Stendhal (Henri Beyle)
Essays
Stendhal (Henri Beyle)

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Einleitung.

Der vorliegende Band ist ein Versuch, Stendhal, einen unbedingt kennenswerten Franzosen, den deutschen Lesern durch ausgewählte Abschnitte aus verschiedenen seiner Werke als Essayisten zu charakterisieren.

Wenn dieser Franzose sicherlich vor Friedrich Nietzsche höchstens auf zwei oder drei Deutsche unmittelbar Einfluß ausgeübt hat, so wissen wir doch, welche offene oder heimliche tiefe Wirkung er auf die führenden Geister Frankreichs gehabt hat, denen wiederum ganz Europa auf den Gebieten aller Künste seine Modernität verdankt. Hippolyte Taines »Philosophie der Kunst«, dieses Fundament unserer heutigen Ästhetik, wäre nie geschrieben worden ohne die Liebe und das Verständnis des Verfassers für die Ideen Stendhals, insbesondere nicht ohne die durch das Studium von Stendhals »Geschichte der Malerei in Italien« gewonnene Anregung.

Seit man weiß, daß einer der großen Romane Stendhals die Lieblingslektüre des Zarathustraphilosophen und daß nicht nur Stirner, sondern auch Stendhal sein deutlicher Vorläufer gewesen ist, kennt und schätzt man diesen in Deutschland als einen der merkwürdigsten Romandichter der Weltliteratur und als unerreichten Renaissancenovellisten.

So ist er unlängst über den Rhein zu uns gekommen fast wie eine zeitgenössische Erscheinung und man ist höchst verwundert, wenn man vernimmt, daß bereits Goethe im Jahre 1818 Stendhals Erstlingswerke gekannt und noch in der letzten Zeit seines Lebens an »Le Rouge et le Noir« Genuß empfunden und diesen Roman Stendhals Meisterwerk genannt hat. Es erscheint zwar auf den ersten Blick sonderbar, daß Stendhal, der »melancholische Epikureer« auf zwei so verschiedene Naturen, die geradezu die beiden Pole zweier einander entgegengesetzter Weltanschauungen unserer Zeit geworden sind, wie Goethe und Nietzsche, gleich positiv gewirkt hat. Aber je inniger man sich mit der rätselvollen und vielseitigen Individualität des französischen Dichterphilosophen befreundet, um so klarer versteht man, daß sowohl der sonnige Goethe wie der düstere Nietzsche eine starke Wahlverwandtschaft an ihm entdecken mußten.

De Stendhal, oder wie er in Wirklichkeit heißt: Henry Beyle, – der deutsche Deckname kennzeichnet vor allen den Kosmopolitismus dieses Dichters und ist eine Reminiszenz an die Geburtsstadt Winckelmanns, aber wahrscheinlich weniger an diesen großen Deutschen selbst, als vielmehr wohl lediglich an irgend ein Abenteuer daselbst, – war wie so viele tiefangelegte Weltmänner innerlich ein Einsamer, ein Einsamer in seiner Familie, in seinem Beruf als Soldat, Beamter und Diplomat, in seiner Art zu empfinden, zu denken und zu leben, in seiner Kunst, in seiner Stellung zur zeitgenössischen Literatur. Immer und überall sehen wir ihn einsam und abseits, fern vom profanen Haufen und darum naturgemäß ohne allgemeinen Erfolg. Aus seinen selbstbiographischen Fragmenten können wir ersehen, wie ihn sein »anders sein«, anfangs mit Verwunderung, Schmerz, Bitternis und Haß, später, als er anfing ein rastloser und ein immer schärferer Kenner der menschlichen Herzen zu werden, mit philosophischer Resignation und sehr bald mit Stolz und Eitelkeit erfüllte. Er fand schließlich einen köstlichen und nie versiegenden Genuß darin, anders zu sein und anders zu fühlen als die verächtliche große Herde und wurde so ein bewußter Egoist, ein Individualist sondergleichen. Er haßte jede Tradition und Religion, alle Modegrößen, alles, was die Majorität schätzte und anerkannte, und oft trug er ein barockes Urteil zur Schau, nur um nichts mit der Mehrheit gemein zu haben. Er war Dilettant nach Schopenhauers Ideal, wagte sich an alles heran und scheute sich niemals, seine eigene Meinung über alle Dinge, die ihm nahe kamen, niederzuschreiben und oft gefährliche Wahrheiten »frei und frech« – wie Goethe so treffend von ihm gesagt hat, – auszusprechen. Alles das war es, was Friedrich Nietzsche zu Stendhal hinzog. Aber der Keltogermane Henry Beyle war stärker und glücklicher als jener Slave; er hatte die Kraft, seinen Egoismus zu den Höhen der Goetheschen Lebensweisheit hinaufzuführen. Stendhal war ein Enthusiast, ein Anbeter der Schönheiten des Lebens und der Künste, den Frauen gegenüber ein unverbesserlicher Idealist, als Künstler ein Schilderer und Gestalter nicht aus einer armen Sehnsucht nach der Fülle und den Höhen des menschlichen Glückes, sondern im überlegenen Vollgenusse des Lebens. Er war den äußeren Ereignissen seines Schicksales allezeit gewachsen, er fand sich mit allen Enttäuschungen des »divin imprévu« ab und blieb immer ein Sieger. »Nicht der Besitz, der Genuß ist alles« lautet ein Grundsatz des Beylismus. Darum liebte ihn Goethe.

