Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Die Jahre rollen dahin. Ein neues Geschlecht wächst heran in der trügerischen Stille der Zeit, die dem großen Völkerkriege gefolgt ist.

Auf Schloß Warnesoe waltet eine Frau. Im Holsteiner Lande kann man nicht selten das Wort hören: wenn Holstein und Schleswig von Dänemark los wären und die gnädige Frau auf Warnesoe zur Regentin hätten, brauchten wir keinen Herzog.

Dann fügt wohl einer und der andere, der es noch besonders gut zu wissen glaubt, hinzu: das heißt: wenigstens nicht die kleinen Leute.

Daran ist etwas.

Nicht als ob sich die großen Leute: die adligen und unadligen Rittergutsbesitzer, ihre Standesgenossen, und wer noch sonst im Lande das Haupt erheben kann, sich über sie zu beklagen hätten! Wohl mag sie dem oder jenem auf den Kreistagen oder in irgend einer öffentlichen Angelegenheit das Konzept verdorben haben oder schroff entgegengetreten sein; aber dann war ganz gewiß seine Sache schlecht, oder sein Verhalten und Benehmen. Eine schlechte Sache findet vor ihren Augen keine Gnade, und mit Toren oder Anmaßungen macht sie wenig Umstände. Gar wer sie herausfordern wollte, möge sich vorsehen. Man darf alles gegen nichts wetten, daß sie das Recht auf ihrer Seite haben und es behaupten, des Gegners Zähigkeit sie nicht ermüden, ihre Klugheit seiner Pfiffe und Ränke spotten wird. Sie hat das bewiesen, als sie nach Warnesoe als Gutsherrin kam, und plumpe Burschen oder superkluge Gesellen meinten, mit einer Frau leicht fertig werden zu können. Seitdem läßt sie auch der böse Nachbar gern in Frieden; der gute aber sagt, daß er einen besseren nicht haben will.

Freilich kennt man sie und schätzt sie hoch, weit über die Nachbarschaft hinaus. Da ist im ganzen Lande kein gemeinnütziges Unternehmen, dessen Förderung mit Rat und Tat sie sich nicht angelegen sein ließe. Die ersten Männer des Landes verschmähen es nicht, sie in wichtigen Fällen um ihre Meinung zu fragen. Wenn in aristokratischen Konventikeln das bürgerliche Element herhalten muß – die Herrin von Warnesoe nimmt man jedesmal aus; man nennt es einen unglücklichen Zufall, daß sie nicht »von Stande« ist.

Indessen mag man sie in diesen Kreisen noch so verehren, das ist wahr: die kleinen Leute beten sie an.

Sie haben Ursache dazu.

Warnesoe ist als einzelnes Gut vielleicht eines der größten der Landschaft; man berechnet die Revenuen nach vielen Tausenden. Noch soll die Besitzerin, seitdem das Gericht ihr aus dem Billowschen Vermögen die Herrschaft als ihr Pflichtteil zugesprochen und sie dieselbe nicht ohne schweres Bedenken angenommen hat, den ersten Taler für sich selbst verbrauchen. Ihre geringen persönlichen Ausgaben bestreitet sie von den Zinsen eines kleinen Kapitals, das bei der endgültigen Regulierung des väterlichen Nachlasses nach dem Kriege den Kindern dennoch geblieben und an diese zu gleichen Teilen gegangen ist. Alle Reineinkünfte des Gutes bis auf den letzten Schilling werden von ihr zur Aufbesserung der Lage Hilfsbedürftiger verwandt, gleichviel ob sie sich Katenleute, Büdner, kleine Pächter, Ackerbürger, Handwerker oder wie immer nennen, und ob sie auf dem Lande oder in der Stadt hausen, wenn sie nur der Hilfe bedürftig und – wert sind. Denn die Wohltätigkeit der großherzigen Frau wird von der Klugheit gelenkt und findet an der Vorsicht die nötige Schranke. Sie scheut keine Mühe und Beschwerlichkeit, sich an Ort und Stelle von dem Stande der Not, der sie abhelfen soll, persönlich zu unterrichten. Ein oder das andere Mal ist es vorgekommen, daß sie dennoch an Unwürdige geriet und betrogen wurde. Sie hat sich dadurch nicht irremachen, nur belehren lassen. Die Regel ist, daß der Samen ihrer Spenden auf fruchtbaren Boden fällt. Sie hat eben eine Glückshand, sagen die Leute.

