Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Elftes Kapitel.

Hier fand sie Vater und Schwester in großer Aufregung. Vor einer Stunde hatte der Inspektor von Billows Gute – ein derber, kluger Mann, der während dieser Wochen jedesmal zu dem verantwortlichen Botengeschäft ausersehen war – einen Brief seines Herrn überbracht, dessen Inhalt allerdings jene Aufregung rechtfertigte. Billow schrieb, daß er es nicht verantworten zu können glaube, Georg auf Warnesoe allein zu lassen, da er fürchten müsse, er werde, von des älteren Freundes Aufsicht befreit, sofort zur Ausführung eines der abenteuerlichen Pläne, mit denen er sich trage, schreiten. So sei er, Billow, zu seinem tiefsten Leidwesen gezwungen, auf das Vergnügen des Weihnachtsabends im Warburgschen Hause verzichten zu müssen. Er habe dagegen einen anderen Vorschlag, den zu machen er freilich den Mut nicht besitzen würde, sähe er ein anderes Mittel, den Mitgliedern der Warburgschen Familie ein vereintes Fest zu ermöglichen. Wie wäre es, wenn man ihm auf Warnesoe die Ehre des Besuches schenkte? Das große Haus sei zur Aufnahme so lieber Gäste bereit; die kleine Reise schnell getan und völlig ungefährlich, wenn man sich der sicheren Führung des erprobten Klaus Neddermeyer anvertrauen wolle. In der schmeichlerischen Annahme, daß seine Bitte williges Gehör finde, habe er sich außerdem eine Eigenmächtigkeit erlaubt, die man ihm hoffentlich verzeihen werde. Man wisse, daß Oskar Sandström seinen Weg nach Hamburg über Kopenhagen nehmen wollte. Er – Billow – habe ihm eine Einladung entgegengeschickt, ebenfalls das Fest in Warnesoe zuzubringen. Und zwar empfehle sich dies Arrangement außer in geschäftlicher – er habe wichtige Dinge mit Oskar zu besprechen – auch in politischer Hinsicht. Bei dem in der letzten Zeit immer schärfer gespannten Verhältnis zwischen Frankreich und Schweden sei man nicht sicher, ob den schwedischen Reisenden nicht in Hamburg Widerwärtigkeiten, Schikanen, ja wirkliche Gefahren erwarteten, von denen er auf dänischem Gebiete nichts zu fürchten habe, trotz, vielmehr gerade wegen des dänisch-schwedischen Konfliktes. Wie sehr man auch in Kopenhagen geneigt sei, es im Bunde mit Frankreich um den Besitz von Norwegen selbst auf einen Krieg mit Schweden ankommen zu lassen, bezeige man sich doch, um sich die skandinavischen Sympathien zu erhalten oder zu gewinnen, gegen den einzelnen Schweden, der sich als Gast oder Reisender im Lande aufhalte, von ganz besonderer Zuvorkommenheit.

Aber, was man auch entscheide, man müsse es sofort entscheiden, solle er seine lieben Gäste morgen als am heiligen Abend noch in Warnesoe begrüßen können; und sich zu diesem Zwecke bereithalten, um vier Uhr spätestens morgen früh unter Klaus Neddermeyers Führung von Hamburg aufzubrechen.

Und wir sitzen hier und warten auf dich! rief Johanna vorwurfsvoll.

Wir haben in der Tat schmerzlich gewartet, sagte der Vater.

So beeilen wir uns, unsere Vorbereitungen zu treffen, erwiderte Minna.

Du Gute, Beste! rief Johanna, der Schwester um den Hals fallend.

Ich sagte es ja! murmelte der Vater mit zufriedenem Kopfnicken.

Man hatte sich mit Herrn Neddermeyer verständigt; der Vater sich in sein Kontor begeben, die durch die bevorstehende Reise nötig gewordenen geschäftlichen Anordnungen zu treffen; die Schwestern waren in dem Schlafzimmer, das jetzt, nachdem man den Hausbewohnern den Raum so beengt, ihnen auch als Wohnzimmer galt. Johanna kramte eifrig in ihren Sachen, von der Kommode zum Schrank, vom Schrank zur Kommode laufend; dies und jenes Stück ihrer Garderobe wählend, wieder wegwerfend; Fragen stellend, auf die sie keine Antwort abwartete; die ersten Takte eines Liedchens trällernd, das sie mit einem ärgerlichen Ausrufe unterbrach, weil sie etwas, das sie suchte, nicht finden konnte; über ihr tolles Gebaren selber lachend, glückselig, unartig; plötzlich der still dasitzenden Schwester auf den Schoß hüpfend, sie mit den Armen umschlingend, weinerlich ausrufend: die ganze Freude sei ihr verdorben, wenn Minna solche Jammermiene mache.

Kehre dich nicht an meine Miene, Kind! sagte Minna, ich bin etwas abgespannt von dem langen Wege.

Ist das alles?

Alles.

Und du bist nicht ungehalten, daß wir dir die Fahrt zumuten?

