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Sechstes Kapitel.

Die Chaussee, sich in der Nähe des Sees haltend, der von Zeit zu Zeit durch die Bäume blinkte, führte fast beständig durch dichten Forst. Der immer wenig frequentierte Weg war an diesem heißen Sommertage völlig verödet. Außer ein paar keuchenden Fußgängern überholte Ulrich nur die Post, welche sich an den Zug anschloß, den die seit Jahren vollendete Zweigbahn am Spätnachmittage vom Städtchen zur Hauptbahn entsandte. Sonst tiefe Stille; selbst das Geräusch der Pferdehufe verschlang der dicke Staub des Sommerweges. Oben in den Wipfeln mochte sich dann und wann ein leichter Luftzug regen, der vom See herstrich; unten herrschte ununterbrochen eine betäubende Schwüle. Gerade so war es gewesen an jenem Abend in Norderney, als er von der Weißen Düne zurückkam. Gerade so wie jetzt hatte er den Druck, der auf seiner Seele lag, als physischen Schmerz am Herzen empfunden. Aber dann war der Sturm gekommen und hatte sie ihm geschenkt, sein holdes, sein angebetetes Mädchen; und er gewähnt, nun sei der strahlende Tag angebrochen, der ihn entschädigen solle für die lange dunkle Leidensnacht. Der selige Traum, wie bald war er ausgeträumt!

Nein und tausendmal nein! Das konnte kein Traum gewesen sein! Dies und was vorher gewesen, war ein wüster Traum; jenes – das wahre, glühende Leben, das nur hatte verschwinden können, weil die erste entzückte Ueberraschung ihn ganz der Fassung beraubt hatte.

Es sollte nicht wieder geschehen, beim Himmel! So knabenhaft blöde und ungeschickt sollte ihn das Glück nicht zum zweitenmal finden! Es würde wiederkommen in derselben süßen Gestalt. Dann würde er es festhalten, würde sie festhalten, die Geliebte, sie nicht wieder aus seinen Armen lassen, und sollte er sich den Tod an ihren Küssen trinken!

Und wie ihm nun mit unheimlicher Deutlichkeit die Erinnerung jener seligen Minute zurückkam, als er Eleonore im abendlichen Garten des kleinen Fischerhauses in seinen Armen gehalten und ihre Küsse getrunken, überfiel ihn die Sehnsucht nach ihr mit so fürchterlicher Gewalt, daß er laut aufschrie. Und dann gab er Robin die Sporen und jagte weiter durch den Wald, als harrte seiner am Ausgang das verlorene Glück.

Aber die rasende Eile brachte ihn nur eine Viertelstunde früher zum Städtchen, dessen öde Gassen er nun auf dem holprigen Pflaster langsam durchritt, bis er auf dem kleinen Marktplatz vor Hermann Meinks Gasthaus »Berliner Hof« von dem triefenden Pferde stieg. Er hatte Hertha gesagt, daß er Geschäfte in der Stadt habe, und damit eine Konsultation bei seinem Rechtsanwalt gemeint in einem Grenzstreit, den während seiner Abwesenheit ein immer schwieriger Nachbar nach Pasedags Aussage vom Zaun gebrochen. Ihm graute vor dem Gedanken, in seiner augenblicklichen Stimmung die widerwärtige Sache ausführlich durchsprechen zu sollen; aber er war doch nun einmal hier, und Robin mußte eine Stunde Ruhe haben. So machte er sich auf den kurzen Weg zu Doktor Michaelis, dessen junge Gattin mit einer Freundin auf der Bank vor der Thür saß. Der Doktor selbst war nicht zu Hause, bereits seit einer Stunde auf der Ressource, wo die Offiziere der Schwadron einem Kameraden, der zur Kriegsschule kommandiert war und morgen früh fortging, eine Abschiedsbowle gaben, bei der ihr Mann, als Reservelieutnant des Regiments, nicht fehlen durfte. Ulrich dankte der Dame für ihre Mitteilung und lehnte ihr Anerbieten, den Gatten holen zu lassen, höflich ab: die Sache habe gar keine Eile; er werde morgen und dann zu gelegenerer Zeit wieder in die Stadt kommen.

