Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Dreizehntes Kapitel.

Eine halbe Stunde später hatte man sich in dem kleineren Parterrespeisezimmer des Schlosses zu einem Mahle versammelt, an dem auch Klaus Neddermeyer und seine Gattin teilnahmen – eine brave, einfache Frau, die dem inneren Hauswesen Vorstand, wie er selbst die bedeutende Außenwirtschaft selbständig führte. Minna hatte ausdrücklich um die Gegenwart der beiden gebeten. Ihrem Gemüt war es ein Bedürfnis, dem Manne für die unsäglichen Mühen, die er sich an diesem Tage um der Fremden willen unterzogen, eine Anerkennung zu verschaffen, und im stillen hatte sie gemeint, das Peinliche einer Wiederbegegnung mit Billow nach so langer Zeit werde sich weniger fühlbar machen, wenn man zu Anfang nicht völlig »unter sich« sei. Selbst dem ersten Beisammensein mit Georg mochte die Anwesenheit dritter Personen frommen. Der Vater und er hatten sich im Frühjahr in schwerem Zerwürfnis getrennt, und als er von ihr Abschied nahm, hatten seine bebenden Lippen etwas gemurmelt, das mehr wie ein Fluch als wie ein Segen klang. Nun hatten sich inzwischen die Verhältnisse so ganz anders gestaltet – gegen alle Erwartung und menschliche Voraussicht. Aber über die Wandlungen, die mit ihr selbst vorgegangen waren, konnte Georg nicht unterrichtet sein. Er konnte in ihr nichts anderes als die Braut des Mannes sehen, den er mit dem doppelten Ingrimm des eifersüchtigen Bruders und des beleidigten Patrioten als seinen Todfeind haßte. Sie würde ihn darüber aufklären, aber im Augenblick mochte das nicht Wohl geschehen; so mußte man dafür sorgen, daß mindestens die ersten Stunden leidlich vorübergingen. Es ließ sich wohl auch ein und das andere Wort anbringen, das Georg über den gegenwärtigen Stand der Dinge einigermaßen aufklärte.

Minnas Voraussicht erwies sich als vollkommen richtig. Die Harmlosigkeit und Heiterkeit auf den breiten, zufriedenen Gesichtern des Neddermeyerschen Ehepaares schienen sich wie durch Magie allen Tischgenossen mitzuteilen; jeder suchte, was er vorbrachte, auf den Ton zu stimmen, in welchem der Inspektor eine Relation der heutigen Fahrt mit allen nun glücklich überstandenen Nöten, Ängsten und Schrecken gegeben hatte. Billow erzählte, wie man durch die Vorräte in der Waffenkammer des alten Grafenschlosses auf die Idee des Überfalls im Walde gekommen war; Frau Neddermeyer hatte ihre Not gehabt, den lachenden Gesichtern der jungen Knechte mit Kleister die grimmigen Barte aufzukleben. Dann mußte Oskar von Stockholm und seiner Fahrt hierher erzählen, auf der er ebenfalls zu Wasser und zu Lande so manches Abenteuer erlebt hatte, oder – man konnte das bei ihm niemals so recht wissen – erlebt zu haben vorgab. Und selbst als man dann allseitig in Georg drang, von seinen zweifellosen Abenteuern in Rußland zu berichten, tat er das in einer Weise, die von den Bitternissen, welche die Wirklichkeit für ihn gehabt haben mußte, kaum das geringste merken ließ. Den unendlichen Marsch mit seinen Mühsalen, das Lager- und Biwakleben mit seinen Entbehrungen, den Graus der Gefechte und Schlachten, die Gefahren seiner Flucht streifte er nur obenhin, um desto ausführlicher seinen Aufenthalt in Twer zu schildern: die Verwunderlichkeit russisch-jüdischen patriarchalischen Treibens, die sonderbaren Trachten der Männer, die Schönheit der Weiber, die Seltsamkeit der Sitten und Gebräuche, den Scharfsinn und die spruchreiche Weisheit des Arztes, der ihn behandelt hatte und der in seiner Schilderung zu dem gütigsten aller Zauberer wurde. Nun gar in der Beschreibung seiner Fahrt von Twer nach Petersburg inmitten einer kleinen jüdischen Karawane, der er sich in Lebensweise, ja selbst in der Kleidung hatte gleichmachen müssen, schwang er sich zu einem so phantastisch-tollen Märchen auf, daß der gute Neddermeyer sich fast totlachen wollte und auch die anderen in die behaglichste Stimmung kamen.

