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Der Wartesaal der Station, von welcher die kurze Zweigbahn nach dem Städtchen am See lief, war heute abend überfüllt. In der benachbarten größeren Stadt an der Hauptbahn war Jahrmarkt gewesen; man befand sich jetzt auf der Rückfahrt und wartete auf den Schnellzug, der von Osten kam. Er pflegte keine oder nur sehr wenige Passagiere zu bringen; man raisonnierte an den Tischen sehr über die Verwaltung, welche um eines so geringfügigen, überdies völlig fraglichen Vorteils willen ein paar hundert ordentliche Leute, die der Bahn jahraus, jahrein zu verdienen gäben, eine Stunde später als nötig zu ihrem Abendbrot kommen lasse. Es ging auch sonst überlaut zu. Man hatte schon in den Bierhäusern und Jahrmarktsbuden der Stadt ein übriges gethan, und die Wartestunde hier wollte doch hingebracht sein. Zwei Kellner und ein Junge waren in fieberhafter Thätigkeit; der dicke Wirt hinter dem Bierfaß am Büffett und die Wirtin mit ihrer Tochter hinter den Butterbrotschüsseln hatten schier den Kopf verloren.
Eleonore blickte von ihrer Ecke in der Nähe einer der Ausgangsthüren durch die blauen Tabakswolken, die den niedrigen Raum bis an die Decke füllten, mechanisch in das wüste Treiben, dessen Lärm nur wie aus weiter Ferne ihr Ohr berührte. Sie wußte nicht, wie lange sie so schon gesessen hatte oder noch zu sitzen haben würde. Es war auch einerlei, ob sie eine Stunde früher oder später nach dem Städtchen am See kam, wo sie die Nacht bleiben wollte. So hatte sie noch von Berlin aus an die Gräfin depeschiert, und daß sie bitte, Guido von ihrem Kommen nicht zu unterrichten. Die Gräfin mochte annehmen, daß es auf eine Ueberraschung abgesehen sei. Eine herrliche Ueberraschung, zu gestehen, daß der Brief, den sie am Sonntag nach Wendelstein geschrieben, von Anfang bis zu Ende eine Lüge gewesen; daß sie gelogen, als sie Guido die Zusage machte, seine Gattin werden zu wollen; ihn bitten müsse, ihr ihr Versprechen zurückzugeben; die Mutter bitten müsse, das Vertrauen, das sie ihr geschenkt, die Liebe, mit der sie sie überhäuft, als an eine Unwürdige verschwendet zu betrachten!
O, die Schmach dieser Erniedrigung vor einer Frau, die sie so hoch verehrte! Ein Kelch, zu trinken bitter wie der Tod!
Und wenn die hohe Frau in diesem reuigen Geständnis nur die Zweifelsqualen sah, durch welche einst sie selbst in ganz derselben Lage sich hatte kämpfen müssen, um schließlich doch zu siegen, doch eine treue Gattin, eine gute Mutter zu werden, die jetzt, als Greisin, mit wehmütigem Stolz zurückschauen durfte auf ein langes, in Wohlthun verbrachtes, makelloses Leben – wie dann? Würde sie den Mut finden, zu sagen: dann hattest du eben eine andre Ansicht von der Heiligkeit der Liebe, oder deine Liebe blieb so weit hinter der meinen zurück? Aber wenn sie ihn nicht fand, diesen Mut? ihren Nacken bog unter das Joch, das die sanften starken Hände ihm auferlegten? sie sich einlullen ließ von der Weisheit, welche die balsamische Heilkraft der Zeit pries, unter der sich die herbsten Wunden schließen? überlisten ließ von der Klugheit, die lächelnd an die wohlthätige Macht der Entfernung mahnte, welche man zwischen sich und dem geliebten Gegenstande aufrichten werde, bis die Erinnerung verblaßt sei und das Herz in einem neuen Takt zu schlagen gelernt habe? Was dann?
Doch wieder der Tod, nur in andrer, noch fürchterlicherer Gestalt: in der der seelenmörderischen, herzzermalmenden Sklaverei einer liebeleeren Ehe!