Er ging die Gasse weiter. Sie mündete auf einen kleinen, mit Bäumen bepflanzten und Ruhebänken versehenen Platz, wo man die ganze Länge des Sees vor sich hatte, nebenbei die Stelle, die man in der Stadt meinte, wenn man vom »Hafen« sprach: ein paar in den See hineingebaute längere Brücken, an und zwischen denen der Remorqueur, zwei dem Kommerzienrat Blank und dem Offizierklub gehörende Jachten, ein halbes Dutzend große Kornböte und ein paar Dutzend größerer und kleinerer Ruderböte angekettet waren.

Ulrich setzte sich auf eine leere Bank und ließ seine Blicke über den See schweifen, auf dessen spiegelglatter Fläche noch ein letzter, mit jeder Sekunde mehr verblassender Abendschein lag. Rechter Hand in fast ununterbrochener Folge die Wälder, durch die er vorhin gekommen war; links das flachere Ufer, das überall mit seinen Feldern und Wiesen glatt zum See hinabstieg, und aus dem nur in der Entfernung die Baummassen des Parkes von Seehausen dunkel aufragten. Die entgegengesetzte Seite, wo sein Wüstenei lag, verhüllte bereits ein blaßblauer Nebelschleier – man hätte glauben können, dort hinaus in die Unendlichkeit des Meeres zu blicken.

Des Meeres, das sich vor ihnen breitete, während sie auf der Düne saßen, Seite an Seite – nur er immer ein wenig tiefer als sie, damit er ihr ungezwungen in die Augen blicken konnte. Sie hatten von fernen Ländern gesprochen und von Philosophie, Kunst und Poesie. Dann hatte sie einen neckischen Einfall gehabt und gelacht – ein leises, süßes, melodisches Lachen, wie er es von keinen Frauenlippen sonst gehört. Und dann war sie plötzlich aufgesprungen und er noch ein Weilchen so liegen geblieben, um sich an ihrer schlanken, elastischen Gestalt zu weiden, wie sie sich jetzt so köstlich von dem Abendhimmel abhob. Bis sie ihm lachend zugerufen: Wenn Sie nicht sofort aufstehn, sage ich es morgen Otterndorf. Der setzt Sie an den Katzentisch, und Sie bekommen keine Mehlspeise!

O, die holden, holden Stunden! Und kein barmherziger Gott, der eine Minute all der Seligkeit zurückbrächte! Wäre sie am fernsten Ende der Welt, er wollte sich zu ihr hinbetteln und sich belohnt glauben, dürfte er auch nur den Saum ihres Kleides berühren!

Er fuhr aus seinem Brüten auf, blickte verwirrt um sich und mußte sich besinnen, wie er hierher gekommen war. Auf einer benachbarten Bank hatte ein liebendes Pärchen Platz genommen. Der junge Mann sprach eifrig auf das Mädchen ein, das manchmal die verschämten Augen zu ihm aufschlug und alsbald wieder senkte. Sonst war das Boskett leer; nur auf der ihm zunächst gelegenen Brücke stand noch ein Herr, der auf den See hinausblickte. Er hatte Ulrich den Rücken zugewandt. Die Gestalt kam Ulrich bekannt vor – war das nicht Guido Wendelin? In seiner menschenscheuen Stimmung hatte er sich auf die bloße Möglichkeit einer Begegnung hin schnell erhoben; in demselben Moment aber auch Guido sich umgedreht, ihn gesehn, erkannt und ein paar lebhafte Schritte auf ihn zu gemacht. An ein Ausweichen war jetzt nicht mehr zu denken.

Lieber Randow, wie glücklich bin ich, Sie so unerwartet zu treffen!

Guido hatte seine beiden Hände ergriffen; aus den hellblauen Augen schimmerte eine so unverkennbar herzliche Freude, daß Ulrich nicht widerstehen konnte.

Ganz mein Fall, lieber Wendelin, erwiderte er; aber wie kommen Sie hierher? Ich denke, Sie sind in Hannover?

War ich – zwei Tage – vorher circa eine Woche in Berlin. Sonst hätte ich schon längst in Wüstenei vorgesprochen – selbstverständlich. Hörte in Berlin, daß Sie zurück seien, oder doch in diesen Tagen kommen würden – von Ihrer Frau Schwiegermutter.

Also doch auf dem alten Jagdpfade!

