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Paris, 15. Februar 1810.
Um 5 Uhr abends war ich bei Martial (Daru). Er las mir ein
Briefchen vor, das seine Frau soeben von Herrn von Chatenet erhalten hatte. »Ich teile Dir als sicher mit, daß Herr Beyle zum Auditor ernannt ist.« Das gibt mir begründete Hoffnungen. Ich hatte weniger Lust zum Auditor im Staatsrat, als Abscheu vor meinem traurigen Handwerk als Kriegskommissar.
18. Februar.
Am Abend las ich die »Wahlverwandtschaften« von Goethe.Der Roman war 1809 erschienen und 1810 ins Französische übersetzt worden. Es ist das Werk eines großen Talents, aber er könnte mehr rühren. Anscheinend hat er aus Originalität den Weg eingeschlagen, den er im »Werther« und auch in diesem Roman befolgt.
Montag den 19.
Es bestätigt sich, daß ich Auditor im Staatsrat geworden bin. MounierEduard Mounier (1784–1853), den Bruder von Beyles Jugendliebe Viktorine Mounier, damals Sekretär Napoleons. hat es mir gesagt; er erfuhr es durch Faure von Hörensagen.Die Hoffnung war verfrüht; Beyle wurde erst am 1. August 1810 Auditor im Staatsrat – dank Herrn und Frau Daru – und am 10. August Inspekteur der kaiserlichen Mobilien. In dieser Stellung hatte er noch einen Kollegen (Lecoulteux de Canteleu) und unterstand dem Generalintendanten des kaiserlichen Hauses, dem Herzug von Cadore.
Abends um 10 Uhr ging ich zu Frau Z.,Frau Z. ist wieder die Gräfin Daru. aber gelangweilt und mit Selbstüberwindung. Ich war natürlich und machte meine Sache gut. Mit MarieGräfin Daru. war ich äußerst zufrieden. Herr D[aru] sprach äußerst gütig über mein Briefchen.Das Bittgesuch, sich für ihn zu verwenden. Als ich sagte: »Es wird mein letztes sein«, entgegnete er: »Nicht doch! Fahren Sie nur fort. Wir wollen versuchen, etwas für Sie zu tun.« Ich bin glücklich.
24. Februar.
Heute morgen sah ich Marie in den Tuilerien. Her astonishment at my sudden appearance. Perhaps she has some love for me.Ihre Betroffenheit bei meinem plötzlichen Erscheinen. Vielleicht liebt sie mich etwas.
14. März.
Our eyesUnsere Augen. sagten sich, that they love themselves.Daß sie sich lieben. Ich sah sie einen Augenblick verlegen; sie wagte nicht zu meinen bewundernden Blicken aufzuschauen. Ich bin für morgen eingeladen.Hier schiebt sich noch eine in den »Soirées du Stendhal-Club«, I, 27 ff., veröffentlichte eigenartige Tagebuchaufzeichnung ein, die sich »Die Herzogin von Bérulle, Banti und Burrhus« betitelt und in leicht novellistisch verschleierter Form die Aussichten einer Liebschaft erörtert. Die Herzogin ist die Gräfin Daru, Burrhus ihr Gatte, Banti Stendhal. »Wenn er Frau v. B. nicht erobert, wird er sich sein Leben lang Vorwürfe machen«, heißt es am Schluß.
13. April.
Ein ausgesprochener Liebesblick. Ihr übriges Benehmen zeigte wenigstens Freundschaft, außer einem Augenblick der Langeweile. Aber es waren fünfzehn Personen zugegen. Marie müßte sehr zärtlich sein, wenn sie nur wegen meiner Anwesenheit nach sechs Stunden Geselligkeit nicht zerstreut wäre. Seit ich nichts aufgezeichnet habe, glaube ich zwanzig Liebesbeweise entdeckt zu haben. Aber unsere etwas frostigen Zusammenkünfte machen alles zuschanden. Ständen wir uns etwas näher, wir hätten uns unsere Liebe erklärt.