Eleonore schreckte aus ihrem dumpfen Brüten auf: die Fensterthür, in deren Nähe sie saß, klapperte in dem Sturm, der sie schon während der ganzen Fahrt begleitet hatte; ein wilder Regenguß klatschte und prasselte gegen die Scheiben. Die Laternen auf dem Perron, der vor den Fensterthüren hinlief, brannten schon seit einiger Zeit; jetzt wurden auch die Gasflammen in dem Wartesaal angezündet, zu großer Beruhigung einiger Mütter, deren Kinder sich in dem Halbdunkel zu fürchten angefangen hatten. Der Lärm war noch größer geworden; der Bahnhofinspektor, dessen rote Mütze ein paar Minuten lang vor dem Büffett sichtbar gewesen war, hatte die Nachricht gebracht, daß der Zug von Osten eine halbe Stunde Verspätung habe; es könnten auch vierzig Minuten werden. Das hatte noch gerade gefehlt! Und das Hundewetter dazu! So viel Verdrießliches auf einmal konnte nur mit dem doppelten Quantum von Bier und Grog wirksam bekämpft werden!
Ein Handlungsreisender, der die einsame, verschleierte Dame in der Ecke schon lange beobachtet hatte, faßte sich endlich Mut, nahm in angemessener Entfernung neben ihr auf der schwarz überzogenen Bank, die sich an der Wand hinzog, Platz und versuchte eine Unterhaltung anzuknüpfen: der Aufenthalt in einem solchen menschenüberfüllten, schlecht ventilierten, schlecht beleuchteten Saal sei doch eine Pein, die einem, gebildeten Menschen von Rechts wegen nicht zugemutet werden dürfe. Uebrigens werde er sich beschweren, daß in diesem Nest nicht einmal ein separates Wartezimmer für die Reisenden zweiter Klasse existiere. Und vielleicht sei das gnädige Fräulein erste Klasse gefahren? wenigstens habe er in der zweiter Güte, mit der sich ein simpler Kaufmann begnügen müsse, nicht den Vorzug gehabt. Ob das gnädige Fräulein sich länger in dem Städtchen am See aufzuhalten gedenke? Er komme zum erstenmale dahin. Es solle ein sehr netter Ort sein, in dem eine Menge charmanter Menschen lebten. So habe er sich von einem Fest erzählen lassen, das man dort alljährlich am fünfzehnten September zu Ehren des Sees feiere, und bei dem es ungeheuer nett und charmant hergehen solle.
Der Handlungsreisende, den eine einseitige Unterhaltung auf die Dauer ermüdet haben mochte, war verschwunden.
An seiner Stelle saß ein altes Mütterchen, das von Zeit zu Zeit still vor sich hinweinte. Eleonore mußte ein paarmal fragen, was ihr fehle, bevor sie eine lange Geschichte auf Plattdeutsch erzählt bekam, von der sie nur so viel verstand, daß die alte Frau von dem Besuch einer Tochter in der Nachbarstadt heimkehre, die dort an einen Tischler verheiratet sei, der die Schwindsucht habe, während sie von einem vierten Wochenbett gar nicht wieder zu Kräften kommen könne. Da habe sie denn eine kleine Summe, die sie in der Stadt zu erheben gehabt, bei der Tochter lassen müssen, worüber sie nun in großer Not und Sorge sei wegen ihrer Wohnungsmiete am ersten Oktober, der doch vor der Thür stehe, während sie um Lebens und Sterbens willen nicht wisse, woher sie das Geld auftreiben solle. Eleonore fragte, wie viel es sei? Die Alte nannte eine geringfügige Summe. Eleonore wollte sie ihr geben. Die Alte erklärte mit Entschiedenheit, sie könne das Geld nur unter der Bedingung nehmen, daß ihr das Fräulein die Möglichkeit gewähre, es seinerzeit zurückzahlen zu können. Eleonore nannte nach einigem Zögern einen erdichteten Namen und eine fingierte Adresse. Was konnte sie anders thun? Hatte sie doch auf Erden nur noch ein Geschäft; ihre Rechnung mit der Gräfin und Guido zu ordnen.
