Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Michelangelo.

Um Michelangelo richtig zu beurteilen, muß man sich in die Verhältnisse eines Florentiner Bürgers von 1499 zurückversetzen. Glauben wir doch weder an Astrologie, noch an Erscheinungen und Wunder. Seit der englischen Verfassung haben wir eine andere Gerechtigkeit und selbst die Attribute Gottes haben sich geändert. Wir kennen die antike Plastik und die Urteile von tausend geistvollen Männern über sie. Wir besitzen die Erfahrung dreier Jahrhunderte mehr.

Wären in Florenz die gewöhnlichen Leute schon auf dieser Höhe gewesen, wo hätte dann das Genie eines Buonarotti hingereicht? Einfache Gedanken von heute wären jedoch damals übernatürlich gewesen. Aber in Hinsicht auf das Herz, den inneren Schwung lassen die Männer jener seinen Zeit uns weit hinter sich zurück. Wir kennen den Weg, den man verfolgen muß, besser, aber die ältere Kultur hat unsere Kniee steif gemacht; wie jene verzauberten Fürsten in den arabischen Märchen verbrauchen wir uns vergeblich in unnützen Bewegungen und kommen doch nicht vom Flecke. Seit zweihundert Jahren hatte die angeblich gute Sitte die starken Leidenschaften geächtet und aus der Unterdrückung war schließlich eine gänzliche Vernichtung geworden; man fand sie nur noch auf dem Lande. Das neunzehnte Jahrhundert hat sie wieder in ihre Rechte eingesetzt. Wenn uns in unseren Tagen des Lichts ein Michelangelo beschert würde, wie groß könnte er werden! Welch ein Strom von neuen Empfindungen und Genüssen müßte von ihm ausgehen, wo die Allgemeinheit durch das Theater und die Romanliteratur so wohl vorbereitet ist. Vielleicht schaffte er eine moderne Plastik, vielleicht zwänge er diese Kunst, die Leidenschaften auszudrücken, wenn er sich überhaupt auf Leidenschaften einließe. Die seelischen Zustände auszudrücken, würde Michelangelo der Plastik zum mindesten beibringen. Das Antlitz Tankreds nach dem Tode der Clorinde, Imogene erfährt die Untreue des Posthumus, der sanfte Ausdruck der Herminia, als sie bei den Hirten ankommt, die verzerrten Züge Macduffs, als er die Erzählung von der Ermordung seiner Enkel verlangt, Othello nach der Ermordung der Desdemona, die Gruppe Romeo und Julia im Grabgewölbe, Ugo und Parisina hören ihr Urteil aus dem Munde Niccolos – erständen in Marmor und verdrängten die Antike auf den zweiten Platz.

Von allem dem wußte der Florentiner Künstler nichts. Für ihn war der Schrecken das stärkste Gefühl im Menschen, das ihn immer besiegt. Es wiederzugeben verstand Michelangelo dank seiner Überlegenheit in anatomischen Kenntnissen in hervorragender Weise. Weiter hinaus kam er nicht.

Wie konnte er ahnen, daß es eine andere Schönheit gab. Die Antike wurde zu seiner Zeit noch nicht allgemein verstanden. Um ihr Wesen bewundern zu können, ist athenische Urbanität nötig. Michelangelo sah sich ausnahmslos religiösen oder kriegerischen Stoffen gegenüber. Eine düstere Wildheit war die Religion seines Jahrhunderts.

Die mit dem Klima Italiens engverwachsene Lebenslust und sein Reichtum hatten den Fanatismus ferngehalten. Erst Savonarola trug diese schwarze Leidenschaft mit seinen reformatorischen Ideen in Florenz eine Zeitlang in alle Herzen. Dieser Neuerer machte vorzüglich auf starke Geister einen tiefen Eindruck und die Geschichte berichtet, daß Michelangelo sein ganzes Leben lang das schreckliche Bild des in den Flammen umkommenden Mönches in seiner Vorstellung nicht loswerden konnte. Er war der vertraute Freund dieses Unglücklichen gewesen. Seine eher starke als weiche Seele blieb unter dem Drucke der Höllenfurcht. Die Geister, die ganz anders als wir erzogen waren, unterwarfen sich diesem Gefühl. Einige Fürsten, einige Kardinäle waren Deisten. Aber die Gewohnheit der ersten Jugend hängt einem immer nach. Wir haben mit zwölf Jahren Voltaire gelesen. Das ganze Quattrocento war den edlen und geklärten Empfindungen fern, deren Ausdruck die Schönheit des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen hat. Michelangelo ist der vortrefflichste Vertreter seines Jahrhunderts, aber die sanfte Kultur einer anderen Zeit ahnte er keineswegs.

