Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Zehntes Kapitel.

In den prächtigen Räumen des stattlichen Billowschen Hauses am »Alten Wandrahm« hatten sich – seit dem Einzuge der Russen bereits zum vierten Male in der Abendstunde desselben Wochentages – so ziemlich alle zusammengefunden, denen in dem unendlich bewegten Schauspiele dieser Hamburger Wochen die ersten Rollen zugefallen waren: die russischen Offiziere, an ihrer Spitze der jetzt zum Generalmajor beförderte ruhmgekrönte Streifkorpsführer; die tapferen, fast ausnahmslos adligen Parteigänger aus aller Herren Ländern, die mit den Franzosen in Kampf waren oder gern in Kampf gewesen wären; die Offiziere der neuerrichteten Hanseatischen Legion; dänische Diplomaten, die auf ihrer Reise von Kopenhagen nach London und in das Hauptquartier zum Kaiser Alexander hier Station gemacht hatten, sich über den Stand der Dinge zu orientieren, bevor sie an den entscheidenden Stellen ihr letztes Wort sagten; das Häuflein patriotischer Männer, die in der Stadt notorisch an der Spitze der Neuerer standen, die dem alten Schlendrian und seinen Repräsentanten, dem wiedereingesetzten Senat, zu Leibe wollten, und deren Anwesenheit erklärte, weshalb von dem letzteren sich alle entschuldigt hatten, mit Ausnahme des jüngsten Mitgliedes, der sich in diesem Falle nicht wohl entschuldigen konnte.

Die Sache verhält sich nämlich so, sagte Warburg zu dem russischen Geheimrat von Alopeus, welcher, als Kommissar der für das nördliche Deutschland unter dem Vorsitze des Freiherrn von Stein seit kurzem errichteten gemeinsamen Verwaltungsbehörde, gestern in Hamburg angekommen war und sich über die Verhältnisse und Personen noch orientieren mußte: – mein Schwiegersohn – er ist erst seit vier Wochen verheiratet – nimmt die Stelle im Senat ein, die lange Jahre von mir eingenommen wurde und jetzt bei der Reaktivierung selbstverständlich hätte wieder eingenommen werden können. Aber ich hatte einmal, nachdem unser alter Senat sich in einen französischen Munizipalrat verwandelt, demissioniert, weil ich die Schandwirtschaft nicht länger mit ansehen mochte; wollte nicht wieder in das öffentliche Leben treten, und – unter uns – meinen früheren Herren Kollegen damit ein Beispiel geben, dem – sie nicht gefolgt sind. Leider! Die mißlichen Zustände, die Sie, mein Herr Geheimer Rat, bei uns finden werden: die Verschleppung unaufschiebbarer Maßregeln von einem Tage zum anderen; die Kärglichkeit, mit der die Staatsmittel fließen – aber was soll ich dem Herrn Geheimen Rat von so unerquicklichen Dingen reden! Um also auf meinen Schwiegersohn zurückzukommen –

Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, sagte der Russe; aber jemand in meiner Lage muß jede Minute wahrnehmen, die er mit einem so unterrichteten Manne zu verplaudern das Glück hat. Wer ist der Offizier dort mit den prächtigen, ebenso offenen, wie klugen und energischen Zügen?

Der Major Ernst von Pfuel – in der Tat ein ganz vorzugsweise ausgezeichneter Mann. Er hat auch schon einen Teil des Feldzuges in Rußland mitgemacht und soll in großer Gunst bei Ihrem Kaiser stehen. Ich meinte, der Herr Geheimrat kennten ihn?

Ich habe nur viel von ihm gehört. Und der kleine Herr, ebenfalls in unserer Uniform, mit dem Diplomatengesicht, das gar nicht zu der kriegerischen Maske zu passen scheint?

Ein Herr von Varnhagen, Adjutant des Generalmajors, bis vor kurzem in österreichischen Diensten. Übrigens ein halber Hamburger. Habe ihn schon gekannt, als er noch ein ganz junger Mensch war und sich hier zu seiner medizinischen Karriere – denn die hatte er ursprünglich im Auge – vorbereitete. Er ist seitdem überall herumgekommen: in Paris bei Napoleon, in Wien bei Metternich, in Prag beim Freiherrn von Stein –

Können Sie mich mit den Herren bekannt machen?

Aber ich bitte Sie, Herr Geheimer Rat! Ich bin ja, sozusagen, auch der Wirt dieses Hauses!

Warburg hatte den zugeknöpften Herrn Geheimrat an die beiden Offiziere abgetreten und wandte sich zu einem stattlichen Herrn, früheren Offizier, der die Ruhe seines pommerschen Landsitzes wieder verlassen hatte, sich hier ein wenig mit den Franzosen herumzuschlagen.

Ah, Herr von Hochwächter! Sie erinnern sich meiner doch? Warburg, der Vater unserer schönen Wirtin – hatte letzten Donnerstag bereits das Vergnügen – sehen Sie? wir sprachen über pommersche und holsteinsche Landwirtschaft. Ich vergaß, Sie zu bitten, daß Sie sich jedenfalls das Gut meines Schwiegersohnes ansehen müssen: Warnesoe, nur sechs Meilen von hier und jetzt bei unserem amikalen Verhältnis mit den dänischen Nachbarn ungefährdet zu erreichen. Sie werden dort eine Musterwirtschaft kennen lernen, und wenn Sie sich dafür interessieren – aber wie sollten Sie nicht? – ein Edelmann aus einem so alten Geschlechte! – den prächtigsten Herrensitz, den Sie sich vorstellen können – aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts, völlig im Stil jener Zeit bis auf eine Flucht von Zimmern, die mein Schwiegersohn hat renovieren und modernisieren lassen. Das junge Paar hat die zwei ersten Flitterwochen dort zugebracht, etwas komfortabler als meine arme Johanna.

Sie haben eine zweite Tochter?

Sechs Jahre jünger als meine Minna dort; aber an einem Tage mit ihr verheiratet. Und sofort – aber sofort auf die Reise nach London, wo Sandström – der Name ihres jungen Gatten, eines geborenen Schweden – eine sehr vorteilhafte Stellung in dem Hause Charles Billow Brothers, dessen Chef am hiesigen Platze mein ältester Schwiegersohn ist –

Wie steht es mit der Jagd auf Warnesoe? fragte der pommersche Edelmann, verstohlen durch die Nase gähnend; hält Ihr Herr Schwiegersohn etwas darauf?

Da müssen Sie ihn schon selber fragen, erwiderte Warburg lachend. Billow! Herr von Hochwächter hier wünscht zu wissen –

Hab's gehört, sagte Billow, sich aus einer nahestehenden Gruppe zu den beiden wendend. Massenhaft! Schnepfen –

Passé! sagte der Pommer. Sind in der Woche Quasimodo: drei nach Palmarum. Und Palmarum – Lirumlarum!

Na! sagte Billow verlegen. Offengestanden, die Jagd ist nicht eigentlich mein Departement. Das besorgt mein Schwager.

Ah! rief Herr von Hochwächter, plötzlich lebhaft werdend, der schlanke, junge Offizier, der neulich hier war! Ein prächtiger Mensch – wo ist er heut?

Er kommandiert unsere Vorposten auf der Wilhelmsburg, sagte Warburg, sich in die Brust werfend.

Der General hat ihn eigens dazu designiert, fügte Billow in scheinbar gleichgültigem Tone hinzu. Ja, ja, der junge Mann übertrifft unsere Erwartungen. Aber, Herr von Hochwächter, ich muß Sie jetzt zu meiner Frau bringen. Sie hat sich schon beklagt, daß Sie heute abend noch kein Wort mit ihr gesprochen haben.

Die gnädige Frau ist so umringt! sagte der Pommer bedenklich.

Wir brechen uns schon Bahn! rief Billow. Und vergessen Sie nicht, ihr zu sagen, daß Sie ihren Bruder bewundern! Das hört sie gar zu gern.

Ok up plattdütsch? fragte der Pommer mit einem Anfluge von Lächeln.

Ok up plattdütsch! erwiderte Billow, in ein schallendes Gelächter ausbrechend. Kommen Sie!

