überrascht. Jetzt bin ich so klug, solche Bemerkungen nicht mehr zu machen, und Don Filippo Gaëtani hat mir das Zeugnis ausgestellt, ich sei einer der am wenigsten boshaften Menschen, die er je gesehen habe, obwohl ich in dem Ruf eines äußerst geistvollen, aber sehr boshaften und noch mehr unmoralischen Menschen stände. (Unmoralisch, weil ich über Frauen und Liebe geschrieben habe und weil ich mich unwillkürlich über die Heuchler lustig mache, eine Zunft, die, wer sollte es glauben? in Paris noch mehr in Ansehen steht als in Rom.)
Kürzlich sagte die Signora Toldi vom Balletheater, als ich ihr Haus verließ, zum Fürsten Gaëtani: »Das ist Herr von Stendhal, dieser geistvolle und so unmoralische Mensch.« Das sagte eine Schauspielerin, die vom Prinzen Leopold von Neapel ein Kind hat! Der gute Don Filippo nahm mich gegen den Vorwurf der Unmoralität sehr ernstlich in Schutz. – Selbst wenn ich erzähle, daß ein gelber Kutschwagen durch die Straße fährt, habe ich das Unglück, die Heuchler und sogar die Dummköpfe tödlich zu verletzen.
Je nun, lieber Leser, ich weiß selbst nicht, was ich bin, gut oder boshaft, geistreich oder dumm. Ich weiß nur, was mir Freude oder Leid bereitet, was ich begehre oder hasse. Ein Salon voll reich gewordener Provinzler, die ihren Luxus zur Schau stellen, ist mir zum Beispiel ein Greuel. Danach kommt ein Salon voll Marquis und Großkordons der Ehrenlegion, die Moral predigen.
Ein Salon von acht bis zehn Personen, wo die Frauen sämtlich Liebhaber haben, wo die Unterhaltung heiter und anekdotisch ist und um Mitternacht eine leichte Bowle gereicht wird, – das ist die Stätte, wo ich mich am wohlsten fühlte. Hier, wo ich zu Hause bin, höre ich weit lieber einen andern sprechen, als selbst zu reden. Gern versinke ich in beglücktes Schweigen, und wenn ich rede, geschieht es nur, um meinen Beitrag zur Unterhaltung zu zahlen, ein Wort, das ich in Paris eingeführt habe, ebenso wie fioritura, das ich immerfort höre, seltner dagegen »Kristallbildung« (aus meinem Buch »Über die Liebe«). Wenn man ein besseres findet, mir soll's recht sein.»An diesem Wort hat ein so großer Freund der Literatur wie der Minister des Innern, Graf d'Argout, gewaltigen Anstoß genommen«, sagt Stendhal a. a. O., und in einer Randbemerkung wiederholt er die in seinem Buch »Über die Liebe« gegebene Erklärung: »Eine Art Wahnsinn, infolgedessen man alles an dem geliebten Wesen als Vollkommenheit empfindet. Ist sie arm – um wieviel mehr liebe ich sie! Ist sie reich – um wie viel mehr liebe ich sie!«