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So waren die trüben Ahnungen und Voraussagungen Minnas zur furchtbarsten Wahrheit geworden. Wies der Zeiger des Zifferblattes der Weltgeschichte für Napoleon auf tiefen Niedergang, so schien die Uhr des Warburgschen Hauses vollends abgelaufen. Der einst so zuversichtliche, selbstzufriedene Vater schlich gedrückt und kummervoll einher, kaum daß er die scheuen Blicke aufzuschlagen wagte; Johannas Augen, die sonst von Lebenslust glänzten, waren jetzt oft von Tränen gerötet, die sie heimlich geweint hatte, wenn sie auch immer noch in Gegenwart der anderen die alte Heiterkeit zur Schau zu tragen versuchte; und nur Minna erschien völlig gefaßt und entschlossen, dem Unglück, das über sie wahrlich nicht zum mindesten schwer hereingebrochen war, die Stirn zu bieten.
Für sie hatte jene Nacht in der Tat eine Krisis gebracht, aber in einem ganz anderen Sinne, als die jüngere Schwester gemeint. Für sie hatte es sich nicht um eine Erleichterung gehandelt, wie sie ein reichlicher Tränenerguß und leidenschaftliche Aussprache dem gepreßten Mädchenherzen gewähren. Für sie war es ein Verzweiflungskampf gewesen, und die Schwester hatte ihr nur als Zeugin und Eideshelferin dienen sollen, daß sie den Schwur halten wolle und halten werde, den sie dem zuckenden Herzen in diesem Kampfe abgerungen.
Und indem sie so für ihr Sehnen und Denken nach dieser Seite zu einem endgültigen Abschlusse gekommen, hatte sie die Empfindung jemandes, der eine schwere Arbeit, welche Geist und Gemüt völlig in Anspruch nahm, vollendet und nun mit noch halb verschleierten Sinnen in die Welt schaut, die ihm solange hinter seinem Werke versunken gewesen war. Aber diese Empfindung war für sie nichts weniger als erfreulich. Mit Beschämung wurde sie gewahr, wie sie den Vorkommenheiten in der Familie, den Ereignissen draußen nur eine halbe Aufmerksamkeit ungern gewidmet hatte; daß sie den Ihren, den Freunden nicht das gewesen war, was sie ihnen hätte sein können und also sein müssen. Wie schlecht hatte sie den Schwur gehalten, den sie sich am Totenbette der Mutter vor sechs Jahren geschworen: der jüngeren Schwester die Dahingeschiedene, soweit in ihren Kräften stand, zu ersetzen! Hatte sie ein Auge, ein Verständnis dafür gehabt, daß, während sie selbst nur ihrer Liebe lebte, das wilde junge Ding zur stattlichen Jungfrau herangereift war und bereits ihrerseits den Roman ihrer Liebe durch mehr als ein Kapitel fortgesponnen hatte: einer ernsthaften, das ganze Herz erfüllenden, sich ihres Zieles wohl bewußten Liebe, die noch dazu in diesem Augenblicke vor einer entscheidenden Katastrophe stand? Oskar konnte dem Drängen seiner Eltern nicht länger ausweichen; er mußte nach Stockholm zurück. Er hatte Johanna gesagt und wiederholte es jetzt Minna, daß die Eltern bereits seit Jahren eine Verbindung mit einer Anverwandten, einem schönen und reichen Mädchen, geplant hätten, und er nicht zweifeln könne, sie würden jetzt alles daran setzen, ihn zu dieser Verbindung, endgültig zu bestimmen. Es werde einen schweren, sehr schweren Kampf kosten, die Eltern zum Aufgeben eines so lange gehegten Herzenswunsches zu vermögen. Dennoch hoffe er zuversichtlich, als Sieger aus diesem Kampfe hervorzugehen, den Eltern schließlich auch die Einwilligung zum Bunde mit Johanna abzubetteln und abzutrotzen. Aber freilich – von den äußeren Verhältnissen einmal ganz abgesehen – würde dann nicht die erste Frage der Eltern sein, ob er sich nicht nur der Liebe der Geliebten, sondern auch der Einwilligung ihres Vaters versichert halten dürfe? und was solle er auf den letzteren Teil der Frage antworten?