Treu der Absicht dieses Bandes, der Stendhal als Essayisten gewidmet ist, enthalte ich mich hier, auf seine Romane und Novellen einzugehen, und wende mich lediglich seinen essayistischen Büchern zu. Und über diese kann man sich kaum ein sachgemäßes Urteil bilden, ohne Stendhals Art zu leben, zu sehen und zu schreiben zu kennen. Stendhals Bücher sind verewigte Erlebnisse, er schrieb nur in der unmittelbaren Nachwirkung des Erlebten.

Nach einer engen freudelosen Jugend in einem Grenobler Patrizierhause mit royalistischer und jesuitischer Atmosphäre und nach einem flüchtigen Aufenthalt in Paris, ritt Henry Beyle im Mai 1800 als Siebzehnjähriger mit dem Nachschub der Armee des Obergenerals Bonaparte über den Sankt-Bernhard. Seine leidenschaftliche Phantasie glühte noch unter den Eindrücken jener galanten Romane des ancien régime, der Romane des Choderlos de Laclos, des Chevalier de Nerciat und anderer; wunderlich dazwischen sproßten in seinem Geiste die modernen Ideen aus der neuen Heloise und gewisse Thesen der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts. Unter abenteuerlichen Träumereien zog er so dem freien Leben entgegen, dem Wunderlande seiner Sehnsucht, der cara Italia, die er dann lebenslang heiß geliebt und zu seinem wahren Vaterlande erwählt hat. Wir lesen an seinem Grabstein auf dem Friedhof des Montmartre in Paris die in seinem Testamente geforderte Inschrift: Arrigo Beyle, Milanese, visse, scrisse, amó. Quest' anima adorava Cimarosa, Mozart e Shakespeare, die nur dem verständlich ist, der selbst Italien liebt. Beyle erhielt durch die Vermittelung seines Vetters, des Intendanten Pierre Daru, zunächst in der Kanzlei des Statthalters der zisalpinischen Republik in Mailand Beschäftigung und bald darauf ein Patent als Kavallerieoffizier. Als im Oktober 1800 eine Leutnantsstelle im sechsten Dragonerregiment frei wurde, gab man sie Beyle und wir finden ihn nunmehr in verschiedenen kleinen Garnisonen der Lombardei. Mit achtzehn Jahren war er Divisionsadjutant. Beyles schöne militärische Laufbahn ist, nebenbei bemerkt, einer der zahllosen Belege dafür, mit welcher Willkür die Generale der Republik, der bürgerlichen Egalité zum Hohn, ihre Schützlinge lancierten. Von Protektionswirtschaft sind also republikanische Armeen durchaus nicht frei.