Trotzdem sie so fortwährend mit Hunderten reich und arm in Verbindung steht und von Tausenden gekannt ist, lebt sie sehr einsam, die Herrin von Warnesoe. Es scheint, daß sie eines Umgangs im gewöhnlichen Sinne nicht bedarf; jedenfalls hat sie einen solchen nicht. Es wäre auch fraglich, woher sie die Zeit zur landläufigen Geselligkeit nehmen sollte. Die Besuche, die sie empfängt, sind fast alle geschäftlicher Natur, und fast immer geht der Besucher reicher als er gekommen ist. Man kann sagen, es sei das immer der Fall. Auch wer nicht um zu bitten kam – einen klugen Gedanken, an dem er lange zehren mag; ein schönes, ein gutes Wort, das ihn erquickt und erhebt, nimmt er sicher mit fort.

Dennoch gibt es ein paar seltene Ausnahmen, in welchen es sich bei denen, die kommen, um keinerlei Geschäfte handelt.

Da ist die Schwester von Schweden. Sie erscheint alle zwei oder drei Jahre zur Sommerszeit mit ihrer Kinderschar, bei der sich ausnahmslos ein Baby findet, das das vorige Mal noch nicht da war. Die Kinder tollen dann, jedes nach Kraft und Vermögen, in den Scheunen, auf dem Hofe, im Garten, im Parke umher, in ihrer Drolligkeit und naiven Unverschämtheit selbst der ernsten Tante, an der alle mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit hängen, ein freundliches Lächeln abgewinnend, während die Mutter sie abwechselnd mit Schelten und Liebkosungen überschüttet und die kleine Gesellschaft, wenn sie nicht so gut geartet wäre, heillos verziehen würde.

Das dauert ein paar Wochen, bis eines Tages der Vater eintrifft, dem von den Kindern ein sauer-süßer Empfang wird, weil sie wissen, daß es nun mit der Herrlichkeit zu Ende geht. Er selbst bliebe gern länger, aber die Geschäfte! die leidigen Geschäfte! sie sind der beständige Gegenstand seiner Klagen, wobei man ihm ansieht, wie wohl es ihm ist, daß sie so gut gehen; und seine Frau führt dieselben Klagen, bei denen man ihr dasselbe ansieht, so ernsthaft sie auch tut und feierlich versichert, daß die Ehe der Tod der Liebe und der Musik sei. Mit dem letzteren mag es seine Richtigkeit haben. Johanna rührt keine Klaviertaste, Oskar keine Violinsaite mehr an. Das erstere ist schwer zu glauben, wenn man die Augen sieht, mit denen sie ihn, er sie betrachtet, so oft sie sich zanken, was sie mit Vorliebe tun, offenbar nur, um Veranlassung zu haben, sich hinterher einen Versöhnungskuß zu geben.

Nicht so regelmäßig und langdauernd, aber vielleicht häufiger sind die Besuche des Bruders. Er hat sich in Pommern ein kleines Gütchen gekauft, nachdem er als Hauptmann den Dienst quittierte. Er meint, es käme dabei für jemand, der, wie er, die Garnisonluft schlecht vertrage, wenig heraus, am wenigsten etwas Erfreuliches. Auch der Duft sei ihm zuwider, der jetzt bei der Armee in einer Weise vorherrsche, daß man auf den Gedanken gerate, es sei von den York und Blücher, den Scharnhorst und Gneisenau nichts übriggeblieben, als ihre Gamaschen.

Der Herr Hauptmann ist auch sonst mit dem Gange der Dinge in Deutschland wenig zufrieden. Er sagt, der Wiener Friede sei ein fauler Friede, und die Bundesakte vom 8. Juni 1815 das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben. Auf die Regeneration Deutschlands von innen heraus setzt er geringe Hoffnung. Er bleibt dabei, daß die Deutschen keine Initiative hätten und zum tatkräftigen Handeln immer erst kämen, wenn sie durch einen Anstoß von außen dazu gezwungen wären. Deshalb je früher die mit Frankreich schwebende Rechnung reguliert und beglichen würde, desto besser sei es. Wenn er in den politischen Gesprächen, die er mit der Schwester eifrig pflegt, bis auf diesen Punkt gekommen ist, bricht er freilich jedesmal ab, seitdem sie bei einer solchen Gelegenheit in schmerzlicher Bewegung ausgerufen hat: Oh, laß mir die Illusion, ich hätte mit dem Geliebten leben können ohne den furchtbaren Gedanken: auf welcher Seite werden eure Kinder stehen, wenn die beiden Nationen, aus denen ihre Eltern stammen, sich abermals zerfleischen!