Hier ließ selbst die mutige Johanna das Köpfchen hängen. Sie wußte am besten, wie unendlich schwer es dem Vater fallen würde, sie wegzugeben. Kannte sie doch nur zu wohl seinen Egoismus! und hatte er ihr doch in seiner Weise, die sich unbedenklich in Empfindungen und Worten übernahm, mehr als einmal versichert, daß ihm der Gedanke, sie von sich zu lassen – einem Manne zu überlassen, der prätendiere, sie mehr zu lieben, als er sie – abscheulich, entsetzlich, unerträglich sei! Und er sollte sich zu einem Heroismus, der seiner Natur so fern lag, aufraffen in einem Augenblicke, wo das Leben ihn, den Verwöhnten, finster und drohend von allen Seiten anstarrte? der einzige Lichtschein, der in die Nacht seiner Verzweiflung fiel, von dem Antlitze seines geliebten Kindes ausging?
Minna teilte diese Bedenken, die der Zartsinn der Schwester kaum anzudeuten wagte, in vollem Maße; sie hatte auch noch andere, die wiederum sie nicht zur Sprache bringen mochte. Oskars Vater war ein wohlhabender, aber keineswegs reicher, schon älterer Herr, der bereits mehrere Töchter an vermögenslose Männer verheiratet und zwei Söhnen ein selbständiges Geschäft eingerichtet hatte. So mußte man in dem Sandströmschen Hause mit den Mitteln vorsichtig umgehen. Das einzige aber, was ihren Vater mit dem Gedanken hätte aussöhnen können, sich von seinem Liebling trennen zu sollen, wäre die Gewißheit gewesen, ihr dadurch ein Leben voll Herrlichkeit und Freude nach seinem Geschmack zu verschaffen, wie es einzig ein großer Reichtum gewähren konnte. Und nun hatte sich Oskar, indem er weiter zur Familie hielt, auch noch das Wohlwollen Billows verscherzt und damit die Aussicht auf eine kaufmännische Stellung, welche in dieser schlimmen Zeit als eine auskömmliche angesehen werden mußte und sicherlich von dem alten Kaufherrn in Stockholm so angesehen wäre. Wie dem auch sein mochte, Oskar durfte mit diesen ungelösten Zweifeln hinter sich nicht reisen; eine Entscheidung mußte stattfinden, und Minna übernahm es, sie herbeizuführen. – Wenn Johanna zum Vater geht, sagte sie, so gibt das nur eine leidenschaftliche Szene ohne Resultat; mit mir wird der Vater Vernunft sprechen; auf jeden Fall werden wir wissen, woran wir sind. – Johanna fiel der Schwester um den Hals, Oskar küßte ihr beide Hände. Minna wehrte ab, lächelnd über den Egoismus der Liebenden, der sich in dieser stürmischen Dankbarkeit so naiv kundgab. Oder hatten die Glücklichen wirklich keine Ahnung davon, daß, wenn sie ihre Sache zu einem guten Ende führen wollte, sie auch bereit sein mußte, den Preis dafür zu zahlen?
Es war ein trüber Dezembernachmittag, als Minna sich zu dem Vater in das Kontor begab, das sie seit jenem Morgen, als er ihr die Eröffnung über seine verzweifelte finanzielle Lage machte, nicht wieder betreten hatte. Damals war es gewiß schon eine schlimme Zeit für das Warburgsche Haus gewesen, aber wieviel schlimmer war es seitdem geworden! Von den Hinterzimmern nach vorn gehend, war sie auf dem Flur einigen von den französischen Beamten begegnet, die jetzt in dem Hause aus und ein schwärmten. Die Menschen hatten ihr frech in das Gesicht gestarrt; einer sogar hinter ihrem Rücken eine häßliche Bemerkung gemacht, welche von den anderen mit einem rohen Gelächter erwidert wurde. Sie war sich in dem Hause, das bereits dem Vater des Vaters gehört, wie ein eben nur noch geduldeter Fremdling vorgekommen, und fremd und unheimlich mutete sie jetzt auch das Kontor des Vaters an. Der sonst so behagliche Raum, aus welchem Teppiche und Gardinen, außer dem Arbeitstische und zwei Stühlen auch sämtliche Möbel verschwunden waren, bot ein melancholisches Bild der Verödung und Verwahrlosung. Die paar kümmerlichen Kohlen, die im Kamin glimmten, schienen andeuten zu wollen, daß demnächst auch der letzte Funke des früheren Glückes hier verlöschen werde.
Was Minna aber tiefer als das alles ins Herz schnitt, war der Anblick des Vaters selbst. Das war der stattliche Herr nicht mehr, der mit seinen fünfzig Jahren in Haltung und Miene noch immer das Wesen eines Jünglings halb affektiert und halb in Wirklichkeit bewahrt hatte; das war ein alter Mann mit schlaffen Zügen und müden Augen, die sich jetzt mit einiger Unruhe nach der Eintretenden wandten.