Wo denken Sie hin! Ich – ich – aber darüber müssen wir gelegentlich ausführlich sprechen. Zuerst, lieber Freund, wie geht es Ihnen? Mir deucht, Sie –

Sehen nicht gut aus. Alle Welt findet das. Sehr begreiflich: es geht mir auch nicht gut.

Das thut mir aufrichtig leid. Offen gestanden: ich bin mit meinem Befinden ebenfalls nicht zufrieden. Plane eine größere Reise. Wäre sogar schon fort, bloß daß mir Mama einige Sorge macht.

Das thut nun wieder mir aufrichtig leid. Ich weiß, mit welcher Liebe Sie an ihr hängen.

Ich habe auch weiter niemand auf der Welt – und Sie – selbstverständlich! Sie sind doch mein Freund?

Ich glaube, Guido, ich habe Ihnen niemals Ursache gegeben, daran zu zweifeln.

Nein, bei Gott, das haben Sie nie. Es war auch eine dumme Frage, die ich gar nicht so meinte. Es ist nur – ich – ich bin in einer Gemütsstimmung, in der Ihre Freundschaft noch mehr Wert für mich hat, als sonst.

Auf deutsch, die kleine Hexe von Kittie hat es Ihnen endlich gründlich angethan.

Um Himmelswillen, Randow, ich schwöre Ihnen, Sie irren sich – irren sich vollständig.

Dann erlauben Sie mir, Ihnen von Herzen zu gratulieren.

Wozu?

Dazu, daß ich mich vollständig irre!

Guidos Augen drängten sich schier beängstigend weit aus den Höhlen.

Ach so! sagte er gedehnt, nun ja – selbstverständlich! Aber wissen Sie, Randow – ich habe Sie schon oft gebeten: mit mir müssen Sie nicht ironisch sprechen, sondern immer ganz klar, und so, daß ich es verstehe.

Wenn Sie ein andrer so reden hörte!

Es ist mein vollkommener Ernst: ich bin kein heller Kopf. Es ist mein Unglück. Es ist mir nie so klar gewesen, wie jetzt.

Der junge Mann seufzte und blickte mit bekümmerter Miene vor sich nieder. Wie schwer auch Ulrich an dem eigenen Weh zu tragen hatte, der arme Mensch, der von jeher sein Schützling gewesen war, that ihm leid.

Sie haben etwas auf dem Herzen, Guido, sagte er. Was ist es? Vielleicht kann ich Ihnen helfen, zum wenigsten raten.

Wenn Sie es wissen, werden Sie mir raten, da in den See zu gehen.

Ulrich lachte; es klang nicht eben natürlich: noch vor ein paar Stunden hatte er sich sehr ernstlich auf den Grund des Sees gewünscht.

Das bleibt einem noch immer, sagte er. Vorläufig müssen wir wohl an den Nachhauseweg denken. Oder wollen Sie in der Stadt bleiben?

Bewahre! Ich bin in Salchow – nur so herübergeritten, um doch irgend etwas zu thun.

Das trifft sich gut. Ich bin auch zu Pferde hier; wollte, so wie so, den Rückweg auf Eurer Seite machen. Von der Hitze im Walde hatte ich heute gerade genug ausgestanden. Sie sind doch bei Meink abgestiegen?

Selbstverständlich. Das heißt: ich bin wirklich nur abgestiegen und habe gar nicht erst absatteln lassen.

Desto besser. Mein Robin wird sich unterdessen auch erholt haben.

