Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Madame de Staël.

Mailand, 18. Juni 1818.Brief an Romain Colomb

Dir, der Du in der Gesellschaft der Madame de Staël gelebt hast, als ihre Verbannung das Interesse auf ihre Persönlichkeit lenkte, widme ich ein paar beurteilende Gedanken, die mir die Lektüre ihres eben erschienenen nachgelassenen Werkes eingegeben hat; es hat mich in eine tiefe Empörung versetzt. Denkst Du nicht wie ich, daß es eine infame Feigheit ist, sich derartig über Napoleon in Sankt-Helena auszulassen?

Ich besitze bei weitem nicht den kleinsten Teil von den Fähigkeiten, die man haben muß, um den Wert der ›Betrachtungen über die hauptsächlichsten Ereignisse der französischen Revolution‹ der Madame de Staël zu erörtern. Ist es ein gediegenes Werk oder lediglich ein Modebuch, das von Europa soeben in 60 000 Exemplaren verschlungen worden ist? Ich hüte mich wohl, darüber zu entscheiden, ich beschränke mich zu sagen, daß 248 Seiten des zweiten Bandes (von Seite 172 bis 420) mehr kindische Ansichten, Verschrobenheiten, Blödsinn aller Art und, ich wage es zu sagen, Verleumdungen als je ein anderes, in der gleich hohen Auflage verkauftes Buch enthalten.

Ich erblicke in der Madame de Staël eine Frau ohne feines Gefühl und vor allen: ohne Scham vor dem feinen Gefühl, aber voll von geistreicher Phantasie, deren Schulung im besten Falle die Lektüre von Hume und allenfalls Montesquieu gewesen ist, aber ohne daß sie irgend etwas dabei begriffen. Sie war in den Salons von Europa eingeführt und sie hat zeitlebens mit den ersten Menschen des Jahrhunderts verkehrt. Über alle großen Probleme, die seit dreißig Jahren im Schwange sind, hat sie Phrasen aufgeschnappt. Aber mitten im Strudel der großen Gesellschaft, die das Glück dieser melancholischen Frau war, galt ihr eigentlichstes Studium den Salonerfolgen und den mannigfaltigen Charakteren ihrer Freunde.

Da die Verfasserin bei ernsten Stoffen konsequent zu folgern nie verstanden hat, so ist auch ihr Buch eine Sammlung von Redensarten, die sich um sich selbst drehen und einander widersprechen. Es ist das ein natürliches Ergebnis ihrer Darstellungsweise. Madame de Staël hat in diesen Memoiren alle witzigen Phrasen untergebracht, die sie seit vierzig Jahren gesagt und gehört hat.

Etwas, was mich beinahe überzeugt, daß die Ausländer wirklich weniger geistreich sind als wir, ist ihr Absatz über Napoleon, das einzige wirklich langweilige, was sie je geschrieben hat. Sie sucht den Geist in ihm. Welchen Geist! Da ihr schließlich der eigene Geist dabei ausgeht, nimmt sie ihre Zuflucht zu gefühlvollen Redereien, was man romantischen Stil nennt. Wenn sich Madame de Staël in der Hitze verstiegen hat, gewöhnliche Gefühle mit einer Schwulst gesuchter und wunderlich gruppierter Worte zu bemänteln, so meint sie steif und fest, Wunder etwas im Stile von Ludwig dem Vierzehnten vollbracht zu haben. Das ist erbliche Belastung. Ich glaube beinahe, sie hatte die anmaßende Verschrobenheit, auf die großen Schriftsteller jener Zeit eifersüchtig zu sein. Hierin liegt einer der geheimen Gründe ihres Hasses gegen Ludwig den Vierzehnten; der andere Grund ist der, daß Herr von Necker nicht hatte Minister unter Ludwig dem Vierzehnten werden können.

