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Die Tür hatte geknarrt; Warburg wandte sich in seinem Sessel.
Was gibt's?
Ich bin's, Herr Senator, erwiderte Christiansen, nun in die völlig geöffnete Tür tretend.
Was gibt's? wiederholte Warburg ungeduldig.
Nichts Besonderes, Herr Senator. Ich hatte Fräulein Minna gesagt, daß der Herr Senator auf die Post gegangen wären, und da schickt sie mich nun, zu fragen, ob nicht doch vielleicht –
Nein!
Es war sehr heftig und trotzdem mit einem unsicheren und gepreßten Tone herausgekommen, der dem alten Diener auffiel, ebenso wie der Umstand, daß der Herr Senator noch im Hut und Ausgehrock an dem Pulte saß, als hätte er es sehr eilig gehabt, an die Lesung seiner Korrespondenz zu gelangen. Nur daß keine Korrespondenz eingelaufen war – heute so wenig wie gestern und wie seit so manchem, manchem Tage! Es lag ja kein Schnippelchen Papier auf dem Pulte, auf welchem um diese Abendstunde sonst Berge von Briefen sich aufgetürmt hatten! Da mußte denn wohl das arme Fräulein Minna sich trösten, daß auch sie wieder einmal leer ausgegangen war!
Nichts für ungut, Herr Senator! murmelte Christiansen, die schickliche Reverenz machend, trotzdem ihm der Herr bereits wieder den Rücken zukehrte. Dann schloß er die Tür.
Warburg blieb an dem Pulte sitzen, bis der schwere Schritt des Alten auf dem Korridor nach dem Zimmer der Töchter im Hinterhause verhallt war. Nun erhob er sich, ging eilig nach der Tür, schob den Riegel vor, kehrte nach dem Pulte zurück und starrte auf den Brief, der da lag.
Nein! der Christiansen hatte den Brief nicht sehen können; er hatte ja mit seiner ganzen Breite davor gesessen und, als er das Knarren der Tür hörte, die linke Hand darauf gelegt: es hatte nur eben noch ein Eckchen hervorgeguckt. Ein Glück freilich, daß der Christiansen nicht noch weiter in das Zimmer gekommen war, oder eine Minute später! Wie kann man aber auch nicht abriegeln, wenn man dergleichen vorhat!
Er warf einen scheuen Blick auf den unglückseligen Brief, trat in das Nischenfenster und starrte auf die Alster. Die stille Fläche glänzte im letzten Abendscheine, ohne auch nur von einem einzigen Boote durchfurcht zu werden; auf der breiten Gasse zwischen seinem Hause und dem Wasser, wo es um diese Stunde sonst von Promenierenden wimmelte, gab es heute niemand zu sehen und zu hören, als wäre Hamburg ausgestorben und er ganz allein da zurückgeblieben mit seinem verdüsterten Gemüt. Ja, ja, seine Sonne war im Untergehen, wie die da draußen! Nur, daß sie morgen sich nicht wieder heben würde, wie die da draußen – nicht morgen und niemals wieder. Es wäre denn, daß Minna die unsinnige Liebe zu dem französischen Abenteurer fahren ließe und Theodor Billows Frau würde! Billow hatte sich für heute abend ansagen lassen. Und da sollte er dem tollen Mädchen eine Stunde vorher den Brief – den dritten Brief – oder war es schon der vierte? Freilich der vierte – den ersten – aus Berlin – den vom März – hatte er ihr gegeben. Und das war dumm. Er hätte ihr alle geben sollen oder keinen. Aber damals – ja, da hatten die Sachen doch auch ganz anders gestanden; da war T. A. Warburg noch nicht bankrott gewesen, so gut wie bankrott.
Auf der stillen Gasse waren nun doch ein paar Menschen vorübergekommen – kleine Leute, die heute lässig schlenderten, wie sonst die Vornehmen – sie hatten ja nichts zu tun und nichts zu versäumen. Und jetzt erschallten von rechts her dumpfe Tritte eines größeren Menschenhaufens – eine französische Patrouille natürlich – er wollte die verdammten Kerls nicht sehen!
Er trat vom Fenster zurück und schritt, die Hände auf dem Rücken, ein paarmal im Zimmer auf und ab, von Zeit zu Zeit einen scheuen Blick auf den Brief werfend, der ihn zu verfolgen schien, wie die Augen eines Porträts von der Wand herab den daran Vorüberwandelnden zu verfolgen scheinen. Als ob es die Augen des Mannes wären, der den Brief geschrieben – die großen, braunen, mild-glänzenden Augen – und ihn vorwurfsvoll fragten: Das kannst du, der ehrliche Mann, mir – das kannst du, der zärtlich liebende Vater, deiner Tochter tun?