Wie auch Dante bereitet Michelangelo keinen unmittelbaren Genuß, er beklemmt, er erdrückt die Einbildung mit der Wucht des Unglücks; es bleibt nicht genug Kraft übrig, um Mut zu haben; das Unglück füllt die Seele ganz und gar aus. Wenn man von Michelangelo kommt, erscheint einem die unbedeutendste Landschaft köstlich, sie befreit aus der Betäubung. Die Macht des Eindrucks hat sich fast in das Schmerzhafte gesteigert, erst mit seiner allmählichen Abschwächung stellt sich der Genuß ein.

***

Die Malerei, aufgefaßt als eine Kunst, die die Tiefen des Raumes oder die magischen Wirkungen von Licht und Farbe nachahmt, ist nicht die Malerei Michelangelos. Zwischen Paolo Veronese oder Correggio und ihm gibt es nichts Gemeinsames. Wie Alfieri verachtete er alle Nebendinge, alles in zweiter Linie Wertvolle und widmete sich einzig und allein der Darstellung des Menschen; und er malte ihn mehr als Bildhauer denn als Maler.

Es ist selten Sache der Malerei, ganz nackte Gestalten darzustellen. Sie soll die Leidenschaften durch den Ausdruck, durch die Physiognomie des darzustellenden Menschen, weniger durch die Form seiner Muskeln wiedergeben. Ihr Höchstes sind die Verkürzungen und die Farben der Stoffe.

Unsere Herzen müssen der Malerei zuschlagen, wenn sie zu allen diesen Zaubermitteln ihren mächtigsten Reiz hinzufügt, das Helldunkel. Ein schöner Engel würde kalt wirken, wenn sein Körper zur Augenlinse parallel und in seiner ganzen Oberfläche zu sehen wäre. Correggio läßt ihn verkürzt schweben und erzielt dadurch eine volle warme Wirkung. Noch erstaunlicher sieht man das an der Verkündigung des Baroccio. Der Hauptgrundsatz ist der: viel sehen in engem Raume.

Maler, die nicht eigentliche Maler sind, geben kopierte Plastik. Michelangelo verdiente diesen Tadel, wenn er bei dem Nichtgefälligen stehen geblieben wäre und nicht zum Schrecklichen weiter gegangen wäre. Überdies waren Gestalten, wie er sie in seinem jüngsten Gericht gemalt hat, vor ihm nirgends zu sehen.

Der erste Anblick jener ungeheuren Mauer, die völlig mit nackten Gestalten bemalt ist, befriedigt keineswegs. In der Natur hat unser Auge eine derartige Ansammlung niemals betroffen. Eine einzelne nackte Gestalt drückt die hehrsten Eigenschaften sehr wohl aus; im einzelnen vermögen wir die Form jedes Teiles zu betrachten und uns an ihrer Schönheit zu ergötzen. Ohne Zweifel ist eine schöne nackte Figur der Triumph der Plastik; auch für die Malerei ist dieses Sujet noch ganz recht, über ich glaube nicht, daß ihr daran liegt, auf einmal mehr als drei oder vier Gestalten dieser Art vorzuführen.

Wenn aber eine schöne nackte Gestalt in uns keine hehre Empfindung erweckt, so erregt sie leicht die vergnüglichsten Gedanken. Die größte Feindin des Genusses ist die Indezenz. Überdies widmet der Betrachter seine Aufmerksamkeit dem Körperlichen auf Kosten der, die dem Seelischen gelten sollte.

Eine einzelne nackte Gestalt spricht wohl unbedingt das zarteste und köstlichste in unserer Seele an; eine Ansammlung von vielen nackten Gestalten aber hat an sich etwas Anstößiges und Rohes. Der erste Anblick des jüngsten Gerichts hat in mir ein Gefühl erregt, ähnlich wie es Katharina die Zweite am Tage ihrer Thronbesteigung empfunden hat, als sich ihr beim Eintritt in die Kaserne eines Garderegiments alle Soldaten halbnackt zeigten. Aber dieses Gefühl, das gewissermaßen instinktmäßig ist, ging schnell vorüber, weil der Verstand mir sagte, es ist unmöglich, daß sich die Handlung anders ereignen kann. Michelangelo hat sein Drama in elf Hauptszenen eingeteilt.