Billow hatte zu der Unterhaltung am wenigsten beigesteuert, als ein kluger Wirt, der seine Gäste in gutem Zuge sieht und es für das beste hält, sie sich selbst zu überlassen. Daß es nicht Mangel an Teilnahme war, was ihn schweigsamer als sonst wohl machte, bewies die aufmerksame Miene, mit der er den verschiedenen Erzählungen folgte, und das Lächeln, das er für jeden Scherz hatte, während er dabei stets ein Auge auf die Diener gerichtet hielt, deren Eifer allerdings größer war als ihre Geschicklichkeit.

Ich will nur gestehen, sagte er zu Minna, seiner Nachbarin; vielmehr, ich muß schon gestehen, denn Sie haben es sicher auf den ersten Blick herausgehabt: es sind keine wirklichen Diener, sondern der Gärtner und sein Sohn, die ich für heute abend in Livree gesteckt habe. Sie sind eben in dem Hause eines Junggesellen. Da muß man denn manchmal ein Auge zudrücken oder auch beide.

Ich finde im Gegenteil alles ganz vortrefflich, erwiderte Minna; und jedenfalls weit, aber viel zu weit über die Ansprüche, die wir machen dürfen.

Ansprüche, die Sie nicht machen dürften, Fräulein Minna!

Es war das erstemal im Verlaufe des Abends, daß er ihr gegenüber einen wärmeren Ton als den gewöhnlicher Höflichkeit anschlug. Auch schien er selbst über seine Kühnheit erschrocken, denn er benutzte sofort eine in der Unterhaltung der anderen zufällig eingetretene Pause, um die Tafel aufzuheben und die Gesellschaft zu bitten, ihm in das Gemach nebenan zu folgen.

Die beiden Diener beeilten sich, die Flügeltür zu öffnen, und die Gesellschaft trat in einen Saal, der für den Moment kein anderes Licht empfing, als welches von unzähligen flammenden Kerzchen auf einem in der Mitte ragenden prächtigen Tannenbaum ausging. Über der Drangsal der Fahrt, in der Verwirrung des Ankommens hatten die Reisenden fast vergessen, daß heute der »Heilige Abend« sei, oder, wenn sie flüchtig daran dachten, gemeint, er werde jedenfalls ohne besondere Feier vorübergehen. Um so aufrichtiger und herzlicher waren nun ihre Überraschung, ihre Freude. Minna aber fühlte sich Billow noch zu ganz besonderem Danke verpflichtet, als sie, zögernd an den Gabentisch herantretend, fand, daß die Geschenke, womit er seine Gäste bedacht hatte, aus völlig anspruchslosen Kleinigkeiten bestanden: für sie ein Bund Schwanenfedern, mit denen sie zu schreiben liebte; für den Vater ein schönes Taschenmesser anstatt eines, das er kürzlich verloren hatte; für Johanna sogar nur ein großes Honigkuchenherz. Desto reichlicher waren denn Herr und Frau Neddermeyer bedacht, und ebenso die kleinen Neddermeyers, die jetzt, sechs an der Zahl, von der beglückten Mutter aus dem Nebengemache herbeigeholt wurden.

Ein heiliger Abend ohne Kinder geht doch nicht, sagte Billow, wie zur Entschuldigung des Lärms, den die Kinder alsbald mit Trompeten, Mundharmonikas, ja einer Klapper für das noch auf den Armen der Magd getragene Jüngste erhoben hatten.

Es war kein besonders geistreiches Wort, aber Minna meinte, daß es ein gutes Wort sei, welches dem, der es gesagt, zur Ehre gereiche.