Ja, gerade weil ich sie zärtlich liebe, sagte Warburg laut, indem er plötzlich stehenblieb; gerade weil – ach was! es ist nun einmal nicht anders; es muß nun einmal sein.
Er hatte die bereitstehende Lampe auf dem Pulte angezündet, auch die Vorhänge am Fenster heruntergelassen, obgleich das Parterrezimmer zu hoch lag, als daß jemand von draußen hätte sehen können, was er tat.
Etwas, das er noch nie getan. Noch niemals hatte er einen Brief, der an ihn nicht gerichtet war, erbrochen. Auch die vorhergehenden des Marquis nicht; er hatte sie, wie er sie empfangen, in das Geheimfach des Pultes gelegt zu den Briefen Minnas, die er nicht hatte abgehen lassen. Diesen wollte er lesen. Vielleicht stand darin, daß Herr von Héricourt, des langen, vergeblichen Harrens müde, Minna ihr Wort zurückgäbe; vielleicht, daß er verwundet sei, keine Hoffnung habe, mit dem Leben davonzukommen – es wäre ja auch wunderlich, wenn ihm in dieser russischen Kampagne, wo es ja offenbar ganz fürchterlich herging, früher oder später nichts Menschliches passieren sollte! Dann aber war Minna frei; dann konnte sie in Gottes Namen Billow ihre Hand –
Noch einen Moment zögerte er, bevor er ihn erbrach. Aber hier war ja eigentlich nichts mehr zu erbrechen. Augenscheinlich war der Brief mit dem halben Dutzend Stempel schon durch viele und nicht immer feine oder saubere Hände gegangen, welche die Adresse halb verwischt und das schlechte Wachs des Siegels fast gänzlich zerbröckelt hatten. Kaum daß das Wappen noch zu erkennen war. Nur eine kleine Ecke an dem Rande hatte sich, wie durch ein Wunder, ausgeprägt erhalten. Doch brauchte man nur mit dem Nagel darauf zu drücken, so –
Auch das Eckchen war abgesprungen – es war ein unverschlossener Brief; man hatte ihn nur aus dem Kuvert zu nehmen und zu entfalten.
Vier Quartseiten, eng beschrieben – schwerlich von einem Verwundeten! Der schreibt nicht so viel und nicht mit einer solchen Hand – einer Kaufmannshand fast, wenigstens was die Sauberkeit und die Deutlichkeit betraf – aber der Mann war ja in allem immer die Akkuratesse und die Ordnung selbst gewesen – ein vollendeter Edelmann – und dessen Degen aus der Scheide fahren würde, wenn er jetzt sähe – aber es ist weit von hier nach dem Biwak, nahe – Roudnja? kenne das Nest nicht, kommt ja auch nicht darauf an – vor Smolensk? So! Und vom zwanzigsten Juli? – Und heute schreiben wir den fünfzehnten Oktober! Beinahe drei Monate! Nun, da könnte er wirklich auch ebensogut gar nicht angekommen sein!
»Im Biwak nahe Roudnja, acht Lieues vor Smolensk (im Weißen Rußland), den zwanzigsten Juli 1812, sechs Uhr abends.
Erst heute habe ich, meine teure, süße Freundin, Ihren lieben Brief vom dreißigsten März erhalten –«
Hier stutzte der Leser abermals. Wie denn? Minnas Brief vom dreißigsten März – es war der erste ihrer Briefe gewesen – er hatte ihn selber expediert – hatte Herr von Héricourt erst am zwanzigsten Juli erhalten? So hätten die folgenden Briefe Minnas bis zu dem Datum dieses Briefes auch noch nicht in seinen Händen sein können, es wäre denn gewesen, daß der eine Brief schneller ging als der andere. So mußte es sein. Es waren ja doch inzwischen die anderen Briefe von ihm eingetroffen. Gleichviel: bei einer so großen Unsicherheit der Post konnten ebensogut alle Briefe verloren gehen, wie einer. Dahinter konnte man sich im schlimmsten Falle verschanzen.
Und er las weiter:
»Ich vermag die Ausdrücke nicht zu finden, die stark genug wären, das Vergnügen zu schildern, welches derselbe mir bereitet hat; wahrlich, es ist mir unmöglich, in Worten das Glück zu malen, welches meine Seele in diesem Augenblicke fast erdrückt; wie so weit würden dieselben hinter meinen Empfindungen für Sie zurückbleiben!