Die Alte war nach vielen Danksagungen gegangen, sich an einen der Tische zu setzen, wo sie einer Gevatterin das Glück, das ihr begegnet, zu erzählen schien. Wenigstens deutete sie, sich zwischendurch die verweinten Augen wischend, wiederholt verstohlen nach dem Platz, wo Eleonore saß.
Eleonore hatte, während die Alte ihre Klagen murmelte, immer an die Tante denken müssen, von der sie heute fast in Unfrieden geschieden war, weil sie den kleineren Koffer, der nichts als Guidos Geschenke enthielt, und den großen mit ihrer Garderobe nicht hatte mitnehmen, sondern nur mit einer Handtasche nach Wendelstein gehen wollen. Auch die Tante hatte eine kranke Tochter; auch ihr drohte in nächster Zeit die Vertreibung aus einer Behausung, mit der sie im Laufe der Jahre verwachsen war; auch dort der chronische Mangel an Geld. Dieselbe Not, derselbe Jammer, nur in eine höhere Sphäre gerückt und in demselben Maße verschlimmert. Wächst doch das Elend mit der feineren Empfindung dessen, der im Elend ist! Was ein Mensch zu ertragen vermag, kann niemand beurteilen als er allein. Und sie, die mit sklavischer Demut alles ertragen, sollen sich nicht das Richteramt anmaßen über stolze Seelen, die, wie Wera, das Leben von sich thun, wenn es Wert und Würde für sie verloren hat!
Endlich der Donner des Schnellzuges, der vor dem Perron hält und zischend den Dampf ausläßt. Die Menschen raffen ihre Siebensachen zusammen und drängen nach den Fensterthüren, die verschlossen bleiben: der Schnellzug muß erst wieder fort, bis der Personenzug nach dem Städtchen am See vorrücken kann. Jetzt die Thüren auf! Sturm und Regen herein! Und in den Sturm und Regen hinaus stürzen die Ungeduldigen mit wildem Drängen und Stoßen, auf den Perron, in die Coupés, die bald überfüllt sind.
Auch das erster Klasse, in welchem Eleonore allein zu bleiben gehofft hatte: bei dem Andrange und dem Wagenmangel, erklärte der Schaffner, müsse jeder Platz besetzt werden. Eleonore drückte sich in ihre Ecke und zog den Schleier dichter über das Gesicht. Die neuen Insassen begannen eine überlaute Unterhaltung, in welcher der Handlungsreisende, der sich auch eingedrängt hatte, das große Wort führte, vermutlich, Eleonore zu beweisen, daß sein Lebensmut durch ihre Zurückweisung keineswegs geknickt sei. Er erging sich endlich gar in groben Scherzen und Zweideutigkeiten, bis ein älterer Mann ihn sehr energisch in seine Schranken wies.
Trotzdem der Zug, der sich niemals beeilte, heute noch gegen den immer stärker sich erhebenden Sturm anzukämpfen hatte, war die kurze Strecke nach dem Städtchen am See doch verhältnismäßig schnell zurückgelegt. Auf dem winzigen Bahnhof, in dessen Lichtern man ein kleines Stück des Sees mit schaumbedeckten Wellen sah, ein Hasten und Drängen nach den vier Omnibussen der Gasthöfe, besonders nach dem des vornehmen »Berliner Hofes«. Eleonore hatte den Namen wiederholt in Seehausen nennen hören und dort zu logieren gedacht. Der ältere Mann, der sich ihrer im Eisenbahnwagen angenommen und im Omnibus neben ihr zu sitzen gekommen war, meinte, das werde schwer halten, wenn das Fräulein nicht vorher um Quartier telegraphiert habe. Für den Viehmarkt morgen seien schon heute die ferner wohnenden Gutsbesitzer und Händler scharenweise herbeigeeilt; die Gasthöfe pflegten in diesen Tagen überfüllt zu sein.