Er zog den Hünen mit sich fort; Warburg blickte ihnen vergnüglich schmunzelnd nach und ließ, da er eben niemand hatte, mit dem er plaudern konnte, sich in einen Fauteuil sinken, die ermüdeten Glieder ein wenig zu ruhen und die Situation behaglich zu genießen bei einem Glase Punsch, das er einem vorübereilenden Diener von dem Tablett genommen hatte. In der Tat eine behagliche Situation hier in dem prächtigen Saale, in welchem, überstrahlt von blendendem Kerzenlichte, so viele glänzende Uniformen, so viele Fracks der ersten Männer der Stadt, so viele elegante Roben der schönsten Frauen und Jungfrauen durcheinanderwogten! Und der Wirt dieses glänzenden Festes, wie es in Hamburg höchstens Salomon Heine oder Peter Godeffroy hätten zustande bringen können, sein Schwiegersohn! die schöne, von allen gefeierte Wirtin seine Tochter! Zwar der Johanna hätte er es lieber gegönnt. Die arme Johanna! Ihr erster Brief aus London hatte gar nicht lustig geklungen, eigentlich recht traurig, obgleich er das Minna, die ihn darauf aufmerksam gemacht, nicht hatte zugeben wollen. Wie durfte er? Es hätte wie eine schnöde Undankbarkeit gegen Billow ausgesehen. Mein Gott, man darf eben seine Ansprüche nicht zu hoch spannen! Hatte er selbst etwa die Hoffnungen, die er auf ein Zusammenwirken mit Billow gesetzt, nicht bedeutend reduzieren müssen? Billow hielt den Daumen ein wenig fest auf dem Geldbeutel – das konnte man sich hier in der stillen Saalecke, wo man niemand einen blauen Dunst vorzumachen hatte, wohl eingestehen. Und das war eigentlich recht undankbar von dem Billow. Er dachte doch nicht gar, daß er es war, der alle diese vornehmen Herren, die vielleicht nicht einmal zu Heine oder Godeffroy gegangen wären, hierher zog? Pah! die schöne, die geistreiche junge Frau war's! und höchstens etwa der »Senator«, den er wiederum nicht seinem Verdienste verdankte, sondern einfach dem Umstande, daß man da oben auf dem Rathause der Partei Perthes und Konsorten eine Konzession machen mußte, und die Partei angenommen hatte, der Gatte einer Minna Warburg müsse ein guter Patriot sein und im Senat die Interessen der Partei energisch vertreten. Er war der Mann seiner Frau und damit basta! Aber auch welcher Frau? Wer hätte das dem eigensinnigen, verschlossenen, sentimentalen Mädchen zugetraut? Diese Liebe, Verehrung, Vergötterung bei jung und alt! Diese Grazie aber auch und Würde, mit der sie zu repräsentieren verstand; die Schlagfertigkeit, die sie in dem Gespräche an Tag legte, es mochte sein mit wem und über was es wollte! Ein Prachtmädchen bei Gott, auf die er seinen Geist vererbt hatte, wie auf Johanna seine Munterkeit und Lebenslust. Auch der Georg machte sich jetzt gut. Mit zweiundzwanzig Jahren Offizier, einstimmig gewählt vom Korps und bestätigt von Seiner russischen Majestät! Natürlich würde er nun Offizier bleiben, später in russische oder preußische Dienste treten und zweifellos eine glänzende Karriere machen – hatte ja Herr von Tettenborn selbst gesagt. Natürlich ist auch er nicht zufrieden. Er behauptet, die Dinge gehen schlecht. Minna behauptet dasselbe. Ich weiß nicht, was sie wollen. Ich glaube, die Menschen sind von Hause aus undankbar und um so undankbarer, je besser es ihnen geht. Meine Kinder sind wenigstens so. Ich glaube, die Minna hat heute abend noch nicht drei Worte mit ihrem alten Vater gesprochen, dem sie es doch einzig und allein verdankt, wenn sie jetzt Frau Senator Billow und nicht – ach, die dummen Briefe! daß ich doch immer wieder daran denken muß! Als ob ich nicht mit dem besten Gewissen von der Welt daran denken könnte! Als ob nicht jeder Vater, der sein Kind liebt, so gehandelt hätte! Gott sei Dank, da geht's zum Büfett! Ich will ein paar Austern essen und ein Glas Sherry dazu trinken. Das wird mich auf andere Gedanken bringen.

Elftes Kapitel.

Das prächtige Büfett war im Hintergrunde des benachbarten großen Speisesaales aufgestellt, in dem eine hinreichende Anzahl kleiner Tische zu vier oder sechs Kuverts die Gäste zum Niedersitzen einlud. Doch machten nur die besonders Bequemen von dieser Einladung Gebrauch. Der unendliche Gesprächsstoff hatte in einer Gesellschaft, die aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt war, im Salon noch lange nicht erschöpft werden können; oder man hatte auch die nicht gefunden, die man gerade suchte. Man suchte sie jetzt und freute sich, sie gefunden zu haben. So erspähte denn die vielumworbene Wirtin des Hauses die Gelegenheit, endlich ihres verehrten Freundes Perthes habhaft zu werden, dessen ganz ungewöhnlich ernste Miene und auffallende Schweigsamkeit sie schon während des ganzen Abends sorgend aus der Ferne beobachtet hatte. Sie sagte ihm das, als sie, auf ihn zutretend, ihm die Hand reichte, die er herzlich drückte.

Sie haben recht, liebe Freundin, erwiderte er, ich wälze in mir schwere Gedanken und möchte Ihnen gern – aber heute abend ist keine Möglichkeit zu einer ruhigen Aussprache. Da kommt schon wieder ein Schwarm Verehrer.

Herr Graf von Bothmer – Herr von Arnim – Herr Freiherr von Droste – Sie müssen mich vorderhand entschuldigen! rief Minna den Herren entgegen. Bitte, sagen Sie es auch dem General, der mich engagiert hat. Ich habe notwendig mit meinem verehrten Freunde hier zu sprechen. In zehn Minuten also, wenn wir bis dahin fertig werden!

So, fuhr Minna fort, als sich die jungen Edelleute mit tiefen Verbeugungen zurückzogen, das Feld ist frei; und nun, Verehrter, sprechen Sie!

Sie hatte mit dem Freunde an einem ganz kleinen Tische Platz genommen, von dem sie den dritten Stuhl zurückschob, so daß man nicht ohne weiteres ihr Tête-à-tête stören konnte.

Ich weiß nicht, begann Perthes, ob es recht ist, Ihnen Ihre Feststimmung –

Er brach jäh ab. In dem schönen Gesichte, das dem seinen jetzt so nahe war, zuckte es, und die großen blauen Augen hatten sich verdunkelt.

Verzeihen Sie! sagte er leise.

Dessen bedarf es zwischen uns nicht, erwiderte sie. Sie meinten ja auch nur die Stimmung, die ich als Wirtin zur Schau tragen muß. Sonst –

Sie drückte die Augen ein wie jemand, der einen heftigen physischen Schmerz empfindet, und fuhr mit dumpfer Stimme fort: Lieber Freund, Sie und ich, wir beide glauben an ein ewiges Leben, und daß dort sich die vereinen, die auf Erden sich rechtschaffen bemüht haben, gut zu sein und gut zu handeln. Wenn unsere seligen Geister sich da wiederfinden, und es dann noch einer Aussprache bedarf – und nicht vielmehr, wie ich annehme, die geläuterten Seelen sich ohne Worte verstehen –, dann sollen Sie erfahren, wie es sonst in diesem Herzen aussteht.

Sie preßte die Hand auf den Busen, riß sich dann mit einer gewaltsamen Anstrengung aus dem Bann, der auf ihr lag, und sagte, nun wieder mit gelösten Mienen und klaren Augen:

Wie klein muß ich Ihnen erscheinen, der Sie sich längst gewöhnt haben, für das Allgemeine zu sorgen und die Sorge für das private Wohl Gott anheimzustellen.

Sie überschätzen mich, liebe Freundin, erwiderte Perthes sanft. Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich den ganzen Abend kaum an etwas anderes gedacht habe, als was aus meiner Frau und meiner Kinderschar werden soll, wenn –

Wenn?