Ihr Brief traf mich in einem Augenblicke tiefster Melancholie, wie sie die Entfernung, die Entbehrung dessen, was man liebt, hervorbringen. Ich lag auf dem Stroh meines Biwaks, im Schutze zweier mächtiger, buschiger Fichten, am Rande eines prächtigen Sees, dessen durch den Wind heftig bewegte Wellen sich zu meinen Füßen brachen. Dieser malerische Anblick der Natur, der vollkommen mit der sanften Melancholie meiner Seele zusammenklang, ließ mich heiße Tränen weinen: ich dachte an Dich, meine Freundin, und ich konnte mich nicht überreden, daß Du mich so bald vergessen haben solltest. Ich rief mir die Erinnerung zurück aller jener glückseligen Stunden, die ich an der Seite meiner Minna verbringen durfte; und obgleich der Anschein so gegen Sie sprach, da ich noch immer jeglicher Nachricht von Ihnen entbehrte, tat ich mein Bestes, von Ihnen auch den Anschein einer Schuld abzuwehren. In diese so traurigen, so grausam qualvollen Betrachtungen versunken, wurde ich aus meiner Träumerei wachgerufen durch einen meiner lieben Freunde, der mir zwei Briefe brachte. Der eine war von meiner Mutter, der zweite war der Ihrige. – Ich erkannte sofort diesen teuren Brief, und meine erste Regung war, ihn zu küssen und tausend- und tausendmal an mein Herz zu drücken, ohne daß ich daran gedacht hätte, ihn zu lesen. Welch heilenden Balsam träufelte er in meine Seele!! er hat mein Herz wieder einmal der Freude und dem Glücke geöffnet, da er mir beweist, daß Sie Ihren treuen Hypolit noch nicht vergessen haben.
Wie oft habe ich nicht schon alle Postbeamten verwünscht, die, als richtige Einfaltspinsel, Ihren Brief so lange in ihren Bureaus verzettelt und mich so um das Glück gebracht haben, früher Nachricht von Ihnen zu erhalten. Während dieser Zeit habe ich, außer jenem Briefe aus Berlin, auf welchen der soeben empfangene Ihre liebe Antwort ist, noch ein zweites Mal aus Berlin geschrieben, am 24. April; ein drittes Mal aus Posen, am 15. Mai; ein viertes Mal aus Wilna, am 20. Juni – und wenn, wie ich voraussetzen muß, da Sie mir nicht antworteten, diese letzteren drei Briefe verloren gingen, müssen Sie ja geglaubt haben, an mir, der ich Ihnen nicht schreibe, liege die Schuld. Und müssen Sie ja Ihrem Freunde ernstlich zürnen, ihn für flatterhaft halten, der Untreue, der Grausamkeit anklagen! Ach nein, holde Freundin, beurteilen Sie mich ganz anders! und glauben Sie mir, daß es nur Folge und Schuld des feindlichen Geschicks ist, das mir immer nur ein Paar Augenblicke des Glücks zu genießen verstattete, um mich hinterher seine ganze Härte fühlen zu lassen und um mich unglücklich zu machen, ach! wie sehr unglücklich!!! –
Und wenn ich doch wenigstens die süße Genugtuung hätte, jeden Moment meines Daseins mir das bezaubernde Bild derjenigen vor die Augen zu stellen, für die allein ich atme; es beständig auf meinem Herzen zu tragen, es an mein Herz zu drücken – es würde doch den grausamen Schmerzen, welche die Trennung mir auferlegt, einige Linderung schaffen. Ja, meine gütige Freundin: zu meiner Ruhe ist Ihr schönes Bild durchaus nötig. Glauben Sie mir, wäre ich der glückliche Besitzer desselben, es würde mir nichts mehr zu meiner Zufriedenheit fehlen. Wenn es von Ihrer Liebe zu mir nicht zu viel fordern heißt: machen Sie mir umgehend das kostbare Geschenk Ihres Bildes, und seien Sie der Diskretion Ihres treuen Freundes versichert! Sie wünschen Nachrichten von Ihrem Bruder. – Es fehlt viel, viel daran, daß ich ihn häufig auch nur sähe, da wir ja nicht in demselben Truppenteil stehen, doch will ich