27. April.
Ich war bei Frau R., wo ich die Gräfin PalfyDie Gräfin Daru. traf. Sie blickte mich fortwährend wohlgefällig an und suchte stets, meine Hand zu fassen. Ich drückte die ihre leicht, aber es war falsch von mir, sie nicht in dem kleinen Kabinett zu küssen; wir waren nur zwei Herren.
1. Mai.
Gestern habe ich mir ein Kabriolett nach der neusten Mode für 2100 Franken und ein PetschaftAls Herr de Beyle. gekauft.
2. Mai.
Vom 15. bis 28. April zärtliches Wohlgefallen con brio,Mit Feuer. ohne Sorge darum, daß sie sich bloßstellte. Vom 28. bis heute gute Freundschaft, aber ohne brio.
Donnerstag, 3. Mai.
I goe to breakfast at Palfys house.Ich gehe zum Frühstück zur Gräfin Palfy. Ich bin ganz natürlich und würdevoll. Ich bin mit diesem Besuch zufrieden. Ihre Augen scheinen in meiner Gegenwart aufzuleuchten. Sie zeigte anscheinend weder die Freundschaft der letzten Woche noch das brio der vorhergehenden. Es war wohl mehr bewußte Liebe, zärtlich, leicht schwermütig, alle Regungen fühlend. Ihr Gesicht schien sich mit der Farbe der Liebe zu überziehen, als sie laut eine Zeitung vorlas und ich sie anblickte, was sie von der Seite bemerkte.
Die Vorsicht gebietet mir, dies Tagebuch hier abzuschließen.
Paris, 9. März 1811.
Gegen Mitte Februar 1811, als ich Frau [Alexandrine Daru] besuchte, sagte sie zu mir: »Ich will Ihnen etwas sagen, was Ihnen Freude machen wird: Sie gehen nach Italien.« Ich war verwirrt und entzückt. Ich ging zu Crozet und erzählte es ihm. Er war kalt, wie stets, wenn er innerlich erregt ist, und sagte sofort: »Ich komme mit.« Dies Zeichen von Charakter überraschte mich angenehm. Er bat sofort um Urlaub und um einen Paß und bekam beides. Seit dem 25. Februar habe ich mehrfach gefürchtet das geliebte Italien nicht zu sehen. Das hätte mich sehr gegrämt. Ich nahm mir heraus, Herrn (Daru) zu sagen, daß ich große Lust hätte, nach Rom zu gehen.Als Intendant der Krone. Es handelte sich um Inventarisierung des päpstlichen Besitzes und um die Überführung von römischen Kunstwerken ins Louvre, veranlaßt durch die Begründung des Königreichs Italien durch Napoleon. Endlich, am 6. März, erfuhr ich, daß mein Name in die Eingabe gesetzt werden soll...
Ich bin verliebt in meine Reise, d. h. ich finde fast gar keinen Geschmack mehr an der komischen Oper and the amiable girl which whom I lay every night.»Und dem liebenswürdigen Mädchen, mit dem ich jede Nacht schlief.« Gemeint ist die Operettensängerin Angelina Bereyter. Wie ich sehe, ist das beste Mittel, mein Vergnügen zu verderben, die Lektüre von Reiseschriften. Crozet und ich haben ausgemacht, daß wir den Volkscharakter in den einschlägigen Schriften studieren, uns aber vor Reisebeschreibungen hüten wollen. Leider ist meine Kenntnis vom italienischen Charakter noch sehr gering...