Es geht eine dunkle Sage, das Verhältnis der Geschwister sei während der französischen Okkupation einmal durch eine schreckliche Katastrophe schwer geschädigt worden und seitdem nie wieder in das rechte Gleis gekommen. Aber das kann wohl kaum der Fall sein, und das Gerücht erklärt sich vielleicht aus dem tiefen, nach dem Geschmack mancher Leute melancholischen Ernst, der der Grundzug in dem Wesen und Charakter beider Geschwister ist, und den sie auch in ihrem Verkehre nicht verleugnen. Wenigstens soll der Herr Hauptmann einmal auf die Frage, warum er nicht heirate, geantwortet haben: er würde es seiner zukünftigen Frau nicht verdenken, wenn sie verlange, in seinem Herzen die Erste ihres Geschlechtes zu sein, und den Platz habe er ein für allemal an seine Schwester vergeben. Auf der anderen Seite wendet sich die Schwester, weiß sie sich in einer besonders schwierigen Angelegenheit ausnahmsweise keinen Rat, immer nur an den Bruder; und, sowenig von Zärtlichkeit in ihrem Umgange zu spüren ist, – bleibt der gewohnte Besuch, ja, nur eine erhoffte Nachricht von ihm aus, ergreift die sonst so Gleichmütige eine seltsame Unruhe, die Frau Neddermeyer schon zu dem tiefsinnigen Ausspruche veranlaßt hat: Wenn der Herr Hauptmann und die gnädige Frau nicht Bruder und Schwester wären, wären sie so gut Mann und Frau, wie Neddermeyer und ich.

Für Frau Neddermeyer kommt die gnädige Frau unmittelbar hinter dem lieben Herrgott, wodurch denn für philosophische Geister verständlich wird, warum ihr das Wesen der gnädigen Frau »heute noch so unbegreiflich ist wie am ersten Tage«. Nicht weniger verehrungsvoll, aber ohne alle Mystik, ist die Liebe, die Neddermeyer zu seiner Gebieterin hegt. Sie erwidert diese Liebe durch ein unbedingtes Vertrauen, das sie in den Mann setzt, und er freilich durch eine Treue ohne Wanken, durch einen Fleiß, der keine Ermüdung kennt, durch eine urwüchsige Gesundheit des Urteils, das sich nie ein A für ein U machen läßt, redlich verdient.

Klaus Neddermeyer trägt die fünfzig Jahre, die er jetzt auf den breiten Schultern hat, mit der Rüstigkeit und Kraft eines Dreißigers. Auch sein Aussehen ist unverändert, bis auf eine gewisse Korpulenz, die ihm schwere Sorge macht, da sie ihn zwingt, von Jahr zu Jahr schwerere Pferde zu reiten.

Auf einem solchen von beinahe schon schwerstem Kaliber trabt er neben dem Wägelchen her, auf dem die gnädige Frau zu einer Holzauktion in den Silbertannen gefahren war, von der sie jetzt gegen Abend zurückkehrt. Er ist auf den Wiesen am Norderholz gewesen und hat auf dem Heimritt nach den Pastoräckern sehen wollen, die das Gut erst seit vorigen Johannis in Pacht hat, und wo das »mit dem Raps und auch mit dem Winterkorn noch immer man so so ist«.

Die Herrin meint: sie habe es nicht besser erwartet; nur mit der Zeit pflücke man Rosen. Wann Herr Neddermeyer denn das Heu hereingebracht zu haben denke?

Bis spätestens morgen abend, sagt Herr Neddermeyer; denn morgen nacht haben wir Regen. Die Kröten haben gestern abend zu kriechen angefangen. Dann dauert's noch zweimal vierundzwanzig Stunden. Das ist so sicher wie Amen in der Kirche.

Man ist an einer Seitentür des Parkes angelangt. Die gnädige Frau will hier aussteigen und ist aus dem Wagen, bevor Neddermeyer, der ihr pflichtschuldigst heraushelfen will, das rechte Bein über dem Sattel hat. Sie reicht ihm die Hand auf das Pferd hinauf und nickt ihm noch einmal zu, bevor sie die Pforte hinter sich schließt.