Die Befürchtung erwies sich als begründet. Herr Meink, der in Person an den Wagen kam, erklärte, daß er nur die Herrschaften, welche vorher bestellt hätten, aufnehmen könne. Eleonore, die bereits ausgestiegen und in das Haus getreten war, fragte auf dem Flur die Wirtin, indem sie zugleich ihren Namen nannte und hinzufügte, daß es sich für sie nur um diese eine Nacht handle, ob sie keinen Rat wisse? Die Wirtin war untröstlich. Sie hatte Eleonore während der Seehauser Tage einmal mit der Generalin im Städtchen gesehen, jetzt sofort wiedererkannt und selbstverständlich, wie alle Welt, in ihrer Verlobung mit dem Grafen Wendelin das große Ereignis der Saison bewundert. Und sie nun wegschicken sollen! Aber es war auch nicht eine Handbreit Raum im ganzen Hause mehr frei: gute Stube, eheliches Schlafgemach, Kinderstube – alles ausgeräumt! Sie möchte sich darüber die Haare ausraufen! Wenn das gnädige Fräulein doch nur ein Wort vorher gesagt hätten!
Herr Meink, der herzutrat, war nicht weniger bestürzt, hatte aber dann doch einen Einfall, den er selbst für einen sehr glücklichen erklärte. Eben war vor dem Hause der Wagen von den »Drei Hechten« am See – das gnädige Fräulein kenne das Haus ja von dem Seefeste her – vorgefahren: ein geschlossener Wagen, in welchem Doktor Balthasar zu einem erkrankten Kinde von Frau Blandow – nebenbei seiner rechten Cousine – geholt sei, und der nun leer zurückgehe. Der Kutscher lasse sich nur eben einen Schnaps geben, der ihm freilich bei dem abscheulichen Wetter zu gönnen sei. Wenn das gnädige Fräulein sich vor dem Wetter nicht fürchte – wozu übrigens gar keine Veranlassung – und es ihr auf ein Stündchen Fahren nicht ankomme –
Eleonore ließ Herrn Meink nicht ausreden: sie bitte ihn dringend, alles Nötige sogleich veranlassen zu wollen. Herr Meink eilte davon; Frau Meink zog Eleonore in das Speisezimmer und nötigte ihr eine Tasse heißen Thees auf, als auch schon ihr Gatte zurückkam und meldete, daß alles für das gnädige Fräulein bereit sei. Der Kutscher sei der alte Christian. Er behaupte, in der Nacht des Festes das gnädige Fräulein über den See gerudert zu haben, und sei ganz stolz darauf, sie nun wieder fahren zu dürfen. Das gnädige Fräulein wolle nicht vergessen, im Seewirtshaus daran zu erinnern, daß man morgen früh auf die Equipage der Frau Gräfin achthaben solle, damit sie nicht vorüber- und unnötigerweise bis zum Städtchen fahre. »Bitte um unsre devoteste Empfehlung an den Herrn Grafen-Bräutigam!« rief Frau Meink. »Desgleichen an die gnädige Frau Gräfin-Mutter, die uns nun leider schon seit Jahren nicht mehr mit ihrem Besuch beehrt hat!« fügte Herr Meink hinzu, während er Eleonore unter einem Schirm zum Wagen geleitete, dessen Thür Christian öffnete und schloß, um dann auf den Bock zu klettern und über das holperige Pflaster des Marktes und der Gassen des Städtchens davonzurasseln.
Hinein in die Nacht, die in rabenschwarzer Finsternis das Land bedeckte. Kaum daß aus allernächster Nähe im Schein der Wagenlaternen die undeutlichen Umrisse eines Baumes, eines Hauses für einen Moment sichtbar wurden. Dazu hatte sich der Sturm, der, als die Fahrt begann, wesentlich nachgelassen zu haben schien, so daß Herr Meink erklärt hatte, das Unwetter sei vorüber, wieder zu seiner vollen Gewalt erhoben. Die beiden starken Pferde hatten jeden Muskel zu spannen, sollte der Wagen in Bewegung bleiben oder nicht gar umgeworfen werden, und Christian brummte einmal über das andere heimlich in seine Bartstoppeln: »Wenn das man gut geht!«
Indessen wurde es, wie Christian vorausgesehen hatte, besser, als der Wald erreicht war. Mochte der Sturm oben weiter wüten, unten war es verhältnismäßig still. Die Finsternis hatte freilich womöglich noch zugenommen, aber Christian kannte jeden Fußbreit des Weges, und die Laternen waren glücklicherweise nicht erloschen.
