Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Zweites Kapitel.

Unter dem Einflusse des von den Herrschaften mitgebrachten und über Tisch reichlich gespendeten Weines war der Wirt so redselig geworden, daß es die Herren nicht übel deuten konnten, wenn die Damen sich auf eine halbe Stunde zurückzuziehen wünschten. Auch war Johanna in der Tat der Ruhe bedürftig. Der Abschied heute morgen von dem Geliebten hatte ihre ohnehin nicht bedeutende physische Kraft um so heftiger erschüttert, als sie die äußerste Mühe aufgewandt hatte, ihren Jammer vor den Herren möglichst geheim zu halten; dazu die schwindelschnelle Fahrt auf dem schleudernden Schlitten über den glitzernden Schnee. – Ich glaube, ihr werdet uns vor zwei Stunden nicht wiedersehen, hatte Minna ihrem Vater zugeflüstert, als sie der Schwester folgte, welche die gutmütige Wirtin, sie kräftigen Armes umschlingend, in das für die Damen inzwischen bereitgestellte Zimmer führte.

So hatten die Herren den schicklichsten Vorwand, bei der Flasche sitzenzubleiben, zum größten Behagen Klaus Neddermeyers, der jedes Glas im stillen auf das Wohl der neuen schönen, jungen Herrin leerte, und des Wirtes, der einmal über das andere einen so guten Tropfen schon lange nicht getrunken zu haben versicherte.

Warburg und Billow sprachen dem Weine nicht weniger eifrig zu, beide in sehr verschiedener Stimmung. Warburg hatte mit schwerer Sorge gestern abend und heute das Betragen von Tochter und Schwiegersohn zueinander beobachtet und fragte sich: ob das nicht ein schlimmes Ende in voraussichtlich sehr naher Zeit nehmen werde? und was dann aus ihm, was aus der Zukunft seines Lieblingskindes werden solle? Billow knirschte innerlich vor Zorn über Minnas Kälte, bei der er es noch nicht weiter als bis zu ein paar Handküssen gebracht hatte. Vorhin hatte er sich gesagt, daß ihn: nichts willkommener sein könne, als ein Benehmen, das ihm den triftigsten Grund böte zur Lösung dieses unsinnigen, für ihn schmachvollen Verhältnisses; jetzt, nachdem er ein paar Flaschen getrunken, erschien ihm alles wieder in einem anderen Lichte. Vor seinen erhitzten Sinnen stand das schöne Mädchen da, reizender, begehrenswerter als je. Nicht einen Pfifferling fragte er nach ihrer Liebe, die sie doch dem französischen Halunken bewahrt hatte und bewahren werde – das hatte ja vorhin deutlich auf ihrem blassen Gesicht geschrieben gestanden – aber, ging es auf die Dauer nicht, so lange sollte und mußte es gehen, bis er sie besessen hatte. Aber wie dazu gelangen? Die Verlobung gestern beim Champagner mit dem langatmigen Segen des alten Sünders von Vater – pah! das war nur eine Farce gewesen – in ihren Augen sicherlich. Bevor der Pfaff nicht Amen gesagt, stand es schief um die Sache. Jeder Tag zwischen hier und der Hochzeit erhöhte die schlimme Chance, daß es überhaupt nicht zur Hochzeit kam. Wie ließ sich die Hochzeit beschleunigen?

Billow rieb sich die heiße Stirn. Die drei anderen Trinker waren in einen Streit geraten, in dem Warburg das große Wort führte. Er erhob sich geräuschlos, verließ das dumpfe Zimmer und trat in die trotz der draußen herrschenden Kälte offene Haustür.

Die Blendung vom Schnee, auf dem die helle Nachmittagssonne lag, tat seinen Augen weh, und schon wollte er mürrisch wieder ins Haus, als er seitwärts auf dem Hofe Minna erblickte. Sie stand, ihm den Rücken wendend, in der Nähe des zur Seite geschobenen Schlittens auf einer hart getretenen, mit verzerrten Strohhalmen überdeckten Stelle, aus einer irdenen Schale, die sie in der linken Hand hielt und aus der Küche mitgebracht haben mochte, Hühner und Tauben fütternd, die sich einander die Bissen streitig machten. Er erinnerte sich, daß er sie schon einmal ganz ähnlich so gesehen – auf dem Hofe ihres väterlichen Hauses an einem Sommermorgen vor Jahren, als sie kaum ein erwachsenes Mädchen und auch er noch so viel jünger war, – und daß er sie damals bereits gern gemocht. Er wußte nicht warum, aber er fühlte sich von dieser Erinnerung seltsam berührt, als ob mit ihr auch etwas von der Empfindung zurückgekommen sei, die der jenerzeit etwa Zwanzigjährige dem schönen Mädchen entgegengetragen, und die wohl sehr viel reiner und uneigennütziger gewesen war, als was er jetzt empfand oder noch eben empfunden hatte. Ohne sich zu besinnen, schritt er auf sie zu, die sich erst, als er bereits ganz in ihrer Nähe war, zu ihm wandte.

Ich habe Sie erschreckt? sagte er.

Sie sehen: nein.

Ihr Auge blickte ihn in der Tat so fest und ruhig an: so blickt keine Erschreckte, aber auch keine, die sich des unverhofften Kommens des anderen freut. Der Groll wollte wieder in ihm aufkochen, aber noch hielt die weichere Stimmung von eben vor.