Wie leicht und farbenreich mußte dem jungen Stendhal damals das Leben erscheinen: im Garten Europas, als Reiteroffizier der glücklichsten Armee, die je auf Erden existiert hat, unter der aufgehenden Sonne des genialen Giganten, in der Gesellschaft skrupelloser schöner Mailänderinnen und zum ersten Male unter den verführerischen Werken der italienischen Kunst. In vollen Zügen genoß er die Natur, die Malerei, die Musik, den Krieg und die Freuden der Eitelkeit. Er erzählt selbst, wie er in Mondnächten oft vor der weißen Marmorschönheit des Mailänder Doms von einer Melodie Cimarosas oder von einer Geliebten einsam geträumt hat.

Als er nach der Beendigung des sogenannten Mincio-Feldzuges von seiner Adjutantur abgelöst wurde, weil nach einer kriegsministeriellen Verfügung nur noch Oberleutnants dergleichen Stellen begleiten durften, mißfiel ihm der Frontdienst in seinem Regiment und die geistlose Lebensweise seiner Kameraden derartig, daß er erst einen längeren Urlaub und, als keinerlei Aussichten auf neue kriegerische Ereignisse am politischen Horizonte erkennbar waren, schnellentschlossen seinen Abschied nahm, kurz vor seiner Beförderung zum Oberleutnant. Er ging nach Paris und widmete sich philosophischen und literarischen Studien, wobei er mit einem Monatszuschuß von hundertundfünfzig Franken, den ihm sein grollender Vater oft nicht einmal pünktlich schickte, ein kärgliches Einsiedlerleben führen mußte. Die französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, deren Studium er sich in diesen Jahren auf das gründlichste hingab, blieb nicht ohne dauernden Einfluß auf seine innere Entwickelung.

Beyles Pariser Stilleben endete im Jahre 1805, als ihn die Liebe zu einer schönen Schauspielerin zu einem Wechsel seines Wohnortes veranlaßte. Wir finden ihn in Marseille, wo er ungefähr ein Jahr lang mit seiner Geliebten zusammen wohnte und ihr zuliebe bei einem Kaufmann eine Stellung annahm. Schließlich endete diese Liebschaft in der nüchternsten Weise; die Enttäuschung darüber und der Unwille seiner Familie über dieses kaufmännische Intermezzo bewogen ihn dann, abermals den Einfluß seines mächtigen Vetters in Anspruch zu nehmen. Er erhielt einen Posten bei der Intendantur der Armee in Deutschland und zwar in Braunschweig, lernte auf seinen zahlreichen Dienstreisen einen großen Teil Deutschlands kennen und nahm am Feldzuge in Österreich teil. Im Herbst 1811 hatte er einen kurzen Urlaub nach Italien, auch Paris sah er mehrfach. Seit dem Jahre 1810 war er, wahrscheinlich durch die Vermittlung einer einflußreichen Geliebten, der Gräfin Palfsy, Auditor im Staatsrat und Generalinspekteur der kaiserlichen Mobilien. Obgleich er in dieser sehr angenehmen Stellung der Armee gänzlich fern stand, setzte er beim Ausbruche des russischen Feldzugs in seiner leidenschaftlichen Liebe zum Kriege und zu abenteuerlichen Erlebnissen dennoch alle Hebel in Bewegung, zur Armee kommandiert zu werden und er wurde schließlich in der Tat dem kaiserlichen Hauptquartier nachgesandt. Er empfängt im Schlosse zu Fontainebleau in einer persönlichen Audienz Briefschaften der Kaiserin an den Kaiser, reist in Eilfahrten der großen Armee über Frankfurt, Berlin, Königsberg nach und erreicht das Hauptquartier am Abend vor dem Übergang des Kaisers über den Dniepr. Nach Erledigung seiner Mission schließt er sich für den weiteren Feldzug dem Stabe seines Vetters, des Grafen und Generalintendanten Pierre Daru an. Er erlebt so die Schlacht bei Borodino, den Brand Moskaus und den unseligen Übergang über die Beresina in der nächsten Umgebung des Kaisers als ein kaltblütig genießender Beobachter der eindruckvollsten Ereignisse des neunzehnten Jahrhunderts. Nach dem russischen Kriege verweilt Beyle mit dem Hauptquartier in Dresden, nimmt an der Schlacht bei Bautzen teil und wird dann Armeeintendant zu Sagan in Schlesien. Da bricht seine Gesundheit unter den Nachwehen der russischen Strapazen zusammen. Ein Nervenfieber zwingt ihn, einen längeren Urlaub zu nehmen, der ihn zum dritten Male nach Italien führt. Mit dem Sturze Napoleons endet auch Beyles Laufbahn.