Für Eleonore war es ein Labsal, endlich wieder allein zu sein. Sie hatte sich müde gedacht an dem, was kommen mußte, und ihr Geist schweifte in die Vergangenheit zu den paar Wochen, in denen sie sich einzig gelebt zu haben schien: den Wochen von Norderney. Vielleicht war es der Donner des Sturmes in den Wipfeln der Bäume, der ihr den Donner der Brandung am Strande in das Gedächtnis gerufen hatte. Den Donner der Brandung an jenem Abend, als er in ihr Leben getreten war, um dessenwillen sie nun aus dem Leben scheiden wollte. Es würde ja doch, so oder so, das Ende sein. Ihr armes, gequältes Herz würde dann sicher Frieden haben und vielleicht auch das seine Ruhe finden. Dem Manne ist die Liebe nicht alles, sie wird es auch ihm nicht sein; ein schöner Traum nur, über den man nach ein paar Jahren lächelt, daß man ihn je ernsthaft und für die Wirklichkeit selber nehmen und wähnen konnte, er sei wert, daß man an ihn sein Leben setze. Das Leben mit seinen tausend Lockungen zu neuem Genießen! Und schlimmsten Falles, will des Traumes Nachklang nicht enden – da ist die Arbeit, aus der man ein Morphium für den Tag macht, ein schmerzstillendes, sehnsuchtlinderndes, grambetäubendes. Ich habe keine solche Arbeit: mit Kinderwarten und Gesellschafterinspielen ist es nicht gethan. Wenn ich eine Dichterin, eine Künstlerin wäre! Meine Kunst und Poesie ist die Liebe: aber es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht – verdorben – gestorben. Mag's sein, wenn nur er gerettet wird! –
Christian atmete erleichtert auf, als der Wagen aus dem Walde auf die große Lichtung bog und er von dem Eingangsthor des Vorplatzes die beiden Laternen und aus dem Hause die Lichter schimmern sah. Zwar der Sturm, der von dem See her kam, packte hier noch einmal weidlich zu; nur für ein paar Minuten, dann hielt der Wagen vor dem Hause. Herr Blandow, der an die Thür gekommen und von Christian verständigt war, wen er als Gast bringe, half dem gnädigen Fräulein dienstfertig heraus. Vor einer Stunde erst hatte er den reitenden Boten aus Wendelstein gesprochen, der nach der Stadt ritt, zu melden, daß morgen früh Punkt neun Uhr die Equipage der Frau Gräfin zur Abholung des gnädigen Fräuleins vor dem »Berliner Hof« halten werde. Christian sagte, er sei einem zu Pferde zwischen der Stadt und dem Walde begegnet. Frau Blandow, die herzukam, war ganz Freude und Rührung, das gnädige Fräulein so bald wieder zu sehen, noch bevor es Frau Gräfin geworden! Wer hätte das gedacht in der Festnacht, als sie dem gnädigen Fräulein das Umschlagetuch aufnötigte zu der Fahrt über den See! Das arme, gute Fräulein Clementine, die so früh sterben mußte! Was die wohl für eine Freude gehabt hätte, wenn sie das gnädige Fräulein als Frau Gräfin hätte begrüßen können: Nun werde sie sich freilich im Himmel darüber freuen. Aber schade, jammerschade wär's doch!