Es ist heute erst Freitag, soviel ich weiß, sagte er.
Ich komme nicht um das Wirtschaftsgeld, erwiderte Minna.
Darf ich dann fragen, was dich zu mir führt?
Er hatte sich mit der Höflichkeit, die er auch gegen die Töchter nie außer Augen setzte, erhoben und ihr den anderen Sessel zurechtgerückt.
Es ist mir sehr lieb, daß du wenigstens nicht um Geld kommst, fuhr er fort, ich könnte dir heute nicht einen Schilling geben.
Ich weiß nicht, erwiderte Minna, ob das, was ich von dir zu erbitten gekommen bin, dir zu geben nicht noch schwerer fallen wird.
Dann würde ich es in deiner Stelle nicht erbitten.
Ich würde es sicher nicht, wäre es für mich.
Warburg rückte unruhig in seinem Sessel hin und her.
Möchtest du zur Sache kommen, sagte er. Ich gestehe, die letzten Wochen haben mich ein wenig nervös gemacht.
Minna hatte keine Zeit gehabt zu überlegen, wie sie die schwierige Sache vorbringen sollte; sie fühlte, während sie sprach, daß ihr das jetzt zugute kam. Sie hätte am Ende doch wohl diese oder jene Phrase gemacht; advokatorisch, je nach Befinden, diese Seite in ein besseres Licht gestellt, auf jener wenigstens die Schatten abgemildert. Von solchen Künsten mußte jetzt ihre Rede freibleiben. Und zuletzt war es keine Heuchelei, sondern der Ausdruck einer ehrlichen Überzeugung, wenn sie den Vorzug, den der Vater Johanna von je hatte zuteil werden lassen, als vollkommen berechtigt hinstellte und die Größe des Opfers, das ihm zugemutet wurde, in treuherziger, sympathischer Weise anerkannte.
Der Vater hatte, während sie sprach, mit verschränkten Armen vor sich niederblickend, dagesessen, ohne sie nur einmal zu unterbrechen, ja ohne sich zu regen, in der Haltung jemandes, der gleich nach den ersten Worten des anderen seinen Entschluß in der betreffenden Sache gefaßt hat und jenen nur aus Höflichkeit bis zu Ende reden läßt. Wie der Entschluß lauten würde, darüber glaubte Minna nicht im Zweifel sein zu dürfen, und so hatte sie denn weiter und bis zu Ende geredet, wie ein tapferer Soldat weiter kämpft, auch wenn er sieht, daß seine Sache hoffnungslos ist.
Um so mehr erschrak sie jetzt, als der Vater, nachdem sie gesprochen, die Augen aufschlagend und die Arme schlaff herabsinken lassend, dumpfen Tones sagte:
Wenn also Johanna wirklich entschlossen ist, und du zustimmst und deine Einwilligung gibst, so habe ich selbstverständlich nicht das Recht, nein zu sagen.
Du – nicht das Recht? murmelte Minna.
Allerdings, erwiderte Warburg. Ein Recht, in das Schicksal seiner Kinder einzugreifen, hat nach meiner Auffassung ein Vater nur, wenn er und solange er die Kraft und die Macht hat, diejenige Wendung ihres Lebensweges, welche er bevorzugt, zu einer für sie günstigen und erfreulichen zu machen. Meine Kinder sind vor mir sicher; ich kann sie so wenig in ihrem Glücke fördern, als, wenn sie im Unglücke sind, daraus reißen. Sieh hier diesen Brief – von Georg! – Bitte, zu lesen!
Was er jetzt da vom Tische nahm und ihr mit zitternder Hand reichte, war ein schmaler Streifen Papier, der wohl in einem eigentlichen Brief eingeschlossen gewesen sein mochte, auf beiden Seiten so eng beschrieben, daß Minna bei dem spärlichen Licht im Zimmer Mühe hatte, die Bleistiftzüge zu entziffern.