Bei Frau von Staëls »Corinne« ist mir übel geworden. Dieser schwülstige Stil, dieser, stets genial sein wollende Geist, der nicht merkt, daß ihm die Hauptbedingung dazu – die Natürlichkeit – völlig abgeht, diese Komödie, die alles lächerlich macht, was ich liebe, ist mir geradezu widerlich gewesen. Als Gegenmittel habe ich einen Auszug aus dem Schluß des ersten Bandes gemacht, wo Corinne vom italienischen Charakter spricht. Beim Übertragen ihrer Phrasen in einen natürlichen Stil habe ich gemerkt, daß meist nur gewöhnliche Gedanken und sichtlich übertriebene Gefühle dahinterstecken. Zufällig fiel mir SponDer Archäologe Jacob Spon (1647–85) schrieb eine »Voyage d'Italie etc.« (Lyon 1678). am selben Tage in die Hand. Ich empfand lebhaft die Vorzüge der Natürlichkeit und las die 150 Seiten des Lyoneser Arztes mit Genuß. Ich bewunderte seine echte Bescheidenheit, und der anspruchsvolle Schwulst der Corinne wurde mir doppelt zuwider.
Der kalte, genaue und vollständige LalandeJ. J. de Lalande (1732–1807) schrieb eine »Voyage d'un Français en Italie«, Paris 1769, 8 Bde. S. »Reise in Italien« (Bd. V dieser Ausgabe), S. 486. ist das, was wir brauchen. Er gibt alles an, und bei seiner Empfindungslosigkeit verdirbt er die Gefühle nicht, die Sankt Peter oder die Lage von Florenz uns einflößen können.
Wir reisen nach Italien, um den italienischen Charakter zu studieren. Wir wollen die Menschen dieses Volkes im besonderen kennen lernen und so bei Gelegenheit die Kenntnisse vervollständigen, erweitern und nachprüfen, die wir vom Menschen überhaupt zu haben glauben. Zum Glück geht unser Vergnügen mit unserer Arbeit Hand in Hand; das ist der Vorteil unserer Studien... Unsre Urteile sind scharf und unbedingt. Aber bei jedem Satz müssen wir hinzufügen: »Für unsern Charakter und unser Temperament.« Ich glaube, ein großer, schlanker, hagerer Jüngling von sanftem Wesen und gutem Ton, mit sorgfältig gebügeltem Hemd und tadellos sitzender Halsbinde wird mich sehr sonderbar, sehr unerfreulich finden. Aber es ist seine Schuld, wenn er uns nach dieser Warnung liest. Dies Tagebuch ist nur für uns und für drei bis vier Freunde von verwandtem Charakter geschrieben. Die Vorzüge der anderen können wir nicht nachfühlen, und sie können die unsern nicht empfinden. Ein Pferd liebt eine Kuh nicht; in geschlechtlicher Hinsicht sind beide für einander nicht da...
Damit ist unser profanum vulgus vertrieben. Wir können offen reden, wie zu uns selbst, und brauchen keine Rücksicht auf den Ausdruck und die Konvenienz zu nehmen. Wir wollen das einfältig, dumm, platt usw. nennen, was ein andrer hübsch, groß, schön, genial nennt. Er hat recht, aber wir haben nicht unrecht.
Wir nehmen nur Lalande als allgemeinen Führer mit und Duclos,Der von Stendhal als Moralist schon mehrfach erwähnte Duclos schrieb eine »Voyage d'Italie« (1767), die 1791 posthum in Paris erschien. weil seine Alt zu sehen bis auf eine gewisse Kleinlichkeit die unsere ist. Im übrigen ist er so gescheit, nur von seiner Sache zu reden, und kein Wort von der Anmut Correggios und dem schlichten, göttlichen Ausdruck von Raffaels Madonnen zu sagen.
Alfieris »Leben«Stendhal kannte Alfieri seit 1804. Vgl. S. 239 f. wird uns ein paar Fingerzeige für den italienischen Charakter geben. In Charakteren kannte er sich aus. Was er von den Spaniern und Portugiesen vorhergesagt hatte, ist ein Beweis dafür.
15. März.
Unsere Reise zieht sich in die Länge. Das tut mir sehr leid für Crozet, dessen Urlaub beschränkt ist... Ich fürchte, S. Majestät wird die Reise eines Auditors unnötig finden. Genügt der Intendant nicht, um Besitz von Museen und Bibliotheken zu ergreifen?