Wer sie den Parkweg heraufkommen sähe, müßte sie aus einiger Entfernung für ein Mädchen in der Fülle jugendlicher Kraft und Schönheit halten: so ebenmäßig ist der schlanke, hohe Wuchs, so elastisch der Schritt, so fließend leicht und anmutvoll jede Bewegung, wenn sie sich auf den Fußspitzen hebt, an einer hochstämmigen Rose zu riechen, oder sich bückt, ein seltenes Gras zu pflücken. Erst in der Nähe würde man, ohne sie minder schön, ja, um sie jetzt wohl erst recht schön zu finden, wahrnehmen, daß die Ruhe dieser feinen, geistvollen Züge einst von wilden Leidenschaften zerwühlt war, diese großen, ernsten, stillen Augen einst von Verzweiflungstränen übergeströmt sind. Und dann würde man auch zu seinem Erstaunen bemerken, daß die Farbe des gekrausten Haares der Dame, die doch sonst höchstens in dem Anfange der Dreißiger zu stehen scheint, ein gleichmäßiges Grau ist, und geneigt sein, es für ein wunderliches Spiel der Natur zu halten. In der Tat haben seinerzeit vierundzwanzig Stunden hingereicht, das schimmernde Schwarzblau dieser Locken so umzuwandeln.

Ein kleines Mädchen, das mit anderen, die eines anderen Weges gegangen, eine leichte Gartenarbeit für den Abend beendigt hat, kommt daher und begrüßt, seitwärts tretend, die gnädige Frau mit einem tiefen Knicks. Im nächsten Augenblicke läuft sie auf sie zu, legt die kleine Hand vertraulich in die jener und bleibt so an ihrer Seite – alles, als ob es sich von selbst verstände.

Weißt du, gnädige Frau, daß wir ein kleines Brüderchen haben? fragt die Kleine.

Gewiß weiß ich das, erwiderte die Dame.

Vater sagt, du wirst am Ende bös sein, weil es schon das sechste ist. Warum soll es nicht das sechste sein?

Gewiß, warum sollte es nicht das sechste sein! Ich hätte selber gern sechs.

Warum hast du keine Kinder?

Ich habe eines gehabt, sein Grab ist hinten im Parke bei den hohen Fichten.

Weiß ich; es ist auch noch ein anderes da – ein großes. Ist das dem gnädigen Herrn seins?

Nein, der liegt im Meere begraben.

Wem gehört es denn?

Einem Freunde von mir.

Den hast du wohl sehr lieb gehabt?

Ja, den habe ich sehr lieb gehabt. Und nun mußt du nach Hause, Liesing, daß die Mutter sich nicht ängstigt.

Sie hat das Kind verabschiedet und wandelt weiter durch den Park, zuletzt durch einen Wald riesenhafter Fichten, bis sie ihr Ziel für heute und für so manchen Abend erreicht hat: die Höhe des Hügels, auf dessen sanft abfallender Seite die beiden Gräber liegen, von denen sie eben mit dem Kinde gesprochen. Die Hügellehne ist ganz mit wilden Rosen überwuchert, und so sind die beiden Gräber: das kleine und das große, die kein Stein belastet, kein Kreuz bezeichnet. Für sie, der diese beiden gestorben sind: – das süße Kind und der herrliche Mann – bedarf es eines Erinnerungszeichens nicht; und sie meint, daß die Menschen das evangelische: »Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt!« schwerlich recht verständen, oder es würde viel Schaugepränge erspart werden, mit dem sie sich jetzt über den Mangel wahrer Empfindung wegzutäuschen suchen.

Unter dem breiten Geäste der Fichte, die den anderen voransteht, wie ein Führer seiner Schar, ist eine einfache Bank. Auf die läßt sie sich nieder und blickt über die Hügellehne, in deren Büschen das Abendgold flimmert und die Insekten schwirren, durch die breite Öffnung des nach beiden Seiten weiter sich streckenden Uferwaldes auf die stille Fläche der See, in der sich der Widerschein der im Westen rötlich scheidenden Sonne spiegelt. Sie hat jahrelang das Meer nicht sehen können, ohne von einem tiefen Schauder befallen zu werden, und sie hat deshalb den Anblick sorgfältig vermieden. Jetzt hat sie die entsetzliche Erinnerung überwunden; ja, sie sucht den Anblick des Elementes wieder, welches ihr ein Bild ist des Kommens und Gehens, Steigens und Sinkens unserer Gedanken und Gefühle und der Ausgleichung der einzelnen inneren Erfahrung oder des äußeren Erlebnisses – seien sie noch so schmerzlich oder gewaltig – mit dem Ganzen unseres seelischen Bestandes, wonach der denkende Mensch unablässig zu streben hat.