»Ich bin hier in Petersburg seit vorgestern gesund und frisch wie nur je, aber ohne alle Mittel, lebend von den Almosen, die mir die H.schen Freunde, welche mich hierher spediert haben, weiter gewähren, trotzdem sie in Erfahrung gebracht haben wollen, daß Herr H. um meinetwillen gefangen sitzt. Ich bitte Dich, reiße mich aus dieser qualvollen Lage und schicke mir umgehend, was ich zur Heimfahrt brauche, die ich natürlich nicht bis unmittelbar zu Euch fortsetzen kann. Sprich doch mit B., ob er mich auf seinem holsteinschen Gute aufnehmen will; ich wäre da sicher vor der französischen Polizei und doch in Eurer Nähe, sobald die Stunde schlägt. Sie wird aber bald schlagen. Deshalb, lieber Vater, beeile Dich mit der Sendung! Ich wäre untröstlich, müßte ich die Stunde versäumen, die ich seit Jahren herbeigebetet und -geflucht habe.«
Warburg hatte, während Minna las, eine Kerze entzündet, in deren Flamme er das Blatt hielt, das sie ihm zurückgegeben.
Ich möchte nicht Herrn Perthes ins Unglück bringen, wie ich Herrn Hirsch ins Unglück gebracht habe, sagte er. Ich erhielt dies durch seine Güte; der Mann hat seine Verbindungen überall. Er war auch, da er meine Lage so ziemlich kennt, großmütig genug, mir Geld anzubieten, damit ich Georg kommen lassen könne. Er behauptete, es sei ebenso seine Pflicht, das Geld zu geben, wie die meine, es zu nehmen, da es sich darum handle, der guten Sache ein mutiges Herz und zwei starke Arme, die sie bald genug brauchen würde, mehr zu schaffen. Ich konnte mich nicht entschließen; es ist so furchtbar, keinem Menschen ins Gesicht sehen zu können, ohne sich dabei sagen zu müssen, daß man sein Schuldner ist.
Aber das Geld für Georg muß geschafft werden, sagte Minna eifrig. Wie wir ihn kennen, wird er eher alles erdulden, als die Schmach, ein Gnadenbrot zu essen, das ihm ungern gereicht wird.
Ich bin bei Gott nicht schuldig an Herrn Hirschs Unglück, murmelte Warburg. Ich habe seinen Namen nicht genannt, wie sie mir jetzt nachsagen – schändlicherweise – ich habe ihn nicht ans Messer geliefert, den alten Mann; ich habe es bei Gott nicht getan.
Warum beteuerst du mir das, Vater, sagte Minna, als ob es dessen bei mir bedürfte? Ich bin überzeugt, daß von allem Unglück, das dich betroffen, dir keines so schmerzlich ist, als die unschuldige Veranlassung zu Herrn Hirschs Unglück gegeben zu haben.
Das lohne dir Gott, mein Kind! rief der Vater, ihr die Hand entgegenstreckend.
Es war ein wenig übertrieben herausgekommen, und auch die begleitende Geste hatte etwas Theatralisches. Aber was die strenge Ehrlichkeit des jungen Mädchens so oft beleidigt hatte, rührte sie heute. Da hinten in dem engen, dämmrigen Zimmer bangten zwei junge, klopfende Herzen der Entscheidung entgegen, die sie ihnen erkämpfen sollte; und hier hatte sie anstatt des gestrengen Vaters und Herrn einen gebrochenen Mann gefunden, dem für ein teilnehmendes Wort, das man ihm spendete, dankbare Tränen in die Augen traten. Ihr Zartgefühl sagte ihr, daß sie dem Vater die Beschämung über die an den Tag gelegte Schwäche möglichst abmildern müsse, und so tat sie, was sie seit Jahren nicht getan: sie nahm die dargebotene Hand und führte sie an die Lippen.
Eine Zeitlang schwiegen beide. Um so lauter und mißtönender war das Geräusch, das von oben herabkam, wo man, in schweren Stiefeln umherlaufend, Tische und Stühle polternd durcheinanderschob; und der Lärm vom Hausflur, wo ein paar Leute in Streit geraten schienen, den sie in überlautem Tone führten. Minna stand auf, riegelte die Tür ab und kam langsam zu ihrem Sitze zurück.
Vater, begann sie von neuem, du deutetest neulich an, es wäre nicht unmöglich, Herrn Hirsch aus dem Gefängnisse zu befreien, wenn man nur eine gewisse bedeutende Summe aufzubringen vermöchte?
Mit Geld ist bei diesen Menschen alles erreichbar, murmelte Warburg.
Weiß es die Hirschsche Familie? Aber wie sollte sie nicht! So kann sie das Opfer bringen?