Sie hatte das flüsternd zu Johanna geäußert, die ihr ebenso erwiderte: Du solltest das nicht mir, sondern ihm selbst sagen. Ich glaube, daß es der beste Dank wäre, den er sich wünscht, und den er, dächte ich, für all seine Mühe wohl verdient hat. Mein Gott, ein paar freundliche Worte sind doch noch keine Liebeserklärung!

Johanna hatte, während sie das sagte, mit dem prächtigen Diamantkreuze gespielt, das ihr die Schwiegereltern aus Stockholm zum ersten Angebinde gesandt hatten. Nun lachte sie ihr bedeutungsvoll in die Augen und sprang davon, ihren Oskar zum hundertsten Male zu umarmen; Minna blickte ihr traurig nach. Also auch sie! Daß der Bruder es gern sehen würde, warum nicht? Er war immer der Freund des Mannes gewesen, mit dem er jetzt Arm in Arm eifrig sprechend durch den Saal schlenderte, und ihm neuerdings zu schwerer Dankesschuld verpflichtet. Die bezahlt sich ja so bequem mit dem Glücke der Schwester! Wie sehnsüchtig der Vater den Moment herbeiwünschte – ihr waren die ängstlichen Blicke nicht entgangen, mit denen er sie im Laufe des Abends nur zu oft beobachtet hatte, wie ein Schatzgräber die Stelle, aus der ihm nun bald das rote Gold entgegenschimmern wird. Das war alles nicht schön, nicht brüderlich, nicht väterlich, aber sie konnte es begreifen. Dies faßte sie nicht: sie, die Schwester, die Freundin, die Vertraute – ihre Johanna, an deren Halse sie in jener Nacht den ungeheuren Schmerz um ihre vom Schicksal verratene Liebe ausgeweint hatte; die, wenn eine Seele auf Erden, wissen mußte, was ihre Seele in diesem Augenblicke litt; wie namenlos schwer und bitter das Opfer war, das sie dem Wohle der Ihren bringen sollte – sie konnte es lachend von ihr heischen, weil auch sie und ihr Oskar ihren Vorteil bei dem grausamen Handel fanden!

Nun denn: morgen! Nur diese eine Nacht wollte sie ihre Seele frei haben, zurückzufliehen zu dem Paradiese, aus dem sie von morgen verbannt sein würde auf immerdar! Nur diese eine Nacht!

Sie ließ die verstörten Blicke durch den Saal schweifen, wo bereits längst die Lichter und Lampen entzündet waren. Auch Herr und Frau Neddermeyer hatten sich mit ihren Kindern zurückgezogen; der Diener-Gärtner trug eine große Bowle Punsch herein, sein Sohn folgte ihm mit einem Tablett voll Gläser. Man würde sich nun um den Tisch in der Ecke da setzen; es würde getrunken, getoastet werden auf das Wohl der jungen Brautleute, auf Georgs glückliche Heimkehr; auf den, dessen hochherziger Güte Georg die Heimkehr, die Brautleute dies fröhliche Beisammensein verdankten. Die Köpfe würden sich erhitzen; es würden verfängliche Worte fallen, Anspielungen gemacht werden, die man nicht mißverstehen konnte – der Ärmsten war, als ob die Mauern schwankten, die hohe Decke sich auf sie herabsenke. Mit zitternder Stimme bat sie, sich zurückziehen zu dürfen; sie fühle sich von den Anstrengungen des Tages zu erschöpft, um sich noch länger munter, ja nur aufrecht halten zu können. Ihr bleiches Aussehen machte den Widerspruch der Herren verstummen; Johanna schmollte, erbot sich dann aber auf einen bedeutungsvollen Wink Oskars, mit ihr zu gehen. Frau Neddermeyer wurde gerufen. Minna mußte sich auf den kräftigen Arm der Führerin stützen, als diese sie nun aus dem Saale eine breite Treppe hinauf in das für die Schwestern bestimmte Schlafgemach leitete.