Perthes ließ seinen Blick durch den Saal schweifen und dann, sich näher an Minna heranbeugend, sagte er hastig im Flüstertone:

Wir haben uns seit acht Tagen nicht gesprochen – Sie sind ja von Ihren neuen Pflichten so in Anspruch genommen – in den acht Tagen ist in der Lage der Dinge eine starke Veränderung zu unseren Ungunsten eingetreten. Der gute Geist in der Bürgerschaft geht von Tag zu Tag mehr verloren – hier in Vertrauensseligkeit, dort in Erschlaffung, welches in den meisten Fällen nur zwei Ausdrücke für die identische Sache sind. Man redet sich ein, man sei über den Berg, an dessen schroffem Fuße man eben steht. Man vertraut im Notfalle auf die Hilfe der Dänen, der Schweden, Preußens, Norddeutschlands – auf alle und alles, nur nicht auf sich selbst. Und ich weiß mit absoluter Bestimmtheit, daß alle diese Hoffnungen Seifenblasen sind: daß Dänemark nur mit uns spielt wie die Katze mit der Maus; Bernadotte noch immer nicht in Stralsund angekommen ist und, wenn er gekommen, Gewehr bei Fuß stehenbleiben wird, ruhig abwartend, wohin sich die Schale neigt: ob zu Frankreich, ob zu den Verbündeten, an denen sich das Zaudern Preußens jetzt furchtbar rächt. Hätte es den ungeheuren Eindruck, den Yorks Abfall im Dezember machte, auszunutzen verstanden, man hätte die Trümmer der großen Armee, die überallhin zerstreuten Okkupationstruppen vor sich her aufrollen und den Feldzug am Rheine beginnen können mit einem waffenlosen Frankreich, das uns jetzt, bis an die Zähne gerüstet, im Herzen von Deutschland gegenübersteht. Und wenn man sich in Sachsen Napoleons erwehrt, für uns hier oben wird man nichts übrig haben – nicht einen Mann. Was anders aber heißt das, als daß Hamburgs Fall besiegelt ist!

Das klingt freilich aus dem Munde des Mannes da ganz anders, sagte Minna, mit den Augen nach Tettenborn winkend, der, durch die Breite des Saales von ihnen getrennt, lebhaft sprechend und gestikulierend, in einem größeren Kreise eifrig lauschender Offiziere stand.

Um Perthes' feine Lippen zuckte ein satirisches Lächeln.

Nun, sagte er, ich will gewiß den Mann nicht schelten. Sein Zug hierher in unsere Ultima Thule war immer eine kühne Tat, die ihm die Weltgeschichte nicht vergessen wird. Auch hat er hier, als Kommandant und oberster Befehlshaber, manches Tüchtige und Zweckmäßige zustande gebracht; seine Schuld ist es nicht, wenn er trotzdem an einem Platze steht, auf den er nicht gehört. Nein, nicht seine Schuld, aber unser Verhängnis. Mir ist schon längst klar geworden, daß die fünfzehnhundert Kosaken, über deren Einrücken wir eine so unbändige Freude empfanden, für uns ein Danaergeschenk gewesen sind. Sie sind nichts als eine spanische Wand, die wir für eine Mauer halten, weil sie einen und den anderen rauhen Luftzug von uns abwehrt, deren Hinfälligkeit aber der erste kräftige Windstoß kläglich zutage bringen wird.

Aber, sagte Minna, wenn ich leider zugeben muß, daß der, von dem wir sprechen, bei all seinen glänzenden Eigenschaften einer so schwierigen Situation, wie er sie hier vorgefunden hat, nicht gewachsen ist – da sind um ihn her so viele ausgezeichnete Offiziere: Herr von Pfuel, Canitz, Graf Westphalen –

Den Stabsmajor der Bürgergarde, einen gewissen Friedrich Perthes, nicht zu vergessen, sagte Perthes. Ach, liebe Freundin, daß man bei so traurigen Dingen noch lächeln kann! Ist es nicht zum Weinen traurig, daß wir Bürgeroffiziere vom Kriege absolut nichts verstehen, und die wirklichen Kriegsmänner, die Sie nennen – großer Gott! Hamburg ist ihnen eine vorgeschobene Position, die man verteidigt, solange es geht, und die man aufgibt, wenn es nicht mehr geht, für eine andere, die sich vielleicht mit größerem Erfolge verteidigen läßt. Überdies: Herr von Tettenborn ist der Chef. Was er anordnet, müssen die Untergebenen ausführen. So will es die Disziplin. Erweisen sich die Anordnungen als töricht, unzweckmäßig, sie trifft keine Verantwortung und, wenn es hinterher schief geht, keine Schuld. Sie weinen darüber keine blutigen Tränen wie Georg. Ich war gestern bei ihm auf der Wilhelmsburg. Er ist außer sich. Er hält die dort aufgeworfenen Schanzen und deren Armierung für völlig unzulänglich, ja zweckwidrig. Ich verstehe von diesen Dingen nichts; aber Georg hat seine Kriegszeit gut benutzt. Ich glaube ihm unbedingt, und daß nicht nur die Schanzen, sondern auch die Besatzung verloren ist, sobald Davoust mit nur einiger Macht in Harburg auftritt. Wir wissen aber mit Bestimmtheit, daß der Marschall in Gewaltmärschen mit einer sogar bedeutenden Macht sich naht; daß er vorgestern bereits in Lüneburg war, morgen, heute schon in Harburg sein kann. Nur Herr von Tettenborn weiß es nicht, vielmehr will es nicht wissen, vermutlich, damit die Hamburger noch ein paar Nächte ruhig schlafen können. Es wird ein furchtbares Erwachen werden.

Und da ist nichts zu tun?

Nichts! Außer auf Gott vertrauen, daß er uns – ich meine: die große Masse – die Gefahr, in der wir schweben, nicht allzu spät erkennen läßt, so daß wir Zeit gewinnen, das Verlorene wieder einzubringen und aus der Gefahr einen Mut, eine Kraft schöpfen, die uns in der trügerischen Sicherheit, der wir uns hingeben, abhanden gekommen sind.

Haben Sie mit Herrn von Tettenborn in diesem Sinne gesprochen?

Gewiß.

Nun?

Er hat mir eine höfliche Verbeugung gemacht und gesagt, daß ich ein eminent gescheiter Mann sei.

Und wenn ich mein Heil bei ihm versuchte?

So würde er Ihnen galant die Hand küssen und sein Ritterwort zum Pfande setzen, daß Sie die geistreichste Dame sind, die er je gesehen.

Dennoch werde ich's versuchen.

Aber nicht heute abend; es ist die rechte Zeit nicht. Bitten Sie ihn, Sie morgen zu besuchen; nein, lassen Sie lieber auch das!

Weshalb?

Ihnen darf ich ja sagen, daß Herr von Tettenborn in dem Rufe steht, für jeden Erfolg in seinem Kriegerleben deren mehrere auf einem anderen Felde verzeichnen zu können, wo man nicht zu Minerva betet, und Sie wissen, wie leicht verletzlich unsere steife Hamburger Moral ist.

Ein flüchtiges Rot färbte die bleichen Wangen der jungen Frau, während es halb verächtlich, halb melancholisch um ihre vollen Lippen zuckte.

Es scheint, ich bin etwas im Preise gesunken, murmelte sie.

Der Freund hatte keine Zeit, zu äußern, daß er nicht verstehe, was die junge Frau damit habe sagen wollen, denn in demselben Augenblicke kam Herr von Tettenborn raschen Schrittes auf das Tischchen zu, an dem sie saßen. Wie er sich jetzt näherte, ihr schon aus der Entfernung von mehreren Schritten zulächelnd, glaubte Minna zum erstenmal die Verwüstungen zu bemerken, die ein abenteuerliches Leben in dem sonst schönen Gesicht des Mannes angerichtet hatte, und sein Lächeln wollte ihr nicht gefallen. Seine Stirn war leicht gerötet; in der Linken hielt er ein volles Champagnerglas.

Gnädige Frau, sagte er mit seiner wohllautenden Stimme, in welcher der süddeutsche Dialekt noch immer deutlich anklang, meine Kameraden und ich sind entschlossen, nicht länger geduldig zuzusehen, wenn sich die schöne Wirtin dieses Hauses den anderen Gästen zugunsten eines entzieht, und wäre dieser eine auch der erste Bürger der Stadt, deren erster und bis jetzt einziger Ehrenbürger zu sein ich mich rühmen darf. Verstatten Sie mir wenigstens, daß ich Ihr interessantes Gespräch mit unserem gelehrten und geistvollen Freunde so lange unterbreche, als nötig ist, in wenigen ungeschminkten Worten, wie sie einem Kriegsmanne zu Gebote stehen, den Gefühlen Ausdruck zu geben, die mein Herz und die Herzen meiner Kameraden gegenüber so viel Schönheit und Geist, so viel Huld und Anmut erfüllen.