Die Freunde gingen die Gasse vom Hafen hinauf. Es fing bereits ein wenig zu dunkeln an. Jedes der Häuser hatte neben der Hausthür seine Bank, und jede Bank war von eifrig plaudernden Müttern, Tanten und erwachsenen Töchtern besetzt, während die Kinder, sicher vor Wagengefahr, lachend und einander rufend auf der Straße spielten. Auch Frau Doktor Michaelis hatte noch ihren alten Platz inne. Vor ihr stand jetzt ein Herr, der, als Ulrich grüßend vorüberging, sich schnell umwandte! es war sein Universitätsfreund von Odebrecht. Herr von Odebrecht machte im ersten Moment eine Bewegung, als wolle er auf ihn zutreten, besann sich dann aber eines andern und begnügte sich mit einem höflichen Gruße, um sich sofort wieder zu der Dame zu wenden. Guido sagte etwas, das Ulrich nicht hörte. Er dachte an den Nachmittag, als er mit Eleonore an dem Fenster in der überfüllten Gaststube des Leuchtturmhauses in Norderney saß und ein Herr durch das Zimmer ging, in dem er Odebrecht zu erkennen glaubte. Er hatte damals gehofft und hoffte jetzt wieder zuversichtlich, daß er sich geirrt. Kannte er doch die böse Zunge des Mannes und die Virtuosität, mit der er seinen Nächsten ins Gerede brachte! Und gerade jetzt hatte er allen Grund zu wünschen, daß ein Gerede über ihn, wenn es denn doch nicht zu vermeiden war, wenigstens nicht von dieser Seite kam.

Sie stehen sich noch immer nicht besser mit Herrn von Odebrecht? sagte Guido.

Wir gehen einander so weit als möglich aus dem Wege. Hier ist das leider weniger leicht als in Norderney, wo wir uns, glaube ich, nicht viermal gesehen haben, trotzdem wir wochenlang zu gleicher Zeit dort gewesen sind.

Waren Sie gern auf Norderney?

So gern, daß ich zehn Jahre meines Lebens geben würde, könnte ich unter denselben Bedingungen noch einmal eine Stunde dort verbringen.

Guido sah ihn fragend von der Seite an, erwiderte aber nichts.

Vor dem Berliner Hofe führte Guidos Groom die beiden Pferde langsam auf und ab. Während Robin gesattelt wurde, hatte Guido eine Flasche Roederer kommen und auf einem der Tische vor dem Hause servieren lassen. So viel Zeit müsse man immer haben, um ein Glas Sekt zu trinken, zumal wenn sich zwei alte Freunde nach monatelanger Trennung wiederfänden! Merkwürdig! Er mache sich sonst, wie Ulrich wisse, nicht viel aus dem Zeug; aber seit einiger Zeit habe er ein fortwährendes Verlangen danach. Seine Mama meine, es seien die Nerven. Ob Ulrich dergleichen sonderbare Nervenzustände auch schon gehabt habe?

Ulrich sagte: es sei wiederholt in seinem Leben der Fall gewesen; nur habe er nicht finden können, daß sich die Nerven bei dem Regime besser stünden.

Für den Augenblick doch, rief Guido, sich ein Glas voll schenkend und auf einen Zug leerend. Das Leben besteht ja nur aus Augenblicken.

Sie werden noch zum Philosophen, Wendelin, sagte Ulrich, und bei sich selbst: es ist doch Kittie! der arme Kerl!

Ich wollte, ich wäre einer! rief Guido. Man spielt doch eine ganz andere Rolle bei den Damen.

Das kommt sehr auf die Damen an, lieber Freund. Ich kenne diverse, die vor der Philosophie und nun gar vor einem Philosophen drei Kreuze schlagen.

Von denen spreche ich nicht. Ich spreche von Elitenaturen – selbstverständlich!

Ausnahmen, auf die sich keine Regel bauen läßt.

Die aber vorkommen.

Stoßen wir an auf die Ausnahmen:

Sie sollen leben! rief Guido enthusiastisch und setzte das geleerte Glas so heftig auf den Tisch, daß es zerbrach.

Ein glückverheißendes Zeichen, sagte Ulrich. Und nun lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen!

Wollen wir noch eine –

Um keinen Preis. Sie wissen, ich habe einen langen Weg vor mir.

Sie stiegen auf und ritten, gefolgt von dem Groom, durch die schmalen Gassen, in welche mit jeder Minute die Dämmerung tiefer herabsank. Doch brannte noch in keinem der Häuser Licht; nur in der Ressource, an der sie vorüber mußten, waren die Fenster des ersten Stocks erleuchtet. In der Vorstadt zwischen den zerstreuten Scheunen wurde es wieder heller; und als sie aus der Vorstadt heraus in das offene Feld gelangten, ließ ein brennendes Abendgelb, welches sich über den ganzen westlichen Horizont breitete und in allmählich erblassenden Tinten fast bis zum Zenith hinaufreichte, vergessen, daß der Tag bereits seit einer Stunde zu Ende war.


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