Ich sehe Sie nicht zum ersten Male in solcher Beschäftigung, sagte er; und erzählte nun mit einer Bewegung, über die er sich selbst wunderte, wann und wo er sie so gesehen mit einigen Einzelheiten, die ihm erst jetzt wieder einfielen.

Welch gutes Gedächtnis Sie haben! sagte sie, als er geendet, mit einem Lächeln, das, wie er wohl bemerkte, keinen Beigeschmack von Spott hatte, und fuhr dann, indem sie ihre Kostgänger von neuem zu bedienen begann, fort: Es ist freilich eine alte Liebe von mir, die zu dem Federvölkchen, und ich habe mir eben gedacht, ich könnte auf Warnesoe ihr so recht nachgehen und in Herrn Neddermeyers Gerstenvorräten fürchterliche Verwüstungen anrichten.

Billow erschrak: in dem Ausdruck ihres Gesichtes, dem Ton ihrer Stimme wieder nicht die leiseste Spur von Spott. Ja, wie war er denn eigentlich mit ihr daran? Empfand sie wirklich etwas für ihn? Dann freilich durfte er auch anders für sie empfinden.

Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagte er stockend; ich – ich offengestanden, ich dachte eben, Sie wären mir bös.

Weshalb?

Ich hatte vorhin, als wir das Bulletin lasen, ein paar harte Worte gesagt gegen – Sie wissen, was, vielmehr, wen ich meine. Man soll einen Feind, wenn er am Boden liegt, nicht noch beschimpfen.

Gewiß soll man das nicht, erwiderte sie; aber in einem, glaube ich, irren Sie völlig.

Worin?

In der Annahme, daß die Franzosen nicht meine Feinde so gut seien, wie die Ihren oder jedes patriotisch denkenden Menschen. Wenn es eine Zeit gegeben hat, wo ich das nicht von mir sagen konnte, so ist diese Zeit dahin. Was ich will, das will ich nicht halb; was ich tue, tue ich ganz. Möchten alle Deutschen so denken, alle so zu handeln entschlossen sein! Ich glaube jetzt erst meinen Bruder Georg zu verstehen. Er sagt von Ihnen, daß Sie einer Gesinnung mit ihm sind. Ich sollte meinen, wir gehen Tagen entgegen, in denen Sie den Beweis dafür antreten können. Es fehlt an einem Kopfe, an einem Führer, sagte vorhin Herr Hansen. Georg, löwenherzig wie er ist, ist dazu zu jung. Ich habe gedacht, Sie könnten dieser Führer sein.

Ich? stammelte Billow, der nicht wußte, ob er sich über die seltsame Wendung, die das Gespräch genommen hatte, freuen solle oder nicht. – Ich? ich weiß nicht – das heißt, ich habe nichts dagegen – selbstverständlich; vorausgesetzt, daß ich Sie aufrichtig auf meiner, auf unserer Seite wüßte.

Was täte das zur Sache?

Viel, sehr viel – Sie glauben nicht wieviel – für mich.

Wirklich?

Sie stand sinnend. Eine Magd des Hauses kam, nach den Ställen gehend, dicht an ihnen vorüber. Minna reichte ihr die geleerte Schale, nahm ihr Taschentuch, an dem sie die Fingerspitzen säuberte, während sie langsam, als wäge sie jedes Wort ab, sagte:

Sie haben mich gestern gefragt, Billow, ob unsere Hochzeit bald sein solle. Ich habe Ihnen keine Antwort gegeben, mit der Sie zufrieden sein konnten: im Laufe des Jahres! Das ist nichts! Ich will es heute wieder gutmachen: unsere Hochzeit soll sein, sobald die Franzosen Hamburg geräumt haben.

Und wenn sie es nun nicht räumen! rief Billow, einen Verdacht, der ihn jäh gepackt hatte, unter lautem Auflachen mühsam verbergend, nicht heute und nicht morgen? es niemals wieder räumen? Was dann? Nein, schöne Minna, das ist kein ehrlicher Handel. Ich will Ihnen einen anderen, einen billigeren Vorschlag machen. Gut: sobald die Franzosen Hamburg räumen! Und wenn es in den nächsten acht Tagen ist. Kommt es anders, so warten wir drei Monate und keinen Tag länger. Ist Ihnen das recht?

Ja.

Geben Sie mir die Hand darauf!

Mein Wort genügt Ihnen nicht?

Ich habe Ihre Hand, seitdem wir verlobt sind, noch nicht so oft in der meinen gehabt, daß ich nicht jede Gelegenheit dazu wahrnehmen sollte.

Sie gab ihm die Hand. Die Hand war sehr kalt; dennoch durchzuckte es ihn wie ein elektrischer Schlag. Minna, stammelte er, Minna! Im nächsten Augenblicke hätte er sie umfaßt und ihren Mund mit wütenden Küssen bedeckt, aber ein lautes Hallo von der Haustür ließ ihn ein paar Schritte zurückprallen.

Es war Warburg, der auf der Schwelle stand und in dem Rausche, den er sich angetrunken hatte, schwerlich wußte, daß er und warum er mit solcher Furie Hallo geschrien.

Dir zahl' ich das heim, dachte Billow, während er sich zugleich sagte, daß er sich mit einer Umarmung auf dem offenen Hofe bei seiner stolzen Braut gerade nicht empfohlen haben würde.


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