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Fünftes Kapitel.

Wie wenig sympathisch Gregor Borykine Eleonoren war, sie konnte sich dem Einfluß, den der genialische Mann auf sie ausübte, nicht entziehen, und sein Wort, daß ihr zur Nihilistin nur die russische Abstammung fehle, ging ihr jetzt viel durch den Sinn. Sie beneidete seine Schwester, die Studentin in Zürich. Brachte die es in ihrer Wissenschaft zu etwas Rechtem – und warum sollte sie nicht, wenn sie geistig ihrem Bruder ebenbürtig war – wie beneidenswert war ihr Los! wieviel Gutes, Tüchtiges konnte sie in ihrem Berufe schaffen! wie frei sich ihr Leben gestalten! mit wie gelassener Hand all die tausend Rücksichtnahmen beiseite schieben, vor denen das deutsche Mädchen erschrocken stehen bleibt! mit wie mutvoller Kraft dem harten Stoß der Sachen mit einem noch kraftvolleren begegnen!

Und wahrlich, sie und der Bruder hatten den harten Stoß zu empfinden gehabt. Den Vater hatte man, als den Mitschuldigen einer Verschwörung, gehängt; ein älterer Bruder, aber auch noch im Jünglingsalter, der Mitschuld nur verdächtig, war auf dem Wege nach Sibirien den Mißhandlungen seiner Peiniger erlegen; die Mutter über so grausame Schicksalsschläge wahnsinnig geworden und im Wahnsinn gestorben. Dann hatte sich ein einflußreicher Freund des Vaters ins Mittel gelegt, und die beiden Waisen waren auf Staatskosten erzogen worden. Mit russischer Geschmeidigkeit hatten sie das Zuckerbrot hingenommen, entschlossen, war die Zeit gekommen, die blutigen Peitschenhiebe blutig heimzuzahlen.

Wenn sie damit ihr Leben verglich, ihr idyllisches Leben im Schloßpark, auf dessen blumigen Wiesen sie mit dem Erbprinzen nach Schmetterlingen gejagt! in den klösterlich stillen Räumen des Stiftes unter der Obhut der guten Schwestern mit den heiteren Gefährtinnen! Um dann in die Welt zu wandern, eine Waise freilich, aber unter Bedingungen, die Tausenden beneidenswert erschienen sein würden!

Und doch! Borykine hatte recht, wenn er sie eine Pessimistin nannte. Mit wie heiterer Stirn sie auch in die Gesellschaft treten konnte, wieviel Komplimente ihr auch »ihr glänzender Humor« eingetragen, – da drinnen hatte es nicht nachgelassen zu bohren und zu grübeln und zu fragen: was ist das mit dieser Welt, die heute von einem Gott und morgen von einem bösen Dämon regiert scheint? mit diesem Menschenleben, in welchem das Glück so ohne alle Wahl und Billigkeit seine Gaben verteilt? Auf welche Rechtstitel gründen sich die Anmaßungen der upper ten thousend? Wo steht geschrieben, daß die große Masse auf immer zur Hörigkeit und zu den Brosamen verurteilt sein soll, die von den üppigen Tischen jener fallen? Den üppigen Tischen, an welchen sie selbst so lange gesessen! Mit fashionablen Herren und Damen, unter denen sie so viele hartherzige Gecken und frivole Koketten entdeckt; so viele Männer, die ihre Frauen, so viele Frauen, die ihre Männer schamlos betrogen; und in sittliche Abgründe geblickt hatte, die man als etwas Selbstverständliches, Unvermeidliches gelten ließ, ja, als das Einzige pries, um dessenwillen es sich überhaupt des Lebens verlohne!

Und hätte sie ihre letzte Erfahrung milder stimmen sollen: daß sie und der geliebte Mann zu ewiger Trennung verurteilt waren, weil es dem Zufall beliebt hatte, sie zusammenzuführen, als es zu spät und die Schranke, die sich zwischen ihnen türmte, unübersteiglich war? Für ihn und sie, die deutschen Träumer, über die der russische Nihilist spöttisch die breiten Schultern gezuckt habe würde. Er, der, wie alles im Leben, sich auch das Recht auf ihre Freundschaft, ihre Kameradschaft ertrotzen zu wollen schien.