Ein Murmeln des Beifalls durchlief den dichten Kreis der Offiziere, von denen einige, die gefüllten Gläser in den Händen, mit dem General herangetreten waren, die meisten, durch seine laut erhobene Stimme aufmerksam gemacht, jetzt erst eilig herandrängten. Der General, der eine ablehnende Bewegung der Dame zu bemerken glaubte, fuhr eilig fort:

Ihre Bescheidenheit, gnädige Frau, sträubt sich gegen eine Ovation, die doch so selbstverständlich, so völlig der freie Erguß unserer dankbaren Herzen ist. Blicken Sie in diesem edeln Kreise umher – da ist keiner, den der rauhe Kriegsbesen nicht schon von Ort zu Ort geschleudert und seine Ruhe an keinem hat finden lassen; aber auch keiner, der sich nicht die Erinnerung heilig bewahrt hätte an die Stätten, die er geweiht fand durch den Genius einer edeln Frau, in der er, des Krieges rauher Sohn, den Genius der Menschheit anbeten durfte. Solche Stätte ist das Haus, in dem sie weilt, welche Hamburg als sein schönstes und geistvollstes Mädchen gekannt hat, bevor es wußte, daß es in ihr auch die patriotische Frau, die unermüdliche Trösterin und Helferin der Armen und Elenden und zugleich die werde zu verehren haben, für welche die Griechen Troja zerstört hätten, wie wir, alle wie einer und einer wie alle, entschlossen sind und schwören, bis zu unserem letzten Blutstropfen Hamburg für sie zu erhalten. Der Schutzgöttin Hamburgs dieses volle Glas!

Das Hoch des Generals wurde von den Offizieren mit Enthusiasmus aufgenommen und immer von neuem wiederholt. In Minnas Mienen war nichts von Stolz auf die Huldigung zu entdecken. Bleich, mit gesenkten Augen stand sie da, während es um ihre Lippen zuckte. Man sah ihr an, sie wartete nur, bis sich der Tumult so weit gelegt haben würde, daß sie zu Wort gelangen könnte. Aber bevor das geschah, drängte sich ein Diener hastig durch die Aufgeregten an den General, dem er etwas ins Ohr flüsterte, worauf dieser alsbald mit einer flüchtigen Entschuldigung gegen Minna, von dem Diener gefolgt, den Saal verließ. Der Vorgang hatte an sich nichts Besonderes – kamen doch dergleichen Meldungen zu jeder Zeit an den Oberkommandeur – nur daß gerade eben die Welle der Begeisterung alle auf die höchste Spitze getragen hatte, man auf die Erwiderung der schönen Frau gespannt gewesen war – über den Tölpel von Bedienten, der irgend eine Ordonnanz von irgend einer Torwache mit irgend einer gleichgültigen Meldung nicht zum Teufel geschickt, oder wenigstens bis zu einem gelegeneren Augenblicke hatte warten heißen! Man drängte sich um Minna, ihr lachend zu versichern, daß ihr die Erwiderung, die sie zweifellos auf den Lippen gehabt, mitnichten geschenkt sei – nur so lange, bis der Chef wieder eintreten würde, was im nächsten Moment geschehen müsse.

Aber Minuten vergingen – der General kam nicht wieder. Man blickte einander fragend, verlegen an; die Gesichter einiger älterer und erfahrenerer Offiziere waren plötzlich sehr ernst geworden.

Ich wette, etwas von unserem Freunde Davoust, murmelte Ernst von Pfuel dem neben ihm stehenden Hauptmann von Canitz ins Ohr.

Ich habe den General genug gewarnt, murmelte der Angeredete zurück.

In demselben Augenblicke trat Tettenborn, wie immer raschen Schrittes, wieder in den Saal, hinter ihm ein junger hanseatischer Offizier.

Georg! schrie Minna auf, dem Bruder entgegenstürzend. Ich habe es geahnt!

Wie es der Schutzgöttin Hamburgs ziemt! rief Tettenborn lachend. Wie sollte sie nicht die Vorahnung eines Unheils haben, das auf ihre teure Stadt herabzudrohen scheint!

Er hatte sich an die Offiziere gewandt, die ihn jetzt mit fragenden Mienen in dichtem Kreis umdrängten, und fuhr mit einer Stimme fort, die ruhig und gelassen klingen sollte, während doch, für ein leiseres Ohr wohl vernehmbar, die innere Erregung durchzitterte:

Aber, meine Herren, auch wirklich nur scheint. Unser junger Kamerad dort hat dem Zauberfeste, das uns seine Schwester gibt, nicht fern bleiben mögen und, um mit dem Angenehmen das Nützliche zu verbinden, mir zugleich die Meldung gebracht, daß Davousts Avantgarde soeben in Harburg eingerückt ist. Soeben, will sagen, vor zwei Stunden – mehr hat unser junger Kamerad nicht bedurft, um auf einem schnellen Ewer bei eintretender Ebbe und mit günstigem Südost von seinem Posten auf Wilhelmsburg die Nachricht hierher zu bringen. Sein Eifer verdient die lobende Anerkennung, die ich ihm hiermit gern erteilt haben will, wenn ich auch bereits seit einer Woche die Meldung täglich und stündlich erwartet habe. Meine Herren Offiziere wissen das, und wenn ich, meine hier anwesenden Herren vom Zivil, in Ihrer Gegenwart eine militärische Angelegenheit erörtere, so geschieht es in der ganz bestimmten Absicht, Sie zu ersuchen, einer besonnenen, furchtlosen Auffassung der Lage bei den Bürgern das Wort zu reden und ihnen zu versichern, daß Karl von Tettenborn seine Pflicht kennt und zu erfüllen wissen wird, wie er hofft und erwartet, daß die Bürgerschaft Hamburgs auch ihrerseits ihre Pflicht tun werde. Und nun, meine schöne Frau, bitte ich Sie, mir Urlaub zu geben und zu verzeihen, wenn ich Ihnen auch den Bruder alsbald wieder entführe, der sofort auf seinen Posten zurück muß.

Er küßte Minna zum Abschiede die Hand. Als er sich wieder aufrichtete, blickte diese ihm fest ins Auge und sagte:

Herr General! die Stunde ist gekommen, in der Sie das Wort, das Sie der Schutzgöttin Hamburgs gegeben, einzulösen haben.

Ich bin dazu jeden Augenblick bereit, erwiderte Tettenborn, sich tief verbeugend; aber die Stunde ist noch nicht da; im Gegenteil, ich hoffe zuversichtlich, noch manche so fröhlich wie heute in diesem gastlichen Hause verleben zu können.

Der General wäre mit Pfuel, Canitz und einigen anderen Offizieren, denen er schon vorher einen Wink erteilt, gegangen, ohne von dem Wirte des Hauses sich zu verabschieden, wenn dieser die Hinausdrängenden nicht noch an der Tür erwischt hätte. Indessen konnte er nur einige Worte anbringen: die Herren hatten es sehr eilig.

Unterdessen hatte sich Georg von dem Vater, der ihn aufhalten wollte, los gemacht und Minna beiseite gezogen.

Leb wohl, geliebte Schwester! Vielleicht sehen wir uns nicht wieder.

Das wolle Gott verhüten!

Wir werden morgen in der Frühe angegriffen werden, vielleicht noch heute nacht. Man kann nicht wissen, wie es abläuft. So viel ist sicher, in spätestens einer Woche sind die Franzosen am Brooktor. Rette wenigstens dein liebes Leben zur rechten Zeit!

Während du das deine in die Schanze schlägst?

Ich habe keine Freude mehr am Leben und stürbe heute lieber als morgen, wenn ich dich glücklich wüßte. Bist du glücklich, Minna?

In dem Sinne, in dem du es jetzt meinst: nein! Das habe ich aber auch nie verlangt.

Und zu denken, daß ich dazu beigetragen habe, dich unglücklich zu machen! Ach, Minna, hättest du mich sprechen lassen an dem Abend des Einzugs – auf der Bank an der Alster! Ich hatte noch viel auf dem Herzen über dich und Billow und – ich hatte ihn ja erst jetzt kennen gelernt.

Still! Man wird aufmerksam auf uns. Es muß geschieden sein. Leb wohl!

Leb wohl!

Der junge Mann hatte, ohne sich an die noch anwesenden Gäste zu kehren, die Schwester in die Arme gepreßt und war davongestürmt. Aber auch sonst hatte sich der Saal fast um die Hälfte der Gäste geleert. So leicht auch der General die erhaltene Nachricht zu nehmen schien, die Offiziere wußten zu wohl, was eine so große Nähe des Feindes zu bedeuten habe, und hatten sich einzeln oder gruppenweise davongestohlen. Trotz Billows Bemühungen, sie zu halten, folgten die anderen: es sei schon über Mitternacht und die festliche Stimmung durch die böse Kunde doch nun unwiederbringlich zerstört. Nach wenigen Minuten waren auch die letzten gegangen. Die Gastgeber fanden sich allein.

Zwölftes Kapitel.

An dem Büfett räumten die Diener, verstohlen untereinander flüsternd. Minna hatte sich an dem Tischchen, neben dem sie die letzte Zeit gestanden, niedergelassen, den Kopf in die Hand gestützt; plötzlich hörte sie über sich seine Stimme: Ich habe mit dir zu sprechen.