Die Jahre 1814 bis 1821 verlebt er als epikureischer Dilettant in Italien, zumeist in seinem geliebten Mailand. Das Studium der Renaissance macht ihn zum gründlichsten Kenner dieses Zeitalters und vollendet seine Weltanschauung, während eine große unglückliche Leidenschaft zu einer edlen Frau seinem weltmännischen Charakter eine melancholische Färbung verleiht. Als Beyle Mailand im Jahre 1821 aus politischen Gründen verlassen muß und nach Paris zurückkehrt, ist er nach einer so mannigfaltigen Schulung ein fertiger Mensch, dessen seltsame Eigenart im Spiegel seiner Werke so reizvoll auf uns einwirkt. Seine weiteren Lebensschicksale sind für seine innere Entwickelung ohne Belang. Paris, London, Rom und seine Sinekure als französischer Konsul in Civitá-Vecchia haben seinem Charakter als Mensch wie als Künstler nichts hinzuzufügen.

Diesen Charakter in kurzen Worten wiederzugeben, ist unendlich schwierig. Henry Beyle ist eine Proteusnatur im vollsten Sinne dieses Ausdruckes, voll unendlicher Widersprüche. Sein äußeres Dasein, das Wanderleben eines unsteten Kosmopoliten ohne Konvenienzen und greifbare Ziele, kaum in allen seinen Einzelheiten klar beleuchtbar, geheimnisvoll gemacht durch seine Leidenschaften für Abenteuer, Krieg und Frauen, erscheint vielleicht nur geistesverwandten Idealisten glücklich. Der Charakter des inneren Menschen entspricht seinem wunderlichen äußeren Leben. Die Urteile seiner zeitgenössischen Freunde und Bekannten gehen in den gewichtigsten Punkten auseinander, sobald es gilt, den Menschen Beyle zu zeichnen. Augenscheinlich pflegte er sich selten zu offenbaren; aus Scham vor den zarten Seiten seines Ichs kehrte er seine weltmännischen Seiten absichtlich umsomehr hervor. Er ging in der Plauderei zuweilen bis zum geistreichen Zynismus. Auf den heutigen Betrachter, der sich die Farben zu einem Bildnis Beyles ebenso aus seinen Werken und autobiographischen Fragmenten, wie aus den Überlieferungen anderer zusammensucht, wirkt dieser vielverkannte Charakter mit seinen heimlichen Schönheiten wie ein Porträt eines alten Meisters, dessen Helldunkel die Vorzüge umso reiner hervortreten läßt.

Als Künstler und Schriftsteller ist Stendhal leichter zu beurteilen, denn als Mensch. Hier unterstützen uns aus bereits drei Generationen die Urteile mehr als hundert kunstverständiger kluger Köpfe, die Stendhals Namen begeistert durch ganz Europa getragen haben. Hippolyte Taine hat ihn den größten Psychologen seines Jahrhunderts genannt, und von allen jenen geistvollen Arbeiten sei besonders der schöne Essay von Paul Bourget hervorgehoben. Wer sich mit den zahlreichen Biographien und Studien, die Stendhal gewidmet worden, eingehend beschäftigen will, orientiert sich über die gesamte Stendhalliteratur am besten an der Hand der trefflichen Bibliographie von Adolphe PaupeHistoire des oeuvres de Stendhal. Paris (Villerelle), 1903..