Seine in wenigen Nächten fertiggestellte Uebersetzung ihrer Skizzen war nach Petersburg gegangen. Bereits am Abend des folgenden Tages überbrachte er ihr einen Brief, in welchem der Chefredakteur des Berliner Journals in den schmeichelhaftesten Ausdrücken sich zu ihrer Mitarbeiterschaft gratulierte und ein für deutsche Verhältnisse immerhin namhaftes Honorar bot. – Ich konnte, aus dem Menschen nicht mehr herauspressen, sagte Borykine, ich hätte denn zum Revolver greifen müssen. Und ich wußte nicht, ob Ihnen das recht sein würde.

Wieder acht Tage später überreichte er ihr eine Anweisung, welche der russische Korrespondent als Honorar der angenommenen Skizzen geschickt hatte.

Halbpart natürlich, sagte Eleonore.

Borykine lachte und heftete dann einen seiner durchdringenden Blicke auf sie.

Nein, sagte er, dergleichen Gefälligkeitsdienste lassen wir Russen uns nur durch eine Gefälligkeit bezahlen, die ich Ihnen nennen werde, wenn Sie mir erlauben wollen, Ihnen auf Ihrem Zimmer einen Besuch von fünf Minuten zu machen.

Das altmodische Herz der Geheimrätin, in deren Gegenwart diese Bitte vorgetragen wurde, schien zusammenzuzucken; aber dann hatte sie die »entente cordiale«, die zwischen »ihren Pflegebefohlenen« herrschte und sie zu »Mitgliedern einer Familie« mache, in der letzten Zeit so oft und mit solcher Emphase gerühmt, daß sie jetzt nicht wohl anders als durch ein gedankenvolles Kopfnicken ihre Zustimmung geben konnte. Allerdings hatte Eleonore darauf nicht gewartet, sondern sofort durch eine leichte Verbeugung ihre Bereitwilligkeit erklärt.

Borykine kam nach einer Viertelstunde, ein größeres, sorgfältig eingeschlagenes Paket in der Hand.

Sie werden sehen, Fräulein Eleonore, sagte er – sie so zum erstenmal mit ihrem Vornamen anredend –, daß der Dienst, um den ich Sie bitte, tausendmal an Wichtigkeit den Ihnen von mir geleisteten geringfügigen übersteigt, und um den man nur jemand angehen kann, dem man unbedingt vertraut. Haben Sie Bedenken, ihn mir zu gewähren, so werden Sie es mir offen sagen. In diesem Paket ist mein Schicksal und das eines Dutzend meiner Gefährten und Gefährtinnen – unter andern meiner Schwester – eingeschlossen; und dies Schicksal wäre Sibirien oder der Tod am Galgen, wenn die Papiere in die Hände unsrer Feinde fielen. Ich bin hier in Berlin leidlich sicher, aber doch nicht so, daß die Möglichkeit, es könnte einmal in der Nacht die Polizei an meine Thür klopfen, ausgeschlossen wäre. Dann bliebe eventuell noch Zeit für einen Revolverschuß, um mich, aber keine, dies Paket aus der Welt zu schaffen. Zu Ihnen wird man nicht kommen, oder doch zu allerletzt; jedenfalls würden Sie Zeit haben, es in den Ofen dort zu stecken. Ein Zündholz genügt: es ist in ein Papier geschlagen, das mit einem überaus brennbaren Stoff imprägniert ist. Glauben Sie für eine Bande schändlicher Hochverräter das thun zu können?

Geben Sie! sagte Eleonore.

Sie sind das beste, edelmütigste Mädchen! rief Borykine, ihre ausgestreckte Hand ergreifend und an seine Lippen führend.

Eleonore hatte das Paket in ihren Schreibtisch geschlossen. Als sie sich wieder zu ihm wandte, stand er vor der kleinen Staffelei, auf der sie an einem ihrer Norderneyer Aquarelle gearbeitet hatte, dem noch eine kleine Nachhilfe not that.

Ist das von Ihnen? fragte Borykine.

Ja.

Haben Sie noch mehr von der Sorte?

Eine ganze dicke Mappe voll! dort!

Wollen Sie mir – nein! die fünf erbetenen Minuten sind um, und ein gewisses altmodisches Herz bekäme vielleicht Krämpfe, wenn ich länger bliebe. Ich will Ihnen einen andern Vorschlag machen. Vertrauen Sie mir die Mappe auf ein paar Stunden an! Ich brenne vor Begierde, Sie von einer ganz neuen Seite kennen zu lernen. Und von dieser Kunst verstehe ich ein wenig mehr als von der Schriftstellerei. Sie müssen wissen, daß mein unglücklicher Vater ein bedeutender Landschafter war, und ich ursprünglich auch Maler werden wollte.