Ihnen alles, was ich weiß, berichten. Am 24. Juni kamen wir an die Ufer des Niemen, eine viertel Lieue unterhalb Kowno, um in Russisch-Polen überzugehen. Die ganze Kavallerie der französischen Armee war da, und ich sah das Regiment Ihres Bruders defilieren; ich glaube, ihn bemerkt zu haben, aber sicher bin ich meiner Sache nicht. Am 20. desselben Monats gelangten wir nach Wilna (Hauptstadt von Russisch-Polen) um acht Uhr morgens. Das 9. Regiment der Chevauleger-Lanciers biwakierte in einem Gehölz am Eingange zur Stadt. Da meine Division in den Vorstädten Position genommen, bin ich zu Fuß in die Stadt gegangen und in der Entfernung zwei Chevaulegers begegnet, von denen sich der eine ein paarmal umwandte, nach mir zu sehen. Daran und an der Haltung glaubte ich, Ihren Bruder zu erkennen. Ein anderes machte mich meiner Sache sicher. Ach, meine Freundin, wie schmerzt es mich, Ihnen auch dies sagen zu müssen: der junge Mann, anstatt auf mein Zurufen stehenzubleiben, beschleunigte seine Schritte und war für den gepreßten Herzens ihm Nacheilenden in den engen Gäßchen der Stadt mit seinem Kameraden alsbald verschwunden. Er hat mir eben ausweichen wollen... Dafür habe ich denn wiederholt einem anderen nicht ausweichen können, dem ich so gern ausgewichen wäre: einem gewissen Major und Bataillonschef eines gewissen Regiments der leichten Infanterie, der mit mir in Garnison in Hamburg war – aber still! ... erwecken wir in einem geliebten Herzen nicht Erinnerungen, die ihm nicht anders als peinlich sein können!
Es geht uns sehr traurig in dieser Armee, meine Freundin. Seit dem 22. Juni lagern wir beständig im Biwak, sehr häufig ohne Stroh und drei Viertel bis einhalb der Zeit ohne Brot. In dem völlig verwüsteten Lande gibt es nicht einen einzigen Bewohner mehr, was denn zur Folge hat, daß man sich absolut nichts verschaffen kann. Ich wäre dem Elend sicher schon erlegen, dächte ich nicht beständig an Sie.
Da wir wenigstens 900 Lieues getrennt sind, dürfen Sie, mir zu antworten, nicht auf meine Briefe warten, oder ich würde des Glückes, Nachricht von Ihnen zu haben, allzu grausam entbehren müssen. Obgleich ich Tag für Tag auf einem Roggen- oder Kartoffelfelde kampiere und jedes, auch des geringsten Komforts ermangele, werde ich doch mein möglichstes tun, um Ihnen zu schreiben und mich so des einzigen Glückes zu versichern, das meine trostlose Lage mir noch gestattet.
Wie befindet sich denn zur Stunde meine liebe, kleine Jeanette? Sagen Sie ihr nicht, daß ich sie meine »kleine« genannt habe! Sie ist es ja auch längst nicht mehr mit ihren siebzehn Jahren – oder sind es siebzehn ein halb? – aber sagen Sie ihr, daß ich ihr herzlich für die gesandten Grüße dankbar bin und ihr ebenso viele zurücksende. Wenn ich das Glück haben werde, sie wiederzusehen, wird sie schwerlich noch gewachsen, aber womöglich noch schöner geworden sein, schön wie ein Engel, schön wie... mit einem Worte: wie Sie.
Verabsäumen Sie nicht, mir schnell, recht schnell zu schreiben, und vor allem: geben Sie mir befriedigende Nachricht von Ihrem mir so teuren Wohlergehen! Und schreiben Sie mir recht lange, recht lange Briefe, damit die Wonne, sie zu lesen, um so länger währe! Ich wiederhole: es gibt nichts als Ihre Briefe, woraus ich Linderung aller meiner Leiden schöpfen, nichts, was mir die Pein meines Lebens einigermaßen abmindern könnte bis zu dem glückseligen Augenblicke des Wiedersehens.
Wir sind nur noch 70 Lieues von Moskau. Sobald ich in dieser Stadt bin, schreibe ich abermals an meine geliebte, zärtliche Minna.