Wenn man sich dem Gemälde nähert, erkennt man zunächst, gerade dem Auge gegenüber, ungefähr in der Mitte, den Nachen des Charon. Links ist das Fegefeuer. Dann kommt die erste Gruppe: die Toten, durch die schrecklichen Posaunen aufgeweckt aus dem Staube der Gräber, schütteln ihre Leichentücher ab und werden wieder zu Fleisch. Etliche haben noch ihre entfleischten Knochen; manche, noch vom Schlafe so vieler Jahrhunderte bedrückt, sehen nur erst mit den Köpfen aus der Erde heraus; eine Gestalt, ganz im Winkel des Bildes, hebt mit Kraft den Stein ihres Grabes empor. Der Mönch, der mit der linken Hand nach dem schrecklichen Gericht hinzeigt, ist ein Selbstbildnis Michelangelos.

Diese Gruppe ist mit der nächsten durch Gestalten verbunden, die zum Weltgericht gehen; sie erheben sich mehr oder weniger rasch und mit mehr oder weniger Leichtigkeit, je nach der zu verbüßenden Sündenlast. Zwei Neger deuten an, daß das Christentum bis nach Indien gedrungen ist; eine Gestalt, nackt, berührt den Himmel mit einem Rosenkranz, eine ist als Mönch gekleidet. Unter den Gestalten dieser zweiten Gruppe, die zum Weltgerichte gehen, erkennt man eine erhabene Gestalt, die einem Sünder, der mitten in der verzehrenden Angst seine Augen dennoch mit einem Schimmer von Hoffnung Christus zuwendet, hilfreich die Hand reicht.

Die dritte Gruppe, zur Rechten Christi, setzt sich nur aus Frauen zusammen, denen die Seligkeit sicher ist. Eine einzige ist völlig nackt gemalt, nur zwei davon sind betagt, alle sprechen; nach unseren Begriffen ist nur eine wirklich schön, jene Mutter, die ihre erschrockene Tochter schützt und zu Christus in edler Zuversicht hinblickt. Auf dem Bilde sind nur diese beiden Gestalten ohne Anzeichen des Schreckens. Die Mutter erinnert in ihrer Bewegung etwas an die Gruppe der Niobe.

Über diesen Frauen ist die vierte Gruppe mit seltsamen Wesen in stürmischer Bewegung; es sind Engel, die im Triumph die Werkzeuge des Leidens Christi tragen. Ebensolche sind rechts im anderen oberen Felde als fünfte Gruppe zu sehen.

Darunter, zur Linken des Heilands, erblickt man die Schar der Seligen, alles Männer. Man erkennt die Gestalt des Enoch. Verschiedene Paare umarmen sich, Verwandte, die sich wiedererkennen. Was für ein Augenblick! Sich wiederzusehen nach so vielen Jahrhunderten und zu einem Zeitpunkt, wo man eben einem solchen Unheil entronnen ist. Es ist natürlich, daß Geistliche diese Art Freude getadelt haben, weil sie in ihr ein verwerfliches Motiv argwöhnten. Die letzten dieser Gruppe, Heilige, zeigen die Werkzeuge ihrer Martern den Verdammten, um ihre Verzweiflung zu vermehren. Die Bewegung in dieser Gruppe muß man besonders bewundern. Hier findet sich auch eine an Michelangelo sonst fremde Scherzhaftigkeit. Sankt Blasius, der den Verdammten eine Art Folterrad zeigt, augenscheinlich das Werkzeug seiner Martern, neigt sich über die heilige Katharina, die vollständig nackt ist und sich lebhaft zu ihm hinwendet. Daniele da Volterra, der das Gemälde auf Paulus des Vierten Befehl hin übermalt hat, hatte den besonderen Auftrag, der heiligen Katharina ein Gewand zu malen und den Kopf des heiligen Blasius dem Himmel zuzuwenden. Die siebente Gruppe genügte allein, um das Andenken an Michangelo für immer in das Gedächtnis des kältesten Betrachters einzugraben. Niemals hat ein andrer Maler etwas Ähnliches geschaffen und nirgends gibt es etwas Grausigeres zu sehen. Hier sind unglücklich Verdammte, die zur ewigen Pein durch abgefallene Engel weggeschleppt werden. Buonarotti hat die schwarzen Bilder, die Savonarolas feurige Beredsamkeit dereinst in seine Seele eingegraben hatte, in die Malerei übertragen. Zu jeder Hauptsünde hat er ein Beispiel ausgewählt. Daniele da Volterra hat die gräßliche Bestrafung der Sünden teilweise übermalt, am meisten gegen den rechten Rand des Gemäldes hin. Verleitet durch den Stoff, mit einer – durch das acht Jahre lange unaufhörliche Nachdenken über den für einen Gläubigen so grausigen Tag – in die Irre geratenden Phantasie wollte Michelangelo, gleichsam zur Würde eines Predigers erhoben, das Laster, das damals am meisten gang und gäbe war, auf die auffälligste Weise bestraft sehen. Das Schreckliche an dieser Verdammnis scheint mir das wahrhaft Erhabene zu erreichen.