Beyles dichterische Versuche reichen bis in seine Knabenjahre zurück. Merkwürdigerweise versuchte er sich zuerst in einem Genre, zu dem, wenn man nach seinen vollendeten Werken urteilt, nicht die geringste Begabung in ihm steckte. Sein Ideal war es bis in sein Mannesalter hinein, nach dem Vorbilde Molières Komödien zu schaffen. Die Schwäche aller Stendhalschen Bücher liegt aber gerade in der mangelhaften Komposition. Dazu hat er in seinem ganzen Leben keinen leidlichen Vers zustande gebracht, der Grund vielleicht, warum er in instinktiver Abneigung vom Vers nur verächtlich zu sprechen pflegte und behauptete, ihn im Drama beizubehalten, sei ein Rest von Barbarei.

Die tiefen Eindrücke, die genußreichen Stunden, die Beyle der Musik, vorzüglich der italienischen Musik zu verdanken hatte, waren die Ursache, daß seine erste Veröffentlichung – im Jahre 1814 – auf dem Gebiete der Musik fußte. Wie leidenschaftlich er die Musik liebte, beweist deutlich eine Begebenheit seines Lebens. Als er 1813 fieberkrank und kaum reisefähig Sagan verlassen mußte, wandte er sich zunächst nach Dresden in der Hoffnung, dort »in einsamer Ruhe und im Genusse der Künste« Genesung zu finden. Er kam nach einer sehr anstrengenden Fahrt an einem Juliabend im deutschen Florenz, der ihm liebsten Stadt Deutschlands, an. Als er dort vernimmt, daß man in der italienischen Oper seine Lieblingsoper, die »heimliche Ehe« von Cimarosa gäbe, vergißt er Fieber und Müdigkeit, kleidet sich um und eilt dahin.

Stendhals Musikverständnis ist von Musikern bisweilen angezweifelt worden. Oft scheint es, als ob er an der Musik nicht den rein künstlerischen Genuß, sondern vielmehr nur eine gewisse träumerische, anregende Wirkung gesucht und geliebt habe. Vielleicht aber versteht man ihn da doch falsch. Es ist eine Eigentümlichkeit der Seele Stendhals, daß er zum Beispiel im Genusse eines von ihm bewunderten Gemäldes an eine Melodie Mozarts, in der Gegenwart einer schönen Frau an eine Gestalt Tizians oder in der stillen Träumerei vor einer erhabenen Landschaft an ein fernes geliebtes Wesen unwillkürlich zu denken beginnt. Die phantastische Wechselwirkung, diese wunderliche Vermischung von Gegenwart und Vergangenheit vertiefte seine Stimmung. Ähnlich sagt er einmal, eine schöne Landschaft gewänne immer durch historische Reminiszenzen.

Stendhals Erstlingswerk, die »Briefe über Haydn« sind keine selbständige Arbeit, sie lehnen sich bedenklich an zwei vorher erschienene italienische und deutsche Arbeiten über Haydn und Mozart an, wenngleich seine eigenen Gedanken überall leicht erkennbar hindurchschimmern. Er hat dieses Buch später selber nicht hoch eingeschätzt, aber stets den ihm gemachten Vorwurf des Plagiats entschieden zurückgewiesen. Ein italienischer Stendhalianer, der Baron Albert Lumbroso, hat kürzlich einen protestierenden, originellen pseudonymen Brief Beyles an den Verfasser des stark exzerpierten italienischen Buches über Haydn wieder ans Tageslicht gezogenVgl. Lumbroso, Vingt jugements in édites sur Henry Beyle (Stendhal), Florenz, 1902, Seite 18 ff.. Beyles Buch erschien zunächst (1814) unter dem Pseudonym Louis-Alexandre-César Bombet, später (1817) mit dem veränderten Titel »Leben des Haydn, Mozart und Metastasio« unter dem Pseudonym »de Stendhal,« das Beyle, seit 1817 bevorzugte. Unter seinem wirklichen Namen sind, nebenbei bemerkt, nur einige wenige Exemplare der Erstausgabe seiner »Geschichte der Malerei in Italien« in die Welt gegangen, die heute eine große bibliophile Seltenheit sindVon den zwei nachweisbar erhaltenen Exemplaren besitzt eins die königliche öffentliche Bibliothek in Dresden.. Sonst sind alle seine Buch-Werke teils anonym, teils mit dem Decknamen »de Stendhal« erschienen. Seine Briefe pflegte er zumeist mit immer wieder wechselnden Namen zu unterzeichnen. Man kennt ungefähr hundert Pseudonyme Beyles.