So plauderte die behagliche Frau, während sie Eleonore die Treppe hinauf in den oberen Stock zu einem der wenigen Zimmer führte, die heute noch unbesetzt seien. Sonst sei das ganze Haus voll von Leuten, die morgen zu dem Markt in die Stadt gewollt hätten und lieber hier übernachteten, als in dem Unwetter durch den Wald zu fahren oder zu reiten. Das Zimmer sei freilich das letzte auf dem Korridor, aber dafür ganz still, zumal das nebenan heute gewiß nicht mehr besetzt werden würde. Der Sturm vom See werde wohl ein bißchen mit den Fensterläden klappern, dafür habe das gnädige Fräulein morgen früh die prächtige Aussicht. Was das gnädige Fräulein zum Abendbrot wünschten?
Eleonore bat um irgend etwas, das sie auf dem Zimmer haben könne. Davon wollte Frau Blandow nichts wissen. Ob sich das gnädige Fräulein auf dem kalten Zimmer den Tod oder wenigstens eine schreckliche Erkältung holen und mit der nach Wendelstein morgen weiterfahren wolle? Erst müsse einmal tüchtig geheizt werden und das gnädige Fräulein unten im Speisesaal in einer behaglichen Ecke, wo sie niemand stören solle, ein ordentliches Abendbrot einnehmen. Von der Liebe allein könne der Mensch nun einmal partout nicht leben. So viel wisse sie auch noch, wenn sie freilich jetzt andre Dinge im Kopf habe. Kurios, daß Linchen, die sich übrigens wieder ganz wohl befinde, gerade heute krank werden mußte! Sie sei so ärgerlich gewesen, und da habe das kranke Kind ihr einen so lieben Gast gebracht! Nun aber nehme sie das gnädige Fräulein gleich mit hinunter; heute abend sei in der Küche alles fertig. –
Während Frau Blandow Eleonore auf ihr Zimmer brachte, war vor der Hausthür ein Reiter in langem Regenrock vom Pferde gestiegen, das er einem Knecht übergab mit der Weisung, es sorgfältig abzureiben. Dann war er ins Haus getreten und stand auf dem Flur, als eben wieder Herr Blandow eilfertig aus dem Speisesaale kam.
Mein Gott, Herr Baron! wo kommen Sie so spät her?
Von meinem Vorwerk, erwiderte Ulrich, das Wasser von seiner Mütze schwenkend und sich mit Hilfe Herrn Blandows des Regenrocks entledigend. Pasedag ist im Manöver; da muß ich schon selbst überall nach dem Rechten sehen. Wollte noch zum Abend in die Stadt, wo ich morgen früh zu thun habe. Das Wetter wurde mir zu arg.
Das sollt' ich meinen, sagte Herr Blandow; richtiger Aequinoktiensturm! Nun beehren mich der Herr Baron natürlich für die Nacht?
Wenn Sie noch Platz haben. Mir scheint, Sie haben das Haus bis unter das Dach voll.
Für den Herrn Baron ist immer Platz! So, da bringt der Hans auch schon Ihr kleines Felleisen. Man sieht immer, daß der Herr Baron Soldat gewesen sind. Ich lasse es, wenn es dem Herrn Baron recht ist, gleich auf Ihr Zimmer tragen, und der Herr Baron kommen so lange in den Speisesaal, bis ich oben ordentlich habe heizen lassen.
Trocken bin ich soweit, sagte Ulrich lächelnd. Wenn ich Ihnen in meinem Aufzuge vor ihren Gästen sonst keine Schande mache –
Der Herr Baron sind immer der Kavalier! sagte Herr Blandow, Ulrich mit einer Verbeugung die Fensterthür zum Speisesaale öffnend.
Ulrich trat zurück, der Dame den Vortritt zu lassen, die eben mit Frau Blandow von der Treppe her über den Flur kam.
Die Dame wollte mit einer leichten Neigung des Kopfes an ihm vorüber, als sie, einen leisen Schrei ausstoßend, stehen blieb.
Ah! Sie mein gnädiges Fräulein! sagte Ulrich trotz seines mächtigen Erschreckens mit schneller Fassung. Das nenne ich wahrlich einen glücklichen Zufall. Wollen Sie mir die Gnade erweisen?
Eleonore nahm schweigend seinen Arm.
So betraten sie den Speisesaal.