Sie kann es nicht bringen! Hirsch hat mir sein letztes bares Geld gegeben. Neues aufzutreiben ist ihnen bis jetzt unmöglich gewesen, auch bei den Glaubensgenossen. Es denkt jetzt eben jeder nur an sich.
Es ist eine Ehrenschuld, die auf dir lastet, Vater, und von der du dich lösen mußt, bevor du ruhig wieder schlafen kannst. Das ist das eine. Das andere: wir dürfen Georg nicht in der Fremde verkommen lassen.
Mein Gott, rief Warburg heftig, was sagst du mir das alles? Als ob es mir nicht schon schwer genug auf der Seele lastete!
Du sagtest mir auch, fuhr das junge Mädchen in demselben leisen, festen Tone fort – du wirst dich erinnern: es war an dem Morgen des Tages, als du mich hierher in das Kontor rufen ließest – es gebe nur einen in Hamburg, der dir helfen könne. Und, füge ich jetzt hinzu, der auch in der Lage wäre, Oskar eine baldige Verbindung mit Johanna zu ermöglichen.
Es gibt auch diesen einen nicht mehr, murmelte Warburg. Das weißt du doch so gut wie ich.
Bist du sicher, daß er helfen könnte?
Gerade so sicher, wie, daß er jetzt nicht mehr wird helfen wollen.
Auch nicht, wenn du ihn bätest, wieder in unser Haus zu kommen?
Warburg antwortete nicht sogleich. Mein Gott, die Frage konnte ja nur eine Bedeutung haben! Aber war denn das möglich? Das wäre sie imstande zu tun? – Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen; es gelang ihm nicht bei der tiefen Dämmerung, die jetzt, nachdem er vorhin die angezündete Kerze wieder ausgelöscht hatte, in dem Gemache herrschte.
Ich glaube auch dann nicht, murmelte er endlich, Wohl wissend, daß er log, und daß Billow auf den ersten Ruf zurückkehren würde. Aber wie sich dies, was wie ein Hoffnungs- und Rettungsstern in seiner Nacht der Verzweiflung aufging, weiter, Licht und Leben spendend, entwickeln mochte – er durfte es nicht heraufgerufen haben; er mußte sagen dürfen: ich habe es nicht gewollt, du weißt es!
So werde ich selbst ihn bitten, sagte Minna.
Warburg fühlte den Drang, sich dem großmütigen Mädchen zu Füßen zu stürzen; aber das durfte er ja wiederum nicht. Er mußte vielmehr im Tone des warnenden Vaters sagen:
Versprichst du nicht zu viel, mein Kind? Du weißt, ihr seid nicht freundschaftlich voneinander geschieden. Es wird ohne alle Konzessionen deinerseits nicht abgehen.
Der Vater sah das bittere Lächeln nicht, das bei seinen letzten Worten um Minnas Mund zuckte.
Nun gut, sagte sie, ich werde also an ihn schreiben. Eine schickliche Gelegenheit bietet sich überdies. Er hat die Weihnachtsabende der letzten Jahre immer bei uns zugebracht. Ich werde ihn bitten, auch diesmal von der alten Gewohnheit nicht abzuweichen. Kommt er früher, kommt er, wie ich hoffe, umgehend, seinen Dank abzustatten, desto besser. Und nun, Vater, möchtest du dich der beiden erinnern, die voll Angst deiner Entscheidung entgegenharren? Es ist doch wünschenswert, daß Oskar es aus deinem Munde hört.
Freilich! freilich! murmelte Warburg.
Minna hatte sich erhoben; der Vater folgte nicht alsbald. Sie sah den Blick nicht und hätte, auch wenn sie ihn bemerkt, den diebesscheuen Ausdruck nicht verstanden, mit dem er über ein gewisses Schubfach des Pultes gestreift war. Er aber sah in seines Geistes Auge das Schubfach offen und die Briefe in ihrer Hand, wie sie dieselben hastig entfaltete, den Inhalt gierig verschlang; zu ihm aufblickte, ihm die Blätter vor die Füße schleuderte: Dieb, Verräter an dem, was dem letzten der Barbaren heilig ist: an dem Herzen, an der Ehre deines Kindes!
Hast du noch Bedenken? fragte Minna verwundert, daß der Vater sitzenblieb. Dann sag es jetzt; es ist besser, daß es unter uns besprochen wird, als vor den beiden.
Nein, nein, ich habe nichts mehr, nichts mehr, murmelte Warburg, sich schwerfällig aus seinem Stuhle erhebend. Bedenken? Man darf nicht bedenklich sein in dieser schlimmen Zeit.