Für das vorliegende Buch kam in erster Linie die eben erwähnte »Geschichte der Malerei in Italien« in Betracht. Ursprünglich auf sechs Bände berechnet, ist sie ein Fragment geblieben; die beiden vorhandenen Bände erschienen 1817. Stendhals Arbeit daran läßt sich viele Jahre zurück verfolgen; eine Abschrift des Manuskripts begleitete ihn sogar nach Moskau, aber leider ist die umfangreiche, in Rußland gemachte Bearbeitung auf dem Rückzuge mit Beyles ganzem übrigen Gepäck verloren gegangen. Wie wir dieses Werk haben, ist es mehr ein Abriß des Beylismus von 1817, als eine reine Geschichte der italienischen Malerei. Es ist überhaupt eine Eigentümlichkeit Stendhals, seine stark persönlichen Ideen über alle möglichen anderen Dinge in die Betrachtung über einen bestimmten Gegenstand bunt hindurch einzuflechten.

Die Hauptteile der »Geschichte der Malerei« sind zwei in sich geschlossene Studien, das Leben des Lionardo da Vinci und das des Michelangelo Buonarotti. Stendhals Leben des Lionardo, das in dieser Auswahl ungekürzt aufgenommen worden ist, war zur Zeit der Erscheinung des Buches naturgemäß eine viel wertvollere Studie als für uns, die wir die neueren wissenschaftlichen Arbeiten von Müller-Walde und anderen und vor allem die musterhaften Faksimile-Ausgaben der schwer zugänglichen Manuskripte Lionardos haben. Stendhals Verständnis und Verehrung den Werken wie dem Leben Lionardos gegenüber, um die beide ein so wehmütiger Schimmer schwebt, ist echt und warm und wir stimmen ihm vielleicht nur in seinem Urteile über die Jugendwerke des großen Italieners nicht zu. So vielfach Stendhal das moderne Empfinden vorausahnt und seiner Zeit voraus oft in überraschender Weise bereits besitzt, so teilt er das uns eigene Verständnis für die italienische Malerei vor Lionardo noch nicht mit uns. In den Bildern des Verrocchio, des Lehrers von Lionardo, sieht er zum Beispiel nur eine kalte trockene und kleinliche Darstellung und auch in den Jugendbildern Lionardos findet er nichts als jenen ihn nicht ansprechenden Stil Verrocchios wieder. Auch die richtige Schätzung Botticellis fehlt ihm. Darin ist er doch allzusehr ein Kind seiner Zeit.

Michelangelo stand zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht in Gunst, wie aus den befremdenden Urteilen eines de Brosses, Shelley und Schnorr von Carolsfeld hervorgeht, die Arthur Chuquet in seiner Stendhalbiographie aufführt. Aber Stendhal entfernt sich bereits stark von der allgemeinen Abneigung seiner Zeitgenossen. Von seiner Analyse des jüngsten Gerichts hat Delacroix gesagt: »Sie ist genial, ich habe keine gelesen, die poetischer und frappanter wäre ....« Man findet sie in der vorliegenden Auswahl.