Sie blickte auf und sah sein rotes Gesicht, das röter war als sonst, dazu augenscheinlich in ungewöhnlicher Erregung. Er deutete mit der Hand nach dem Salon nebenan, wo noch die Lichter brannten. Was konnte er wollen, als mit ihr über die so plötzlich veränderte Lage der Dinge sprechen? Sie erhob sich und schritt ihm voran in den Salon, dessen Tür er hinter sich zudrückte.

Willst du gefälligst Platz nehmen?

Sie tat es, nun doch einigermaßen verwundert und beunruhigt durch die Umstände, die er machte, sowie durch den gezwungenen Ton, in dem er sprach.

Er war ein paarmal mit heftigen Schritten vor ihr auf und ab gegangen; nun blieb er jäh stehen und rief mit heftiger Stimme:

Ich wollte dir nur sagen, daß ich dein Benehmen an unseren sämtlichen Gesellschaftsabenden, besonders aber heute, nicht so gefunden habe, wie ich es von dir erwarten durfte, und, alles in allem, sehr wenig nach meinem Geschmack.

Es war das erstemal, daß er in diesem groben Tone zu ihr sprach, wenn sie auch sonst schon ein und das andere unfreundliche Wort von ihm hatte erdulden müssen. Aber er hatte sich wohl im Wein übernommen.

Das tut mir aufrichtig leid, erwiderte sie ruhig. Du sagst mir gewiß morgen in Freundlichkeit, worin ich es versehen habe, und was du an meinem Benehmen anders wünschst.

Er hatte wieder hin und her zu rennen begonnen, jetzt blieb er abermals stehen und rief:

Morgen? so? und in Freundlichkeit? Zum Henker die Freundlichkeit! Wer ist hier Herr im Hause? Ich oder du? Ich habe es satt, immer und überall die zweite Rolle zu spielen.

Ich habe mir die erste nie angemaßt.

Weil sie dir auf dem Präsentierteller entgegengetragen wird von den vornehmen Herren, die unsereinen, der sie samt und sonders aufkaufen könnte, über die Achsel ansehen und mit ein Paar Worten abspeisen zu dürfen glauben, während sie die unverschämten Blicke nicht von Madame lassen und ihr lächerliche Reden halten, die sie ruhig mit anhört, anstatt dem Schwätzer den Rücken zu wenden!

Die Taktlosigkeit Herrn von Tettenborns, mich in einer übertriebenen Weise zu loben, kann niemand mehr bedauert haben als ich selbst, erwiderte Minna schnell; aber wie kann man mich gerechterweise für seine Unschicklichkeit verantwortlich machen?

Weil du sie provoziert hast! schrie Billow, provoziert durch das kokette Raffinement, mit dem du dich eine halbe Stunde lang – ich habe nach der Uhr gesehen! – ohne dich um einen Menschen sonst zu kümmern, mit deinem verehrten Freunde, dem unübertrefflichen Herrn Perthes, unterhalten hast, daß alle Welt im Saale darüber die Köpfe zusammensteckte.

Es waren sehr ernste Dinge, über die ich mit Herrn Perthes gesprochen habe, und ich möchte, alle Welt im Saale hätte sie gehört. Man würde dann besser auf die Botschaft, die uns Georg gebracht hat, vorbereitet gewesen sein.

Billow lachte höhnisch auf.

Natürlich! rief er, du und dein Herr Perthes, ihr bringt die Weltgeschichte in Ordnung; dann erscheint eilfertig der ritterliche Georg, wie ein Deus ex machina, um es pathetisch zu bestätigen und zum Lohne dafür abgeküßt zu werden – was sich denn in einer großen Gesellschaft noch immer ganz besonders feierlich und rührend ausnimmt.

Minna erwiderte nichts; sie dachte darüber nach, wodurch sie den Mann zu diesen wütenden Ausfällen gereizt haben könnte. Und plötzlich kam sie zu der Erkenntnis: nicht dies oder jenes, was er vorgebracht, überhaupt nichts Einzelnes sei es, um was es sich hier handelte; vielmehr um die ganzen vier Wochen, während derer sie nun verheiratet waren; und auch um die nur als Vorbild der Zukunft, die sich nun so weiter fortspinnen werde in öder Seelenentfremdung. Und daß auch er inzwischen von dem Grausen einer solchen Zukunft befallen sei und der schrecklichen Entdeckung, die er gemacht, auf seine täppische Weise einen Ausdruck zu geben versuche. Das fuhr ihr durch die Seele wie ein greller Blitz, dem sogleich, einem warmen Regen gleich, inniges Mitleid folgte mit dem Manne, der sich unglücklich fühlte und unglücklich war und doch nicht ganz ohne ihre Schuld.

Du hast mich nicht so gefunden, wie du gehofft, sagte sie sanft. Ich beklage das schmerzlich, um so schmerzlicher, als ich fühle, daß du in deinem Rechte bist. Ich will versuchen, besser zu sein; es wird mir schon gelingen, wenn du mir darin freundlich beistehst. Willst du?

Sie hatte ihm die Hand hingestreckt. Er tat, als ob er es nicht bemerke und rief, sich abwendend, um wieder das Zimmer zu durchmessen:

Schöne Redensarten, an die glaube, wer mag! Ich nicht. Ich habe noch nicht vergessen, was mir eine gewisse Dame von Geliebthaben und Nichtwiederliebenkönnen und anderen erbaulichen Dingen vordeklamiert hat, als ich Narr genug war, sie trotzdem zu meiner Frau machen zu wollen.

So wirst du mir wenigstens zugeben, erwiderte Minna, daß ich nicht versucht habe, dich zu hintergehen oder auch nur über meine Empfindungen im dunkeln zu lassen. Und wenn wir beide glaubten, mit dem wenigen, was ich dir zu bieten vermochte, eine Ehe führen zu können und wir uns beide geirrt, nun, so bleibt uns ja nichts anderes übrig, als der Versuch, aus dem wenigen mehr zu machen. Und ich meine – ich bin überzeugt, der Versuch wird gelingen, so wir nur redlich wollen.

Und darf ich fragen, wie sich Madame diesen famosen Versuch denken?

Der Ton, in dem er die Frage tat, war noch höhnischer als die Form; aber Minna war entschlossen, einen Kampf, in welchem sie sich mit jedem Moment mehr als die Stärkere fühlte, ihrerseits nicht abzubrechen, sondern zu dem für beide Teile erhofften günstigen Ausgang zu führen.

Möchtest du mich ein Paar Minuten geduldig anhören? begann sie und fuhr, ohne seine Antwort abzuwarten, immer in demselben sanften Tone fort: Sieh, ich habe mich aus schwerem Seelenleid gerettet dadurch, daß ich mich entschloß, fortan schlechterdings nicht mehr für mich zu leben, nichts mehr für mich zu wollen, nur für die anderen: für die Meinen, für meine Vaterstadt, mein Vaterland. Das ist mir anfangs nicht leicht geworden; allmählich aber gelang es doch, und ich fühlte immer mehr, welch ein Großes und Herrliches es ist um das stolze Wort, das über dem Portale deines Schlosses in Warnesoe geschrieben steht und der Bannerspruch des edeln Geschlechtes war, das es erbaute: »Noblesse oblige«.

Keine Phrasen, wenn ich bitten darf, und am wenigsten französische!