Johanna, die sich unten gerühmt hatte, so wenig müde zu sein, daß sie die ganze Nacht hindurch tanzen könnte, war eingeschlafen, nachdem sie kaum den Kopf in die seidenen Kissen gedrückt. Minna konnte nicht schlafen und wollte nicht schlafen. Sie wollte den Traum ihrer Liebe noch einmal durchträumen von dem Augenblicke, als sie Hypolit zum ersten Male erblickt: an jenem Sommerabend auf der Alster – der Wind hatte ihr den Strohhut vom Kopfe geweht hinüber in das kleine Boot, in dem Hypolit eben an dem größeren Boote ihrer Gesellschaft vorüberruderte – bis zu dem letzten, da er sie noch einmal in seine Arme preßte und dann die Straße hinabritt, ohne einen Blick rückwärts zu werfen. Ich werde nicht zurückblicken, hatte er gesagt, ich weiß, wenn ich es täte, ich würde mich nicht länger beherrschen können und, zu meinem holden Mädchen fliegend, ihm die Qual des Abschieds nur verlängern. – Ach, der Beste, Edelste der Menschen, er hatte ja nie an sich, immer nur an sie gedacht: ob sie sich glücklich in ihrer Liebe fühle? ob sie in ihrer Verbindung auf die Dauer ihr Glück finden werde? Daß er, der mit Leib und Seele Soldat war, um ihrethalben, sobald er es mit Ehren könne, auf seine kriegerische Laufbahn verzichten wolle; um ihrethalben mit seiner ganzen Verwandtschaft werde brechen, selbst von seiner Mutter sich werde trennen müssen – dafür hatte er nie ein Wort der Klage gehabt. Ich liebe meine Mutter, hatte er gesagt, ich würde freudig mein Leben für sie lassen. Nicht dich, Geliebte! Du bist mir tausendmal mehr als mein Leben. Ohne dich ist mir das Leben fortan ohne Wert. – Und dann hatte er ihr die Mutter geschildert, wie sie, eine strenge Royalistin, die geborene Duchesse, nachdem der Kaiser den alten Adel restauriert, auf Schloß Carnac walte als strenge, aber auch gerechte Chateleine, ohne je einen Fuß nach Paris zu setzen, das ihr durch den Tod des Gatten, der als ein Opfer der Revolution unter dem Beile der Guillotine gefallen, eine Stätte des Abscheus und des Grauens geworden war. – Wie oft hatte sie die gestrenge Dame leibhaftig vor sich zu sehen geglaubt: mit dem toupierten, gepuderten Haare unter der reich garnierten Witwenhaube, in dem Brokatkleide nach der Mode der Zeit der Königin Marie Antoinette, um den Hals die dreifache Schnur kostbarer Perlen, in der einen beringten Hand den Elfenbeinfächer, in der anderen den Stock mit dem goldenen Knopfe, auf den sie sich beim Gehen stützen mußte.

Minna fuhr mit einem leisen Schrei in die Höhe und saß zitternd im Bette, mit weit aufgerissenen Augen nach der Wand ihr gegenüber starrend, aus der sie, die sie eben in ihres Geistes Aug' gesehen, ihr entgegenzuschreiten schien: mit Haube, Brokatkleid, Perlen, Fächer, Stock – ein Bild, das sie vorhin nicht bemerkt hatte oder das erst jetzt im Scheine des Nachtlichts aus dem Dunkel herausgetreten war und durch den sonderbarsten Zufall dem Bilde glich, das vor ihrer erregten Phantasie gestanden. Sie mußte lächeln über die wunderliche Täuschung, über ihr kindisches Erschrecken. Und dann mußte sie bitterlich weinen. Also nicht einmal ein letzter, sehnsuchtsvoller Traum in stiller Nacht war ihr vergönnt! Mit dem Bilde da gegenüber konnte und durfte sie von ihm nicht träumen. Das war's: sie durfte es nicht! Wer entsagen will, darf nicht halb entsagen wollen; wer sich entschlossen hat, nicht hinterher mit der Entschließung markten, wie ein widerwilliger Schuldner mit seinem Gläubiger. Nein, es bedurfte des Drängens der Ihren nicht, bedurfte nicht dieser geisterhaften Mahnung! Sie hatte sich ihre Pflicht klargemacht; sie würde diese Pflicht erfüllen.

Und sie verschränkte die Arme über dem Busen und schloß die Augen, ob sie, wie sie sich selbst bezwungen, nicht auch die Wohltat des Schlafes herbeizwingen könne.


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