Der liebenswürdige Martial Daru ist durch Dekret vom 12. März zum Intendanten in Rom ernannt. Wahrscheinlich reist er erst in vierzehn Tagen ab. Ich tröste mich, indem ich in Lalande blättere. Ich habe seine Beschreibung des Quirinalspalastes gelesen, der zum kaiserlichen Palast bestimmt ist. Er scheint großartig zu sein. Gott gebe es; alle unsere Paläste sind schäbig.
27. März 1811.
Nichts Neues als die verdammten Gerüchte von einem Kriege mit Rußland. Ich bange um unsere Reise... Ich habe BrydonePatrik Brydone, »A Tour through Sicily and Malta«, London 1773, 2 Bde. Deutsch von G. J. Zollikofer als »Reise durch Sizilien und Malta«, 2 Teile, Leipzig 1774. durchflogen; obwohl seine Beschreibungen nicht sehr deutlich sind, hat er mich doch mit Begeisterung erfüllt. Ich habe der Natur gedankt, daß sie mir eine Seele geschenkt hat, die sich aus großen Naturszenen Glück saugen kann. Sie wirken auf mich wie gute Musik. Das Reisen wird für mich eine große Quelle des Glückes sein.
Wenn mich mein Weg je nach Sizilien führt, so finde ich dort zwei Vorteile: die Menschennatur ist dort ebenso stark und des Studiums ebenso wert wie die der Pflanzen und Felsen. Wenn ich einen Monat in einer wilden Höhle des Ätna wohne, werde ich seltene Eindrücke haben. Ich schreibe dies in einer durchaus standesgemäßen Wohnung (für mich und meinen Ehrgeiz), die zudem eine der heitersten in Paris ist.»Ich habe eine hübsche Wohnung, schlicht-vornehm und neu, mit reizenden Stichen geschmückt. Ich habe eine herrliche Aussicht«, schreibt Stendhal. (»Correspondance« I, 368.) Aber dieser Kopf des größten modernen Reiches ist mir langweilig geworden; ich bin gegen seine Genüsse abgestumpft. Ich habe die meisten übersprungen; das heißt, als sie mir Freude hätten machen können, hatte ich sie nicht, und jetzt, wo ich sie haben kann, dünken sie mir schal. Wie man sieht, habe ich nicht den leichtfertigen, eitlen Charakter, der nötig ist, will man Paris als Ganzes genießen. Dafür aber kann ich in den Höhlen des Ätna und in der gewaltigen Felsöde Norwegens Eindrücke empfangen, die für den echten Pariser unsichtbar sind. Statt Boston zu spielen und dabei meine Anmut bewundern zu lassen, will ich mir heute abend die »Nemici generosi« von der schönen Pflanze Neapels, Cimarosa, anhören. Daher wäre es recht töricht von mir, mich zu grämen, daß ich erst fünf bis sechs Jahre später Berichterstatter im Staatsrat werde als die Leute, die zweihundert Tage im Jahre täglich zwanzig Besuche machen. Man muß sich keine unvereinbaren Dinge wünschen.
Ich glaubte, die Italienreise würde mir Shakespeare für lange Zeit entfremden. Und doch las ich mit unverminderter Bewunderung »Romeo und Julia«. Ich merkte, wie sehr der große Dichter seine Figuren italienisiert hat. Ich las seine Poetik (Akt III, Szene 3) mit Genuß. Ich setze sie hierher, um diese Verse des größten Dichters in Italien in der schönsten Natur der Welt zu lesen.
Du kannst von dem, was du nicht fühlst, nicht reden.
Wärst du so jung wie ich und Julia dein,
Vermählt seit einer Stunde, Tybalt tot,
Wie ich von Lieb' erglüht, wie ich verbannt,
Dann möchtest du nur reden, möchtest nur
Das Haar dir raufen, dich zu Boden werfen
Wie ich, und so dein künftig Grab dir messen.