In meinem Munde ist es keine Phrase, trotzdem es französisch ist. Sie lautet in meiner deutschen Übersetzung: Wer sich mit ganzer Seele einer großen und gerechten Sache, einem hohen, edeln Gedanken hinzugeben versucht, der spürt bald die Notwendigkeit der Verpflichtung, nun auch alles Kleinliche und Gemeine von sich abzutun, weil er nur so imstande ist, jenem Großen und Edeln zu leben. Nun meine ich, vielmehr bin ich davon überzeugt: was ich für mich allein erfahren habe, das werden wir beide zu unserem Heile in unserer Ehe erfahren, wenn wir in ihr zunächst einen Bund sehen, den wir geschlossen, um mit gemeinschaftlichen Kräften, eines dem anderen ratend, beistehend, eines das andere tröstend, ermutigend, dem Gewaltigen, das über uns hereinzubrechen droht, Widerstand zu leisten. Das scheint nichts Besonderes; – denn wer wäre nicht zu diesem Widerstande entschlossen? wer wüßte nicht, daß wir nur, wenn wir fest zusammenhalten, zu siegen hoffen dürfen? – und doch wird es für uns etwas Besonderes sein und eine neue Epoche in unserem ehelichen Leben. Wir werden am Morgen erwachen mit dem Gedanken: was gibt es heute für unsere gemeinschaftliche Sache zu tun? wir werden am Abend uns erzählen, wie uns unser Tagewerk geglückt ist, und weder Zeit noch Lust, noch Veranlassung haben, unsere kleinen persönlichen Unzulänglichkeiten einander vorzuhalten und gegenseitig zu bekritteln. Wir werden uns einander verstehen und, da wir immer nur das Gute wollen und, soweit in unseren Kräften steht, tun, würdigen und achten lernen. Wer weiß, wie lange Zeit uns dazu vergönnt ist; aber wäre es auch nur eine kürzeste Frist, und endete sie mit unserem Untergange – lebend oder sterbend werden wir diese Tage segnen, in denen wir eine höchste Pflicht gemeinsam erfüllt und unseren Bund geheiligt haben. Während die junge Frau so sprach, hatte er mit ungewissen Schritten das Gemach hin und wieder gemessen, kaum daß er einmal stehengeblieben war, einen Blick auf sie zu werfen. Aber die Begeisterung, die ihre schönen Züge immer mehr verklärte und immer glanzvoller aus ihren großen Augen leuchtete, hatte ihn nicht gerührt, nur erschreckt, gedemütigt, empört. Das erdrückende Gefühl seiner Inferiorität ihr gegenüber, die Wut einer gegenstandslosen Eifersucht, das nagende Bewußtsein, auf alle Fälle nicht geliebt zu sein; den Ärger, daß er mit den Opfern, die er ihrer Familie gebracht, dem pomphaften Aufwand, in welchen er sich gestürzt, um neben seiner schönen Frau doch auch zu einiger Geltung zu kommen, doch eigentlich nichts für sich erreicht – er hatte alles, was diese Wochen hindurch heimlich an ihm genagt und gefressen, endlich einmal in ein sie zerschmetterndes, vernichtendes Wort fassen wollen, und was war das Resultat? Daß sie sich auf einen womöglich noch stolzeren Thron setzte, von dem sie mit hochmütigen Augen auf ihn herabsah, der nicht wert war, ihr die Schuhriemen zu lösen; ihm eine lange, pomphafte Rede hielt, die ihm von Anfang bis zu Ende sentimentaler Nonsens schien! Zum Teufel! War er ein Schulbube, daß er sich hofmeistern lassen sollte von einer, die ohne ihn jetzt mit ihrer ganzen Bagage von Familie betteln gehen konnte? Er stampfte, stehenbleibend, krampfhaft leise mit dem Fuße auf und sagte in einem Tone, den er sich bemühte, möglichst gelassen und autoritativ zu halten:

Das ist dein Programm. Ich habe ein ganz anderes. Du wirst morgen deine Sachen packen und mit mir nach Warnesoe hinausfahren, wo wir bleiben werden, bis der Spektakel hier so oder so zu Ende ist.

Sie glaubte nicht richtig gehört zu haben und saß mit starren Augen da.

Du brauchst mich nicht so verwundert anzusehen, fuhr er in demselben gezwungenen Tone fort. Wenn ich auch, als einfacher Kaufmann, natürlich nicht so schöne Worte machen kann, wie gewisse Leute, sehe ich vielleicht um so klarer und weiß um so genauer, was ich will. Ich will aber nicht, daß du dich hier als Heroin von den Herren Offizieren, die nichts zu verlieren haben, und von den Herren Patrioten, die besser täten, vor ihrer eigenen Tür zu fegen, anfeiern läßt, damit ich hernach die Zeche bezahle. Sie hat mich schon gerade genug gekostet; ich habe nicht Luft, noch mehr an den Schwindel zu wenden. Ich wußte ja von vornherein, daß es ein Schwindel sei, und wir nach ein paar Wochen die Franzosen wieder in der Stadt haben würden. Mögen sie's unter sich ausmachen! Ich riskiere dabei allerdings noch ein schändliches Stück Geld, aber wer sich auf eine so alberne Spekulation einläßt, muß auch dafür büßen. Dich kümmert das natürlich nicht: für deine liebe Familie ist ja vorläufig gesorgt, und was dich betrifft: du bist die Uneigennützigkeit selbst; dir liegt an deinem Leben nichts – du wirst wohl am besten wissen, warum? Na kannst du dich bei mir bedanken, daß wenigstens ich in diesem Tollhaus so weit vernünftig geblieben bin und für dich ein übriges tun will, obgleich du es beim Himmel nicht um mich verdient hast. Noch einmal: morgen packst du deine Sachen; am Abend sind wir in Warnesoe. Mögen sie dann hier unter sich weiter die patriotischen Narren spielen.

Es war zu viel. Sie hatte auf einem Altar eine heilig reine Flamme entzünden wollen, und stinkender Rauch schlug ihr ins Gesicht; sie hatte, was ihr noch vom Herzen geblieben war, hingeben wollen mit gutem Willen in ehrlicher Überzeugung und sah, daß sie es in einen Sumpf geworfen. Das Bewußtsein des ungeheuren Elends ihres Lebens überkam sie mit fürchterlicher Gewalt. Zu sagen war hier nichts mehr. Selbst der Tränen, geweint in seiner Gegenwart, hätte sie sich schämen müssen. Der Tod kommt nicht, wenn man ihn ruft – kein Entrinnen aus diesem Abgrund – kein Ausweg – keiner!

Und sich vornüber neigend, drückte die Unglückliche die brennenden Augen und die schmerzenden Schläfen in ihre flachen Hände.

Das Spitzentuch, das ihr Busen und Schulter umhüllte, hatte sich verschoben; der entblößte Nacken erglänzte im Lichte der Kerzen; seine Augen blieben auf dem Glanze haften, und eine heiße Blutwelle schlug ihm in das schon halb berauschte Gehirn. Narr, der er war! Ob von Herzen oder nicht – sie war doch sein! Und wenn er sich durchaus mit ihr zanken wollte, welcher Dummkopf wählt sich dazu den späten Abend! Ah bah! schließlich war sie wie die andern!

Er stand hinter ihr, die ihn nicht hatte kommen hören. Jetzt bog er sich über sie und drückte einen gierigen Kuß auf den weißen Nacken. Im Nu war sie aufgesprungen, ihn anstarrend mit Augen, die versteinert schienen, wie das Gesicht, das eben noch von Purpur übergossen und jetzt bleich war wie einer Toten. Dann streckte sie, ohne die Augen von ihm zu wenden, langsam den Arm nach dem Leuchter auf dem Tische aus.

Wohin, Madame?

Zu Bett. Oder sollte dies nicht der Anfang einer ehelichen Szene im Schlafgemach sein als Pendant zu der, die im Salon gespielt hat?

Sie hatte den Leuchter ergriffen und schritt langsam an ihm vorüber aus dem Saale.

Sein heiseres Lachen schallte hinter ihr her. Brav so! brav so! nur die Komödie weitergespielt! Ja, wer daran glaubte! Herunter mit der scheinheiligen Maske! herunter mit dem Priesterinnenkleid! herunter bis auf den letzten Fetzen!

Er machte ein paar Schritte, die fast Sprünge waren, auf die Tür zu, durch die sie gegangen, und blieb wieder stehen.

War er nicht wirklich ein ausbündiger Narr! So viel Lamento – um was? Und schließlich nach allem Gejammer und Geheule ist es ein Triumph für sie, und sie bildet sich ein, daß man in Liebe und Haß nicht von ihr lassen kann!

Er stürzte auf den Vorflur, wo der Diener eben die letzten Lichter löschen wollte. Er hieß dem Mann, ihm Hut und Mantel zu bringen; er habe noch notwendig auszugehen.

Der Mann blickte den Herrn verwundert an, und dann lächelte er. Billow wußte nicht, ob er sich ärgern, oder ob er mitlachen solle.

Expediere dich! herrschte er ihn an.

Der Mann ging, kam zurück und hing ihm den Mantel um.

Wenn meine Frau klingelt und nach mir fragt, soll das Kammermädchen sagen: ich sei auf einer Konferenz im Rathause und würde heute nacht nicht mehr nach Hause kommen. Verstanden?

Ja, Herr Senator.

Weshalb lachst du?

Ich lache nicht, Herr Senator.

Du bist ein Narr. – Ja so!

Er faßte an die Brusttasche – all right!

Im nächsten Augenblicke stand er auf der Gasse. Vom Turme der Nikolaikirche trug der Nachtwind den Schall herüber.

Zwei Uhr! So spät schon! Nun, mir wird man wohl öffnen. Dreizehntes Kapitel.