Wie sollte ich, da ich einsehe, daß sie unter diesen Umständen wünschenswert, vielleicht notwendig ist.

Nicht wahr? Und sie engagiert dich doch zu gar nichts – ich meine: Billow gegenüber.

Gewiß, zu gar nichts, erwiderte Minna mit einem schmerzlichen Lächeln.

Ich sage das nur, fuhr Johanna fort, weil der Vater andeutete, du könntest es am Ende so auffassen und deshalb zu Hause bleiben wollen. Glaub nur ja nicht, daß ich Billow damit bei dir das Wort reden will, obgleich wir ihm wirklich sehr, sehr dankbar sein müssen! Aber dankbar sein und – und – nicht wahr, lieb Herz, das sind doch zwei sehr verschiedene Dinge?

Gewiß! sehr verschieden.

Obgleich du ganz recht gehabt hast, als du neulich abend – mein Gott, wie lange ist denn das schon her? – an dem letzten Abend, weißt du, als Billow bei uns war –

Ob ich es weiß!

Freilich! Da sagtest du: er sei nicht tot; aber ihr wäret darum doch voneinander geschieden – denkst du noch immer so?

Mehr als je.

Dann – ich sollte es dir gelegentlich sagen – Vater meinte, du würdest es von mir eher hören, als von ihm, weil du ja weißt, daß ich ihn immer so lieb gehabt habe; und – Vater hatte es aus der Weinstube mitgebracht – einen Ausschnitt aus dem Moniteur –

Hier ist das ganze Blatt, sagte Minna, die Schwester von sich drückend und die Zeitung, die sie an ihrem Busen verborgen hatte, hervorziehend.

Du hast es gelesen? du Ärmste!

Weshalb: Ärmste?

Das fragst du so ruhig? Nun, Gott sei Dank! Dann darf ich ja wohl sagen, daß ich es abscheulich finde. Er lebt, er ist gesund; er ist ein großer Herr geworden – Gesandter – was weiß ich! – kutschiert in der Welt umher – nach Paris – nach Wien – das wird durch die Zeitungen aller Welt gemeldet; und für dich, die sich um ihn grämt und bangt, hat er kein sterbendes Wort! Ist es nicht empörend.

Oh, nein!

Nein?

Johanna stand mit geröteten Wangen und flammenden Augen vor der Schwester, die, ruhig zu ihr aufblickend, erwiderte:

Nein. Warum? Das haben er und ich untereinander abzumachen – wir beide mit unserem Gott. Und nun habe ich eine Bitte an dich – du wirst sie mir nicht versagen: es ist dies das letztemal, daß du mit mir sprichst über – ihn! – Komm, ich will dir deine Sachen in Ordnung bringen helfen. Du wirst ohne mich doch nicht fertig.

Während sich in dem Hinterzimmer diese Szene zwischen den Schwestern abspielte, saß Warburg vorn im Kontor an seinem Pulte. Es war dieselbe Tagesstunde, wie vor zwei Monaten, als er den Brief des Marquis aus Roudnja vom zwanzigsten Juli gelesen. Der Brief hatte beinahe drei Monate gebraucht, um nach Hamburg zu gelangen. Dieser, den er jetzt in der Hand hielt, vom elften Dezember, hatte den Weg von Dresden in der verhängnisvollen Schnelle von zwölf Tagen zurückgelegt, trotzdem er, wie aus den Poststempeln ersichtlich, in Magdeburg eine Station von sechs Tagen gemacht hatte. So mußte der Marquis nach Ausweis des Moniteur, der ihn bereits am fünfzehnten in Paris sein ließ, die lange Strecke dorthin in der unglaublich kurzen Zeit von vier Tagen durchmessen haben; der Moniteur hatte von Paris nach Hamburg seinen regelmäßigen Kurs von einer Woche innegehalten.

Warburg aber verglich die Daten der Poststempel und des Ausschnittes aus dem Moniteur, den er neben dem Briefe auf dem Pulte liegen hatte, so eifrig, um herauszurechnen, wie lange wohl ein Brief von Wien, wo der Marquis mittlerweile angekommen sein mußte, gebrauchen würde, falls der Marquis dennoch, ohne Minnas Antwort abzuwarten – wie lautete doch der Passus?

Er hatte vorhin die Tür fest zugeriegelt; dennoch erhob er sich, noch einmal nachzusehen – hatte er sich doch in dieser letzten Zeit so oft auf einer grenzenlosen Zerstreutheit ertappt! Freilich, wie war das anders möglich, wenn einem so viele und so widerwärtige Dinge durch den Kopf gingen! Natürlich war die Tür verriegelt! Also!

»Dresden, den 11. Dezember 1812. 10 Uhr abends.