In fester Hoffnung, daß mich das Geschick Dich wiedersehen lassen wird, umarme ich Dich tausend- und tausendmal und bin für das Leben Dein treuer und beständiger Freund
Hypolit Drouot d'Héricourt, Kapitän im 1. Kürassierregiment, 2. Kürassierdivision, 2. Reservekorps der Kavallerie der großen Armee in Rußland.«
Warburg faltete den Brief, tat ihn wieder in das Kuvert und wog ihn unschlüssig in der linken Hand, während er auf das zerbröckelte Siegel starrte. Es ließ sich, wenn man das Wachs ein wenig anwärmte, zur Not so weit zusammenfügen, daß der Brief für einen unerbrochenen gelten mochte – auch würde sie in ihrem Jubel, den Brief in Händen zu haben, sich schwerlich Zeit lassen, den Zustand des Siegels zu prüfen. Und dann die Stelle, wo Héricourt erzählte, daß er Georg begegnet und Georg ihm ausgewichen sei – dem Liebhaber und heimlich Verlobten seiner Schwester, dem verhaßten Feinde – es würde eine treffliche Lektion für das überspannte Mädchen sein! Aber sie hatte sich ja an des Bruders Widerspruch, an sein Zürnen, Schelten, Toben nicht gekehrt damals, als sie dem Marquis ihre Hand zusagte; so würde auch dies schwerlich einen besonderen Eindruck auf sie machen. Und was noch sonst in dem Briefe stand: diese immer wiederholten Versicherungen seiner Liebe und Treue; das heiße Flehen um ihr Porträt – das hieß ja nur Öl ins Feuer gießen. Dazu die Schilderung seiner trostlosen Lage, des Elends im Biwak! Freilich, Georg war gewiß nicht sanfter gebettet, und er war nicht Franzose und Kapitän und Marquis; war ein deutscher konskribierter gemeiner Soldat – da mußte seine Lage noch viel schrecklicher sein. Und der Junge blieb sich treu in seinem grimmen Trotze und hielt sein Wort, das er beim Abschied gesprochen: sie sollten auf keine Zeile von ihm hoffen; denn jede würde ein Fluch gegen die Unterdrücker sein; und er wolle, käme so ein Brief, wie voraussichtlich, einmal in falsche Hände, weder sich selbst noch die Seinen den Henkern ans Messer liefern! Dafür beklagte und bejammerte denn der andere sein so unendlich viel günstigeres Los. Daraus ließ sich am Ende doch Kapital schlagen, wenn man es ihr so recht eindringlich vorstellte – auch ohne das – ohne jeden Kommentar, wenn man ihr nur den Brief auslieferte! Ja, ja, sie sollte ihn haben! Daß er ihn vorhin verleugnet, das tat nichts. Man konnte sagen, man habe die Überraschung nur um so größer, nur um so freudiger machen wollen. Und sofort mußte sie ihn lesen, noch bevor Billow kam! So konnte man sie am besten auf Billows Bewerbung vorbereiten. Er hatte ja versprochen, heute abend endlich sich den Mut zu fassen und das entscheidende Wort zu sprechen.
Warburg sah nach der Uhr: sieben; um einhalb acht wollte Billow kommen. Es blieb noch gerade Zeit.
Da ging die Haustürschelle. Eine Stimme auf dem Flure, die nach den Damen fragte: Billows Stimme; und eine zweite: wohl die des jungen Sandström. Schade! Die schöne Gelegenheit war verpaßt – schade! – Vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte der lamentable Brief doch nur Unheil angerichtet. Man würde sehen. Also morgen – oder übermorgen – der Brief konnte morgen oder übermorgen oder in acht Tagen so gut eingetroffen sein wie heute. Vorläufig –
Und Warburg schloß ein Geheimfach seines Pultes auf, legte den Brief zu dem kleinen Paket von Minnas nicht abgegangenen Briefen an Hypolit und Hypolits an Minna eingegangenen, aber nicht abgelieferten, schloß sorgfältig wieder zu, erhob sich und hatte gerade, noch Zeit, endlich den Hut vom Kopfe zu nehmen und die Zimmertür zu entriegeln, als Christiansen abermals hereinsah, zu melden, daß die Herren Billow und Sandström gekommen und oben im Teezimmer von dem Fräulein empfangen worden seien.
Ich werde sofort erscheinen, sagte Warburg und ging in sein Schlafzimmer nebenan, die nötige Toilette für den »Empfangsabend« zu machen. To save the appearances! murmelte er vor sich hin, während er sich vor dem Spiegel das frisch aus dem Kasten genommene weiße Halstuch knüpfte. – Und auch damit wird es bald nichts mehr sein, wenn Billow nicht heute abend endlich spricht. Der blöde Mensch! Und weiß doch sonst mit den Weibern Bescheid. Freilich, die Weiber sind auch danach!