Am Horizonte, auf den Wipfeln des Waldes ihr gegenüber, erblassen die rosigen Lichter; in stumpfem Grün liegt die Halde zu ihren Füßen. Vom Meere her kommt ein kühlerer Hauch; sie hüllt sich enger in ihr Mäntelchen und schlägt den Weg zum Schlosse ein – einen anderen, als den sie gekommen, und der sie zuletzt auf den stillen Schloßhof und zu dem großen Hauptportale führt. Es gab eine Zeit, wo sie die Freitreppe nicht hinaufgehen konnte, ohne daß ihr Blick das Wappen oben gestreift hätte mit seiner Devise, nach der sie stets zu leben gesucht, und die auch die seine gewesen, nach der er gelebt hat und gestorben ist. Heute schreitet sie die Stufen empor, ohne das Haupt zu heben. Was da oben geschrieben, es steht schon lange fest in ihrem Herzen; der tiefe Sinn – sie braucht nicht mehr darüber zu grübeln; die schwere Pflicht – sie ist ihr eine liebe Gewohnheit.

In dem Bibliotheksaale hat das Mädchen die Lampe bereits angezündet. Sie setzt sich an den großen Schreibtisch. Da sind Rechnungen zu revidieren, Anschläge zu prüfen, ein Pachtkontrakt, der morgen abgeschlossen werden soll, in seinen Einzelheiten festzustellen. Da ist zuletzt der endgültige, ihr zur Unterschrift zugesandte Vertrag mit der Regierung, laut welchem Schloß und Gut Warnesoe nach ihrem Tode an das Land Holstein fallen sollen für ein Pauschale, das ohne Abzug an verschiedene Wohltätigkeitsanstalten zu verteilen ist. Sie geht das weitläufige Dokument noch einmal durch Punkt für Punkt. Sie übereilt sich nicht und braucht sich nicht zu übereilen: ihr Tag ist lang, da ihr wenige Stunden Schlaf genügen. Mitternacht ist gekommen, bevor sie an ihre Korrespondenz gelangt. Sie hat an ihren Bruder zu schreiben, an ihren lieben Friedrich Perthes nach Gotha; nach Schweden, wo wieder einmal ein Baby angekommen ist.

Nun ist sie auch damit zu Ende.

Sie lehnt sich sinnend in den Sessel zurück. Ihr Blick fällt auf ein Fach des Pultes, das nur eine Korrespondenz enthält und die längst abgeschlossen ist. Sie nimmt ein Paket Briefe heraus. Das grobe Papier mahnt an eine vergangene Zeit, und so tut die Tinte, die bereits anfängt zu vergilben. Eigentlich lesen kann sie in den Briefen nicht mehr: sie kennt sie längst, längst auswendig Wort für Wort. Doch nimmt sie sie gern zur Hand – es ist ihr, als ob sie eine geliebte Hand berührte; doch liest sie gern darin – es ist ihr, als ob sie eine geliebte Stimme hörte.

Ihr Blick fällt zufällig auf diese Stelle in einem Briefe aus Moskau:

»– Das ist die entsetzliche Barbarei, zu der wir unsere Feinde gezwungen haben, und durch die sie uns wiederum zur Begehung von Greueln zwingen, die sonst ungeschehen geblieben wären. Oh, meine geliebte Freundin, mir stockt das Herz, denke ich dieses verderblichen Zirkels, der sich durch die Jahrtausende der Geschichte schlingt! Wird denn nie die Zeit kommen, in welcher der Mensch des Vorrechts, durch die Gabe der Vernunft geadelt zu sein vor aller Kreatur, voll wird genießen; den Pflichten, die aus diesem höchsten Adel fließen, frei und fröhlich wird genügen: ein Mensch wird sein können, ohne daß man im Namen der Familienliebe, der Wohlfahrt des Vaterlandes, der Ehre der Nation Unmenschliches von ihm fordert? Wird sie niemals kommen, diese Zeit?«

Sie läßt den Brief auf den Schoß sinken. Ein trübes Lächeln schwebt um ihre Lippen.

Niemals, geliebter Freund, flüstert sie, niemals!


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