Die Heldennamen der Madame Bertrand und der Madame de la Valette werden von der Nachwelt noch geehrt werden, wenn die Namen der Madame de Staël und der Madame de GenlisVerfasserin von seichten Moderomanen, etwa vergleichbar den heutigen der Frau von Eschstruth, nur daß diesen der französische Esprit fehlt längst im Schwarm der gewöhnlichen Seelen, die die Tugend nur zu bewundern wissen, wenn sie als Opfer für die Macht angewendet wird, versunken sind.

Und doch war es, – man muß es sagen, – ein seltsames und reizendes Bild, das Madame de Staël bot, wenn sie im Schlosse von Coppet die Honneurs machte. Das aristokratische Bewußtsein, einer erlesenen Gesellschaft anzugehören, machte offengestanden dreiviertel des Reizes dieses Kreises aus. Jene eigenartige Frau improvisierte inmitten einer großen Menge Menschen, die äußerst stolz waren, da zu sein. Keineswegs war es Geselligkeit und Heiterkeit, was den Salon von Coppet belebte, vielmehr auf der einen Seite Ziererei und auf der anderen der Genuß, erstaunliche Dinge ohne Vorbereitung vortragen zu hören. Ich wundere mich nur über die Torheit Napoleons, daß er es nicht verstanden hat, ein so verführerisches Wesen, das bestimmt war, so viel Einfluß auf die Franzosen auszuüben, für sich zu gewinnen. Warum setzte er ihr denn nicht eine jährliche Dotation in der Höhe der Gehälter für zwei Präfekten und hundert Kammerherren aus?

Das Hauptverdienst der Madame de Staël ist es, daß sie die Menschen, mit denen sie diniert hatte, gut geschildert hat, Sieyès zum Beispiel. Und dann enthält ihr Buch eine gute Auswahl von Anekdoten; aber wieviel geht durch ihren unnatürlichen und effekthaschenden Stil von ihrer scharmanten und reizenden Plauderei verloren?

»Delphine« ist ein steifer langweiliger und abscheulicher Roman. Der Geist der Madame Staël gab ihr ein, den »Esprit de lois« der Gesellschaft von 1780 zu schreiben. Alles, was sich in »Delphine« dieser Absicht nähert, ist reizvoll. Aber um die Leidenschaften in gefälliger Weise dichterisch darzustellen, muß man unbedingt eine Seele und mehr noch eine edle und wahre Seele haben. Wenn man sie in der französischen Literatur durch Zufall fände, so müßte ein Schriftsteller, der es fertig bringt, nach den Metzeleien von Nimes die Aristokratie herauszustreichen, Bonaparte nach der Verbannung nach Sankt-Helena zu verleumden und bis zum Übelwerden von leidenschaftlicher Verehrung zu sprechen, wo er doch ganz augenscheinlich zu Ludwig dem Fünfzehnten die übliche Untertanenliebe hegt, – ein solcher Schriftsteller müßte, so pikant sein Stil sein mag, doch schließlich wenig gelesen werden und sich vor Verachtung und Vergessenheit nicht retten können. Das Eindringen liberaler Ideen hat eben eine neue Literatur hervorgerufen. Die erste Eigenschaft, die unsere neuen Herzensbedürfnisse verlangen, ist die Freimütigkeit, sei es im Charakter, sei es in den Schriften. Ich fürchte nur, das mehr oder weniger seine Jesuitentum wird niemals altmodisch werden.

Das Buch »Über Deutschland« der Madame de Staël dürfte ihre anderen Bücher um zwanzig Jahre überleben. Dieses Werk wird erst vergessen werden, wenn wir zwei andere gut verfaßte, vor allem über die romantische Literatur gut geschriebene Bände haben. Der Versuch der Madame de Staël ist annehmbar, wenn er auch auf allen Seiten voller Fehler ist. Sehr einfach, sie verstand nicht deutsch und man kann überzeugt sein, sie hat ihr Buch nach Auszügen geschrieben, die ihr A. W. Schlegel geliefert hat.