Das wäre vielleicht ein Grund für mich, Ihre Kritik nicht herauszufordern.

Gehen Sie doch! Wer sich vor der Polizei nicht fürchtet, wird vor der Kritik nicht fortlaufen, die freilich auch eine Polizei ist, aber doch nicht mit Galgen und Sibirien arbeitet.

Borykine hatte die Mappe ergriffen und war damit lachend zum Zimmer hinausgeeilt, in dessen Thür er dem Dienstmädchen Auguste begegnete, welche dem gnädigen Fräulein einen Brief brachte.

Er ist in der Küche abgegeben, sagte Auguste, von Herrn Wittes Rieke. Es wäre keine Antwort.

Vielleicht doch, sagte Eleonore; warten Sie einen Augenblick! Sie können hier bleiben.

Was kann der Mensch mir zu schreiben haben? fragte sie sich, während sie das Couvert öffnete. Wahrscheinlich eine Reklamation. Er schien über drei zinsfällige Tage nicht ganz im reinen.

Sie hatte zu lesen begonnen und traute ihren Augen nicht. Der Mensch mußte verrückt geworden sein.

»Geehrtes Fräulein!

Mein Grundsatz im Leben ist immer gewesen: vorsichtig aber sicher. Damit habe ich es zu einem hübschen, runden Vermögen gebracht, indem mir außer diesem Hause noch eines in der Cösliner Straße (Nr. 5, großes Mietshaus), eines in der Diedenhofener (Nr. 17, kleiner, aber sehr rentabel) und ein großes, bis jetzt noch unbebautes Grundstück in Rixdorf gehört. Und ich hätte auch natürlich hundertmal eine Frau haben können; aber wie gesagt: vorsichtig und sicher ist mein Wahlspruch. Nun erlaube ich mir die ergebenste Anfrage, ob Sie Lust haben, meine Frau zu werden? Auf Ihre Cousine brauchen Sie dabei keine Rücksicht zu nehmen. Ich weiß, daß sie seit fünfzehn Jahren oder so auf mich spekuliert; aber das ist ihre Sache. Ich habe ihr im ganzen Leben keine Avancen nicht gemacht. Sie aber gefallen mir. Sie haben Courage und rechnen können Sie auch. Das ist für mich die Hauptsache bei den vielen Exmissionen und Handwerker- und andern Rechnungen. Vermögen werden Sie ja nicht haben; aber meine Mittel erlauben mir, darüber wegzusehen. Also, überlegen Sie es sich – ein paar Tage meinetwegen – und lassen mir Ihre doch wohl jedenfalls zusagende Antwort per Post in einem eingeschriebenen Briefe zukommen. Auf die Dienstboten ist kein Verlaß.

Hochachtungsvoll und ergebenst
Theodor August Witte.«

P.S. Entschuldigen Sie, geehrtes Fräulein, daß ich Ihnen sozusagen mit der Thür ins Haus falle! Aber: offen und gerade! das ist mein zweiter Grundsatz.

D. O.

Eleonore hatte zuerst zornig werden wollen, dann aber doch über die naive Unverschämtheit des Mannes mit der betroddelten Sammetmütze und der Meerschaumpfeife lachen müssen. In dieser Laune schrieb sie mit fliegender Feder:

»Geehrter Herr!

Sie erlauben, daß ich Ihren zweiten Grundsatz auch zu dem meinigen mache. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem umfangreichen Besitz und zweifle nicht, daß Sie – Ihren ersten Grundsatz unverrückt im Auge – eine Gattin finden werden, die mit Exmissionen, Handwerker- und andern Rechnungen besser Bescheid weiß als Ihre

hochachtungsvoll ergebene
Eleonore Ritter.«

Ich denke, das wird genügen, sprach sie bei sich, während sie den Brief couvertierte und der an der Thür harrenden Auguste einhändigte mit der Weisung, ihn sofort zu Herrn Witte hinabzutragen.

Auguste war gegangen; Eleonore warf sich in einen Stuhl und sagte laut, halb ärgerlich, halb lachend: Mein Gott, was ist dies für eine tolle Welt!


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