Meine geliebte Freundin! Es gibt ein Maß des Glücks wie des Unglücks. Ich habe von dem letzteren in diesen entsetzlichen Monaten so viel erfahren, daß meine bedrückte Seele auch nicht das kleinste mehr fassen könnte, geschweige denn das ungeheuerste: mir sagen zu müssen, daß Minna ihren getreuen Hypolit nicht mehr liebt. Aber Gott möge mich bewahren, daß ich das je zu sagen brauche! Der gütige Gott, an dem ich jetzt so oft verzweifelt bin, und der mir doch die Kraft gegeben hat und gibt, es zu tragen: dies fürchterliche Schweigen, wahrend mein armes Herz nach einem Worte der Liebe schreit wie der Hirsch nach Wasser. Aber wie hätten auch Ihre Briefe, meine süße Freundin, wenn sie mich bis zu Ende Juli nicht erreichten, wo noch keine der blutigen Schlachten geschlagen, wir der Grenze verhältnismäßig noch so nahe waren – wie hätten sie, sage ich, mich erreichen sollen nach den Tagen von Smolensk, Borodino – Moskau!! Geliebte Freundin, lassen Sie mich schweigen von dem Ungeheuren, das uns betroffen hat und bald genug mit tausend Zungen zu einer entsetzten, zu einer jubelnden Welt sprechen wird! Oh, daß wir uns nicht retten können aus dieser zwiespältigen Welt! Daß es in ihr kein friedliches Asyl gibt für zwei liebende Herzen! Ich müßte verzagen, lebte in mir nicht die Überzeugung, daß eine wahre Liebe, wie sie uns verbindet, unzerstörbar ist, dauernder als Erz, fester als die mächtigsten Königreiche, stärker selbst als der Allsieger Tod. – –

Ich hoffe zuversichtlich, meine süße Freundin, daß dieser Brief in Ihre Hände gelangen wird. Die Antwort erbitte ich mir nach Wien, zur Sicherheit in einem Kuvert an unsere dortige Botschaft, der ich für die nächste Zeit angehören werde. Vergessen Sie nicht, an den Oberst Hypolit Drouot d'Héricourt zu adressieren! Es ist noch ein jüngerer Verwandter von mir hier, der sich von Anfang an der diplomatischen Karriere gewidmet hat und denselben Vor- und Hauptnamen führt wie ich, nur daß er, einem älteren Zweige der Familie entsprossen, nicht, wie ich, bei offiziellen Gelegenheiten ein »Drouot« vor den letzteren zu setzen hat. Er wird in kurzer Zeit nach Paris reisen zur Feier seiner Vermählung. So könnte ihm leicht ein Brief mit einer nicht ganz bestimmten Adresse dorthin nachgeschickt werden, und ich müßte des Labsals, nach welchem ich verschmachte, und wäre es auch nur für Tage, die mir wie Wochen erscheinen würden, entbehren. Also, meine geliebte Freundin, vergessen Sie nicht den »Oberst« und »Drouot«! Ich selbst werde nicht wieder schreiben, ohne ihre Antwort abgewartet zu haben, da das Ausbleiben derselben – aber weshalb Ihre schöne Seele mit einem häßlichen Verdachte trüben, der mich schon ein paarmal heimgesucht hat und doch gewiß nur ein Ausfluß der Schwermut ist – jenes Erbteils meiner hochverehrten Mutter und der Erfahrung meines eigenen Lebens, daß mir kein Glück wird, das ich nicht erst einem mir feindlichen Geschick abtrotzen müßte.«

Hm, sagte Warburg, den Brief auf den Tisch sinken lassend, dem feindlichen Geschick! Nun, wahrhaftig, mir ist das Geschick auch nicht freundlich, und am Ende ist sich doch jeder selbst der Nächste. Soll ich mich ruhig untergehen sehen, wenn ich mich retten kann – nicht auf Minnas Kosten! Bei Gott, das will ich nicht, das würde ich nicht. Aber es ist ja nur zu ihrem Besten, wenn dies unsinnige Verhältnis abgebrochen wird, aus dem für sie und für niemand ein Heil erwachsen kann – nur Unheil, und das ich nie hätte dulden sollen, nicht als Vater und am allerwenigsten als Patriot. Was sollte wohl daraus werden, und wie stünde sie, wie stünden wir alle da, wenn den Kaiser das Unglück noch weiter verfolgte, die Franzosen aus Norddeutschland, vielleicht aus ganz Deutschland hinaus müßten? Sollte ich sie dem Herrn Marquis über den Rhein nachschicken? wollte sie ihm nach Paris nachlaufen? Narrenspossen! Und ich glaube, sie fängt mittlerweile an, das selber einzusehen, sie hätte sonst schwerlich noch eben bereitwillig ja gesagt. Der Billow ist ein schlauer Bursch; und auch sie weiß besser, was ihr gut ist, als sie sich merken lassen möchte. Das heißt, verbrennen sollte ich die Briefe doch auf alle Fälle. Man kann nicht wissen –

Ein Pochen an der Tür machte ihn jäh zusammenschrecken.

Wer ist da? rief er mit bebender Stimme.

Ich bin's, Herr Senator, kam die Stimme Christiansens von der Tür zurück. Ich wollte den Herrn Senator fragen, ob ich ihm nicht die Sachen zur morgenden Reise –

Ich komme gleich!

Warburg warf den Brief hastig in das geheime Schubfach und zog den Schlüssel ab, bevor er zu öffnen ging.


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