Die hier ebenfalls wiedergegebene Einleitung zur Geschichte der Malerei kennzeichnet Stendhals Begeisterung für das italienische Mittelalter, dessen großartige Charaktere ihn viele Jahre lang zu Vorstudien zu einer »Geschichte der Energie in Italien« veranlaßt haben. Stendhal war der erste gründliche Kenner und Versteher des Zeitalters der Renaissance, der Vorläufer von Jakob Burckhardt, der wiederum ein dankbarer Verehrer Stendhals gewesen ist.

Im gleichen Jahre wie die »Geschichte der Malerei in Italien« erschienen Stendhals Reiseskizzen »Rom, Neapel und Florenz«. Es ist das Buch, über das Goethe in einem Briefe an Zelter vom 8. März 1818 schreibt: »Vorstehendes sind Auszüge aus einem seltsamen Buche Romes, Naples et Florence, par M. de Stendhal, officier de cavalerie, Paris 1817 – das Du Dir notwendig verschaffen mußt. Der Name ist angenommen, der Reisende ein lebhafter Franzose, passioniert für Musik, Tanz, Theater. Die paar Pröbchen zeigen Dir seine freie und freche Art und Weise. Er zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so kann man ihn nicht loswerden. Man liest das Buch immer wieder mit neuem Vergnügen und möchte es stellenweise auswendig lernen. Er scheint einer von den talentvollen Menschen, die als Offizier, Employé oder Spion, wohl auch alles zugleich, durch den Kriegsbesen hin und her gepeitscht worden. An vielen Orten ist er gewesen, an anderen weiß er die Tradition zu benutzen und sich überhaupt manches Fremde anzueignen. Er übersetzt Stellen aus meiner »Italienischen Reise« und versichert, das Geschichtchen von einer Marchesina gehört zu haben. Genug, man muß das Buch nicht allein lesen, man muß es besitzen.«

Dieses Buch, auf dessen Titel Beyles berühmt gewordenes Pseudonym von Stendhal zum ersten Male und zwar mit dem merkwürdigen Zusatz »officier de cavalerie« erscheint, hat Stendhal später umgearbeitet und zu zwei Bänden erweitert neu herausgegeben, nicht ohne dabei die ursprüngliche Frische der ersten Ausgabe stark zu verwischen.

Zwölf Jahre später veröffentlichte er in seinen »Spaziergängen in Rom« gewissermaßen eine Fortsetzung seiner ersten Italienschilderung. Sie sind länger als eine Generation hindurch der beste und geistvollste Romführer gewesen.

Zwei, auf den Umschlägen Stendhalscher Bücher mehrfach und sogar mit Angabe des Ladenpreises aufgeführte weitere Werke Beyles, und zwar: »Del Romanticismo nelle Arte« (Florenz, 1819), sowie eine »Vie de Canova« (Livorno, 1822), scheinen nie existiert zu haben.

Es folgte 1822 Stendhals berühmtes Buch »Über die Liebe«, das dem Biographen wichtige Aufklärungen über das Thema Stendhal und die Frauen gibt. Es spiegelt seine unglückliche Leidenschaft zu einer schönen Mailänderin wieder, der Generalin Mathilde Dembowska, in deren Bann er seit 1818 lag. Es ist größtenteils in Italien geschrieben und verherrlicht die Liebe und die Frauen dieses Landes. Gewisse Gedanken darin gleichen den modernsten Ideen der heutigen Frauenbewegung und dürften diesem Buche einen Platz in der Geschichte dieser Bestrebungen einräumen.

Während des Pariser Aufenthalts, wiederum eng mit seinen eigenen Erlebnissen verknüpft, entstand das »Leben Rossinis« das 1824 erschien. Es war die erste Biographie des Maestro, die viel zur Vermehrung von Rossinis jungem Ruhme in Italien, Frankreich und Deutschland, – eine deutsche Bearbeitung erschien bereits im selben Jahre – beitrug. Beyle schrieb sie, angeregt durch eine Freundin, die berühmte Sängerin Giuditta Pasta.