Seit dieser Nacht hatte Minna ihren Gatten nur noch am Tage in flüchtigen Minuten gesehen. Wenn er die Nächte nicht außerhalb des Hauses zubrachte, was meistens der Fall war, schloß er sich in ein Gemach ein, das er während seines Junggesellentums als Schlafzimmer benutzt hatte. Am Tage hielten ihn vom Morgen bis zum Abend die beständig sich steigernden Pflichten seines Amtes gefesselt.

So sagte wenigstens der Vater, dessen sich Billow bediente, um Mitteilungen, Aufträge, die unvermeidlich waren, an seine Gattin gelangen zu lassen. Dergleichen gab es denn freilich immer noch manche und sogar sehr wichtige und für Minna beschwerliche. Heute die Order, sämtliches Silberzeug einzupacken und zur Abholung nach Warnesoe bereitzuhalten; dann kam die Reihe an das reichhaltige, zum Teil sehr kostbare Porzellan, dann an das in ehrwürdigen Schränken bergehoch aufgespeicherte Leinenzeug. Dem Leinenzeug würden selbst die Möbel gefolgt sein, nur daß Klaus Neddermeyer, der wiederholt persönlich die Abholungen geleitet hatte, erklärte, so umfangreiche Wagenparks, wie sie zu dem letzteren Zwecke nötig wären, um so weniger stellen zu können, als notorisch sei, daß neuerdings die Fuhrwerke vom Lande in der Stadt zu militärischen Zwecken festgehalten würden. Minna ließ das durch den Vater dem unfindbaren Gatten sagen. Warburg rieb sich hinter den Ohren und murmelte etwas von »seine Hände in Unschuld waschen«.

Er stand in dem zwischen seiner Tochter und ihrem Gatten so zweifellos ausgebrochenen Konflikte durchaus auf der Seite des letzteren, wenn er auch »ein zu liebevoller Vater war, das Herz der Tochter durch offene Vorwürfe zu betrüben«. Nur andeuten wolle er, wie erfahrungsmäßig die herbsten Konflikte der Gatten in die ersten Monate der Ehe fielen; schließlich in der Ehe doch einer in den anderen sich schicken müsse, sonderlich die Frau, als der schwächere Teil; in diesem Falle noch ganz besonders, als Minna bedenken müsse, daß sie, falls sie nicht einlenke, nicht bloß ihr Glück und ihre Zukunft, sondern auch die der Ihren aufs Spiel fetze. Seine, des Vaters Konditionen seien – allerdings wesentlich infolge von Villows merkantilischer Zaghaftigkeit und persönlicher Illiberalität – nach wie vor äußerst prekäre; und Oskars jetzt aus London eingetroffener ausführlicher Brief schildere die dort von ihm vorgefundenen Verhältnisse in keineswegs rosigen Farben. Und wenn der Spektakel – Warburg hatte sich diesen Ausdruck von seinem Schwiegersohne angeeignet – hier ein Ende nähme – was ja zweifellos binnen kurzem geschehen werde – so müsse man auch an Georgs Zukunft denken, die ohne Billows tatkräftige Beihilfe völlig aussichtslos sei.

Gib mir ein einziges gutes Wort an ihn mit! bat Warburg; ich bin überzeugt, er wartet nur darauf.

Ich kann dir das Wort nicht geben, erwiderte Minna; es käme mir nicht vom Herzen, und so würde es uns keinen Segen bringen. Überdies, was zwischen ihm und mir geschehen ist, das wird durch Worte nicht wieder gut gemacht, vielleicht durch Taten. Sag ihm das!

Das wird er nicht verstehen, sagte Warburg mit einem unsicheren Blick.

Um so schlimmer für ihn, erwiderte Minna.

Nein, sie wußte, er würde es nicht verstehen; aber das war es eben, was nach ihrer Überzeugung den Bruch heillos machte. Sie las jetzt in seinem Charakter wie in einem Buche, dessen unerfreuliche, ja abscheuliche Seiten der Kritiker nicht überschlagen darf. Und sie sah in ihm, trotz seiner äußerlich weltmännischen Manieren, einen Mann, ohne jeglichen Anteil an der wahren Bildung der Zeit; einen sinnlichen Menschen, den die Monotonie eines vom banausischen Standpunkte aufgefaßten Berufes, die laxen Sitten seiner Standesgenossen, der Überfluß der ihm zu Gebote stehenden Mittel in seinen schlimmen Neigungen bestärkt und verhärtet hatten. – Das alles war gewiß schlimm genug; aber er teilte diese Schwächen und Laster mit so vielen, die doch, wenigstens in der Stunde der Not, zeigten, daß sie ein Herz und das Herz auf dem rechten Flecke hatten. Er nicht. Er hatte kein Herz; er war ein Egoist bis in den Kern seines Wesens und ein Feigling dazu, der, wie er gegen seine bösen Triebe keine Widerstandskraft in sich fand, so vor jeder äußeren Gefahr zurückschreckte. Das konnte ihm Minna nicht vergeben; darüber kam sie nicht fort. Wie? in dieser Zeit, wo Greise selbst sich willig dem Dienste des Vaterlandes stellten; Knaben zornige Tränen weinten, daß keine Waffen für sie da waren; das letzte Weib aus dem Volke die rauhe Hand bot zu dem heiligen Werke, hatte dieser, den Geburt und Reichtum, Amt und Würde, Ehre und Pflicht in die vorderste Reihe wiesen, der sich seiner ungewöhnlichen Körperkraft so oft nicht ohne Grund gerühmt, keinen anderen Gedanken, als wie er sich und sein Hab und Gut salvieren möchte vor der hereindrohenden Gefahr! Er hatte Warburg eingeredet – und dieser redete es ihm gehorsam nach – daß er, dessen Großvater, der Gründer der Hamburger Filiale des Londoner Geschäfts, Zeit seines Lebens Engländer geblieben sei, dessen Vater erst sich dann habe naturalisieren lassen, selbstverständlich kein leidenschaftliches Interesse an der hamburgischen und der deutschen Sache überhaupt nehmen könne – eine Jämmerlichkeit, die selbst dem braven Neddermeyer, als sie ihm zu Ohren kam, ein »Pfui, mit Respekt zu sagen!« abnötigte. Georg aber, dem gegenüber der Vater den Schwiegersohn auf dieselbe Weise entschuldigen wollte, geriet in wütenden Zorn und rief: Er mag sich hüten, mir über den Weg zu laufen! Vater, Vater, daß wir dem Schufte unsere Minna geben konnten, das kann der allbarmherzige Gott im Himmel uns nicht verzeihen!

Für das Elend ihrer Ehe nahm Minna die Wonne, sich in Geist und Gemüt völlig wieder mit ihrem Bruder ausgesöhnt zu wissen, demütig als einen köstlichen Ersatz hin. Seitdem das Schwert aus der Scheide gefahren war, man sich täglich auf den Elbinseln, vor den Toren, auf weiteren Streifzügen mit dem Feinde schlug, hatte Georg den dumpfen Unmut seiner letzten Zeit von sich getan, glühte er von Kampfeslust. Selbst die Hoffnung eines glücklichen Ausgangs der hamburgischen Sache war ihm zeitweise zurückgekommen, und wenn ihm sein militärischer Scharfsinn das Trügerische solcher Illusion auch bald wieder erkennen ließ – nun denn, rief er, eine brave Tat bleibt unsere Erhebung doch, an der sich die Lauen und Halben im übrigen Deutschland ein Beispiel nehmen mögen. Darum aber müssen wir auch aushalten bis auf den letzten Schuß Pulver. Ein Hundsfott, der von Übergabe spricht!