Was würden wir von einem englischen Literaten sagen, der unsere großen Schriftsteller beurteilen wollte und, ohne ein Wort französisch zu verstehen, nur Übersetzungen gelesen hätte? Madame de Staël mußte befürchten, daß ihr die deutschen Schriftsteller diesen schweren Vorwurf machen würden. Sie hat sicher ihr Stillschweigen auf ihre eigene Weise erkauft. Sie hatte es mit einem anspruchsvollen Volke zu tun, das den Charakter und die Originalität, aber auch die ganze Eitelkeit eines Parvenüs hat. Darum hat sie in komischer Art das Verdienst der kleinen deutschen Schriftsteller übertrieben. Die Aimé Martins und Lacretelles von Deutschland sind heute noch ganz verwundert, sich als berühmte Schriftsteller zu sehen.

Was Goethe und Schiller, zwei wahrhaft große Männer anbelangt, so hat sie ihre Persönlichkeiten gekannt und gut geschildert, aber über ihre Werke ist sie sich nicht recht im klaren. Schiller zum Beispiel ist reich an großartigen Bildern, die, wie man sie auch ins Französische übertragen mag, dabei lächerlich verdorben werden. Sehr einfach: es sind Phantasien einer großen Seele, die einer anderen Art von Kultur entströmen. Was für vorzügliche Übersetzungen sich Madame de Staël auch hat machen lassen, sie hat sich doch nimmermehr den wirklichen Gedanken dieses Dichters verschaffen können. Wenn diese Betrachtung für die Öffentlichkeit bestimmt wäre, würde ich sie in folgender Weise mildern:

Ich wäre sehr enttäuscht und noch mehr betrübt, wenn ich mich meinen Empfindungen für einen ebenso unglücklichen wie berühmten Wohltäter überlassend, nur einen Augenblick im Zweifel sein könnte, daß meine Hochachtung vor den sozialen Tugenden des ernsthaften Autors, den anzugreifen ich die unbedingte Pflicht zu haben glaube, nicht gerechtfertigt wäre.

Wenn ich mich, verleitet durch etwas, was mir Tatsache zu sein scheint, einer gewissen, ein wenig allzu lebhaften Ausdrucksweise bedient haben mag, einer Sache gegenüber, die ich als Lüge betrachtete und zwar als eine Lüge mit der Front gegen das größte Unglück, dann bitte ich die Manen der Verfasserin von »Delphine« um Verzeihung. Es ist nicht mangelnde Achtung ihr gegenüber, wenn ich die Überzeugung habe, daß die Fähigkeiten, die zu einem guten Roman ausreichen, etwas verschieden von denen sind, die man haben muß, um Geschichte zu schreiben.

Es ist erst ein Jahr her, daß Frankreich Madame de Staël verloren und beweint hat. Man wird es vielleicht wenig rücksichtsvoll finden, daß eine unberühmte Feder mit soviel Eifer ihre Fehler hervorzuheben sucht. Aber sie hat sich vermessen, mit der ganzen Wucht ihres europäischen Rufes einen großen Mann zu schmälern, der fern von Weib und Sohn in einem tödlichen Klima gefangen gehalten wird, einem langsamen baldigen Tode geweiht, ein Raub alles Unglücks, das die Menschen auf einen ihresgleichen verhängt haben!

Wer nach der Berühmtheit strebt, unterwirft sich damit auch stillschweigend der Möglichkeit des ausbleibenden Erfolges. Es wäre eine ganz besondere Anmaßung, wenn man gegen dieses ebenso billige wie allgemeine Gesetz gefeit sein wollte. In jenen »Betrachtungen« der Madame de Staël steckt aber allzuviel Anmaßung jeglicher Art.

Ich meinerseits habe nur die Anmaßung, daß ich es an Höflichkeit und an gerechter Schätzung meiner eigenen unendlichen Unbedeutendheit nicht habe fehlen lassen, indem ich gegen ein Buch ankämpfe, das ich für eine schlechte Tat halte.


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