Einer der Verdammten hat offenbar entfliehen wollen; er wird von zwei Dämonen fortgeschleppt und von einer riesigen Schlange gepeinigt. Allein diese Gruppe müßte einen Künstler unsterblich machen. Etwas Ähnliches gibt es nicht im geringsten weder bei den Alten noch bei den Modernen. Ich habe Frauen beobachtet, die acht Tage lang unter der eingebildeten Vision dieser Gestalten, die man ihnen erläutert hatte, litten. Es ist unnütz, über die wunderbare Ausführung zu sprechen. Der hier in den seltsamsten Verkürzungen und Stellungen dargestellte menschliche Körper muß die Maler aller Zeiten verzweifeln lassen.

Michelangelo hat die Annahme gemacht, daß die Verdammten, um zur Unterwelt zu gelangen, mit dem Nachen Sharons befördert werden müssen. Die Dämonen bedrängen sie auf alle Arten. Man bemerkt unter anderen eine vom Entsetzen gepackte Gestalt, der ein Teufel eine krumme Gabel in den Rücken gestochen hat und sie damit mit sich fortreißt.

Minos steht hier. Es ist die Gestalt des päpstlichen Zeremonienmeisters Biagio da Cesena, der Michelangelos Bild getadelt hatte. Er zeigt mit der Hand nach dem Orte, den der Unglückliche in den Flammen, die man in der Ferne sieht, bewohnen soll. Messer Biagio hat Eselsohren. Er steht, nicht ohne Absicht, ganz nahe der Bestrafung eines verruchten Lasters. Er hat ein niederträchtiges schauderhaftes Aussehen. Die Schlange, die seinen Körper zweifach umschlungen hat, beißt ihn grausam.

Das Ideal zu den Dämonen war kaum leichter zu finden, wie das des Apollo, und für die Christen des Quattrocento eindrucksvoller, als für uns.

Die Höhle, die links vom Nachen Sharons liegt, deutet das Fegefeuer an; in ihm ist niemand verblieben, als ein paar Teufel, die in Verzweiflung sind, daß sie niemanden zu schinden haben. Die letzten Sünder, die dort gequält worden, werden von Engeln hinweggeführt. Sie entkommen trotz der Dämonen, die sie zurückhalten wollen, und haben Michelangelo den Stoff zu zwei köstlichen Gruppen gegeben.

Oberhalb des grausigen Fährmannes schwebt die Gruppe der sieben Engel, die mit schrecklichen Posaunen die Toten erwecken. Bei ihnen sind einige Gelehrte, die den Auftrag haben, den Verdammten das Gesetz zu zeigen, daß sie verdammt, und den Auferstandenen die Satzungen, nach denen sie gerichtet werden.

Wir kommen endlich zur elften Gruppe. Jesus Christus ist dargestellt in dem Augenblick, wo er den schrecklichen Spruch verkündet. Der lebhafteste Schrecken erstarrt alles, was um ihn ist. Die Muttergottes wendet ihr Haupt ab und schauert zusammen. Ihr zur Rechten steht die majestätische Gestalt Adams. Angesichts der großen Gefahren voll von Egoismus denkt er nicht daran, daß alle jene Menschen seine Kinder sind. Sein Sohn Abel packt ihn am Arm. Links davon sieht man jene alten vorsündflutlichen Patriarchen, die ihr Alter nach Jahrhunderten rechnen und die das graueste Alter hindert, sich aufrecht zu halten.

Zur Linken von Christus steht Sankt Petrus, der seinem furchtsamen Charakter treu, dem Heiland bewegt die Himmelsschlüssel zeigt, die er ihm dereinst anvertraut hat; er zittert davor, nicht dahin zu kommen. Moses, der Kriegsheld und Gesetzgeber, blickt auf Christus in tiefer Erwartung, fest und unerschrocken. Die Heiligen, die darüber stehen, haben so natürliche, realistische Bewegungen, daß wir geradezu irgendein fürchterliches Ereignis zu vernehmen glauben.

Unterhalb Christus steht der heilige Bartholomäus, der ihm das Messer zeigt, mit dem er gemartert worden ist. Der heilige Laurentius trägt den Rost, auf dem er gestorben ist. Eine Frau, die unter den Schlüsseln des Sankt Petrus sitzt, scheint Christus seine Härte vorzuwerfen Jesus Christus ist keineswegs ein Richter, er ist ein Feind, der Genuß daran hat, seine Feinde zu verdammen. Die Geste seines Fluches ist so gewaltig, daß es aussieht, als wolle er eine Lanze schleudern.


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