So oft sich die Geschwister wiedersahen – und darüber war manchmal eine halbe Woche vergangen – sanken sie einander stumm in die Arme voll innigsten Dankes für ein Glück, auf das ein jedes bereits das letztemal im Moment des Abschieds verzichtet hatte. War doch die hanseatische Legion, die selbstverständlich immer im Vordertreffen stand, schon nach vierzehn Tagen zur Hälfte aufgerieben! mußte es doch als ein Wunder gelten, daß Georg bis heute mit ein paar Schrammen von den Säbeln französischer Chasseurs und einmal einer matten Kugel, die ihm den Arm auf einen halben Tag gelähmt hatte, davongekommen war! Nach einem stillschweigenden Übereinkommen zwischen den Geschwistern wurde in den wehmütig schönen kurzen Stunden ihres seltenen Beisammenseins von Minnas ehelichem Verhältnis nicht gesprochen. Georg mußte fürchten, der Schwester empfindlichen Stolz zu verletzen; Minna wiederum: mit jedem, auch dem scheinbar unbefangensten Worte die grimme Reue zu verschärfen, die an Georgs Herzen nagte und zehrte, daß er, indem er sich Billows wohlberechnete Hilfe schließlich gefallen ließ, die schmachvolle Kette, mit der die geliebte Schwester nun belastet war, hatte schmieden helfen. Dafür teilten sie sich denn getreulich mit, was jeder während der letzten Tage in seinem Wirkungskreise erlebt hatte; von wie vielem und merkwürdigem war da zu berichten! Auf Tettenborn war Georg nach wie vor übel zu sprechen; er wünschte ihn mitsamt seinen fünfzehnhundert Kosaken dahin, wo der Pfeffer wächst. Von einem Kampfe, wie er jetzt hier geführt werden müsse, wo es gelte, eine fast unbefestigte Stadt zu verteidigen, verstehe der Streifkorpsführer so gut wie nichts; und die Kosaken, tapfere Kerle, wie sie seien, könnten wenig nützen auf einem Terrain, wo man sich bald zu Lande, bald zu Wasser und meistens zu Lande und zu Wasser zugleich schlage. Hätten wir statt ihrer, rief Georg, nur ebenso viele wohlgeübte Scharfschützen und nur zweihundert junge Männer, die mit einer Kanone umzugehen wüßten, wir könnten Hamburg halten, ein paar Monate wenigstens, bis doch endlich einmal Hilfe von Deutschland kommen müßte; oder Deutschland ist bis dahin auch verloren, und dann mag Hamburg mit ihm zugrunde gehen! Aber, wie die Sache liegt, hilft aller Heldenmut der wackeren Jungen nichts, die keine Ahnung vom Kriege haben – und, lieber Gott, woher sollten sie auch! – beim besten Willen keine Disziplin halten können und im Grunde dem Feinde nichts entgegenstellen als ihre tapferen Leiber. Da müssen wir ja vor der Zeit unterliegen.

Dann erzählte er wohl von Taten kecksten Wagemutes, selbstlosester Hingabe, kaltblütigster Todesverachtung, die er mit eigenen Augen hatte beobachten können; aber wenn er auch nie verabsäumte, die Namen der Braven zu nennen, so war Minna nicht immer sicher, daß es die richtigen, und ob der Peter Lembke oder Paul Nielsen seiner Erzählung nicht in Wirklichkeit Georg Warburg geheißen hätten. Suchte sie doch auch in den Berichten, die sie Georg von dem gab, was sie selbst inzwischen erlebt, möglichst wenig von sich zu sprechen; stellte es als etwas Selbstverständliches hin, daß eine Frau, die, wie sie, für niemand sonst zu sorgen hatte, sich nun ganz der Sorge für die Witwen und Waisen der Gefallenen, der Pflege der Verwundeten, all jenen Liebesdiensten hingab, zu denen man in der eingeschlossenen, geängstigten Stadt auf Schritt und Tritt Gelegenheit und Nötigung fand. Da sei denn eine Karoline Perthes eine ganz andere Heldin, die sechs Kinder am Leben habe, einem siebenten demnächst das Leben geben solle, und in deren Hause vom Morgen bis zum Abend Leute ein und aus gingen, die, von der Wache kommend, auf Wache ziehend, selbst ohne Hausstand, zu essen und zu trinken begehrten und zu essen und zu trinken bekämen, während zur Nacht sich die Familienräume selbst zu Wachtstuben umwandelten, in welchen auf Strohsäcken ermüdete Obdachlose schliefen.

Und nun der herrliche Perthes, rief Minna, seinesgleichen findet sich nicht! Es ist keine Übertreibung, wenn ich dir sage, daß er seit einundzwanzig Tagen nicht aus den Kleidern und in kein Bett gekommen ist; unermüdlich auf den Füßen bei Beratungen, wo sie ohne ihn ratlos sind; auf den Sammelplätzen, die Leute zusammenzubringen, zusammenzuhalten; mitten in der Nacht zum Besuch auf entferntesten Posten außerhalb der Stadt, die man oft genug abzulösen vergißt, und wo den Verzweifelten sein plötzliches Erscheinen dann wieder eine Quelle ausharrenden Mutes wird. Wahrlich, wenn Hamburg jetzt oder jemals wieder frei wird und zu Glück, Wohlstand und Ansehen zurückgelangt, und die Bürger errichten ihm nicht ein ehrendes Denkmal – beim Himmel, sie würden damit beweisen, daß wahrer Gemeinsinn bei ihnen nicht zu Hause und die Dankbarkeit eine Fabel ist.

So bestärkten die Geschwister einander in der Begeisterung, die beide beseelte, und wenn dann nur zu früh die Trennungsstunde schlug, schlossen sie einander in die Arme, und jedes dachte und keines sagte: zum letztenmal!

Heute, sicher zum letztenmal! Georg war am Frühabend auf wenige Minuten dagewesen, gegen seine Gewohnheit einsilbig und beim Abschiede mehr als sonst erregt. Die Nacht war hereingebrochen – eine Schreckensnacht für die unglückliche Stadt. Unaufhörlich rollte und grollte der Donner der Kanonen, heulten und summten die Glocken von den Türmen, über die weg die Granaten ihre feurige Bahn durch das Dunkel des Himmels zogen.

Minna war von Georg auf das alles vorbereitet worden. Mit der Beschießung hat es keine Not, hatte er gesagt. Das bringt kaum Schaden, da ihre Batterien auf der Feddel in zu großer Entfernung sind; und soll auch nur schrecken. Die Entscheidung liegt ganz wo anders.

Minna wußte nicht, wo sie lag; wo sie aber auch lag, das wußte sie, da würde in dieser Nacht Georg sein.

Stunde um Stunde verging. Sie wich nicht von dem die Straße überragenden Balkon, des Momentes gewärtig, wo von den kleinen Trupps, die von der Seite des Brooktores her sich fast unaufhörlich folgten, einer sich nach ihrem Hause wenden und seine Last – einen Verwundeten oder Toten – über ihre Schwelle tragen würde. Dann löste sich von einem solchen Trupp, der sonst die Straße weiterzog, ein einzelner Mann ab und nannte, unter den Balkon tretend, fragend ihren Namen. Im Nu war sie die Treppe hinab bei dem Manne. Es war ein Krankenträger, der einen Auftrag von Georg brachte: die Schwester möge ihm ein Fläschchen schicken, das sie in seinem Koffer finden würde. Er wisse nicht, was der Herr Leutnant damit wolle; aber der Herr Leutnant sei sehr dringend gewesen, und so habe er ihm den Gefallen getan und wolle ihm das Fläschchen bringen, wenn die Frau Senator sich expediere. Viel Zeit habe er eben nicht.

Minna flog die Treppen wieder hinauf, suchte und fand in Georgs Köfferchen, wonach er verlangt hatte: ein silbernes Flakon von seiner, wohl russischer Arbeit, mit einer Kapsel, die sich abschrauben ließ: in dem silbernen Flakon ein kleineres aus geschliffenem Glase mit wohlschließendem Stöpsel; in dem kleineren Flakon, wie sie, als sie es gegen das Licht hielt, sah, eine dunkle Flüssigkeit, mit der es bis zu zwei Drittel angefüllt war. Das Glasflakon hatte nicht die Etikette zu haben brauchen, auf der ein Totenkopf zierlich gezeichnet war, darunter in kleiner, aber deutlich lesbarer Schrift: »Zehn Tropfen genügen!« – sie würde auch ohne das gewußt haben, um was es sich hier handelte. Sollte sie ihm das Gift schicken? Nur einen Augenblick schwankte sie: er, der dem Tode hundertmal in die Augen gesehen, hatte das Recht, über sein Leben zu entscheiden. Und wenn er nicht lebend in die Hände seiner Feinde fallen wollte, die ihn hinterher erschießen würden, nicht wie einen ehrlichen Soldaten, sondern wie einen gemeinen Verbrecher, so hatte er doppelt und dreifach das Recht. Aber »zehn Tropfen genügten!« Das Flakon mochte derer wohl hundert enthalten.

Im nächsten Moment hatte sie ein mit Weingeist gefülltes Flakon, das sie jetzt stets bei sich trug, seines Inhaltes entleert und mit der Hälfte der Flüssigkeit aus dem anderen angefüllt. Das versenkte sie in den Busen, während sie das Glasflakon in das silberne zurücktat und damit die Treppe hinablief, es dem in der Haustür bereits ungeduldig wartenden Boten auszuliefern.

Wenn ihr herrlicher Bruder sterben mußte, er sollte nicht in das Schattenreich gehen ohne sie, die er auf Erden zumeist geliebt.


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