Gleichfalls in Paris verfaßte Stendhal eine vielgenannte Streitschrift »Racine und Shakespeare«, die in zwei Teilen 1823 und 1825 erschien.

Stendhals drittes und letztes touristisches Buch, das 1838 erschien, trägt den Titel »Tagebuch eines Reisenden.« Er schildert darin Süd-Frankreich in der Rolle eines Reisenden in Eisen, eines unverkennbaren Ahnen des Friedrich Thomas GraindorgeVie et opinions de M. Frédéric-Thomas Graindorge von Hippolyte Taine.

Was schließlich Stendhals nachgelassenes Buch über Napoleon Bonaparte anbelangt, so ist über das Verhältnis Beyles zu seinem Kaiser viel Unrichtiges geschrieben worden. Stendhal gilt als ein Feind des Heroenkults. Er war tatsächlich ein eingefleischter Gegner alles dessen, was die allgemeine Menge verherrlicht, und seine Bücher sind auch nicht frei von bitteren und feindseligen Stellen gegen den großen Korsen, aus denen die meisten Biographen Stendhals eine feindschaftliche Abneigung gegen Napoleon konstruiert haben. Solange Napoleons Stern strahlte, unterdrückte Stendhal seine Bewunderung für Napoleon, erst nach 1814, als die mehr oder weniger aufrichtige Vergötterung des Helden von Marengo, Jena und Wagram in Haß und in oft undankbare Verleumdung umschlug, leugnete Stendhal seine heimliche Schwärmerei für den nunmehr so unglücklichen Kaiser weder vor sich selbst noch vor anderen. Die seltsame Widmung seiner Geschichte der Malerei, Stellen aus seinen Briefen und noch mehr sein Napoleonbuch und der Enthusiasmus des Julian Sorel und des Fabrizzio in »Rot und Schwarz« und in der »Kartause von Parma« legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Stendhal sagt in einem selbstverfaßten Nekrolog von sich selbst: »Er hatte nur vor einem einzigen Manne Respekt, vor Napoleon.«

Diese kurze Betrachtung der essayistischen Bücher Stendhals kann nicht ohne ein Wort über Stendhals Stil beschlossen werden.

Der Stil Stendhals entspringt seinem innersten Charakter. Wie er als Mensch sich nie vor anderen offenbart hat, so vermeidet er auch als Stilist, gleichsam aus der strengsten Selbstbeherrschung herauszugehen. Sein Stil ist ruhig und glatt wie der Spiegel eines einsamen tiefen Sees. In seinen Reiseschilderungen ist er bestrebt, den vornehmen Plauderton eines Weltmannes zu treffen, in seinen Abhandlungen verwendet er die kühle Sprache eines Diplomaten. Sein stilistisches Ideal ist, klar und knapp zu sein. Er verlangt von einem guten Stil, daß er nicht durch sich auffalle, daß er Ideen, keine Phrasen habe. Pathos und Emphase haßt und verachtet er. Und selbst seine Romane wollte er in der Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches schreiben. Er, einer der größten Enthusiasten, hat somit den nüchternsten Stil.

Uns scheint es, als habe er darin keinen schlechten Geschmack gezeigt. Vielleicht würde er heute nicht von neuem gelesen, wenn er in der oft schwülstigen Weise seiner einst so berühmten Zeitgenossen, im Stile eines Chateaubriands, eines Ségur, einer George Sand geschrieben hätte.

Stendhal hat nie auf den Beifall der großen Menge gerechnet. Sein Traum war es, zu allen Zeiten in Europa hundert Leser zu haben, die ihn liebten und die er wieder liebe. Er hat diese winzige Schar bei Lebzeiten und ein Menschenalter lang nach seinem Tode (1842) kaum gehabt. Dann aber gingen seine Wünsche und Prophezeiungen in Erfüllung und heute hat er seine geliebten hundert Leser, Freunde, die ihm mitten im Ozean der uferlosen zeitgenössischen Literatur eine stille Insel geweiht haben.

Auerbach im Vogtlande, im Juli 1904.

Artur Schurig.


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