Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.

An der Seite des Alsterdammes hatte sich die Menge jetzt, da das Feuerwerk abgebrannt war, zu lichten begonnen; auf dem Jungfernstieg aber stand sie wieder Kopf an Kopf, sich haufenweis um ein paar Läden drängend, die während der Okkupation geschlossen und heute zum erstenmal wieder aufgetan waren; die meisten blickten eifrig nach dem Wasser, auf dem durcheinanderkreuzende, mit bunten Laternen geschmückte Boote, in welchen lachende, singende, jauchzende Menschen saßen, den entzückten Zuschauern verkünden zu wollen schienen, daß Hamburg sich selbst zurückgegeben sei. Es hielt schwer, durch das Gedränge zu kommen, und Minna, die den Schleier dicht über das Gesicht gezogen hatte, atmete auf, als sie, in die Große Bleichen biegend, die Straße verhältnismäßig frei fanden. Dennoch eilte sie, Hypolit fast mit sich ziehend, atemlos vorwärts. Die doch nicht eben lange Strecke bis zu dem Hause, in dem die d'Aubignys wohnten, schien ihr kein Ende nehmen zu wollen, und sie erschrak aufs heftigste, als sie an der Ecke der Königsstraße einer Schar von jungen Leuten begegneten, die, sich einander untergefaßt haltend, lärmend und singend daher kamen, ihnen den Weg versperrend. Das war offenbar zuerst absichtslos geschehen, wurde aber Absicht, als Hypolit, der sich nicht vorstellen mochte, daß man einer Dame nicht ausweichen werde, Minnas Arm etwas fester nehmend, ruhig weiterschreitend, da jene nicht Raum gaben, gerade auf die Mitte der Kette stieß. Er trat einen Schritt zurück und machte eine Wendung nach links, den Schwarm zu umgehen, der nun sofort nach rechts drängte, so daß für Hypolit die Unmöglichkeit, mit seiner Dame geradeaus vorwärts zu gelangen, von neuem entstand. Es war, nach den lachenden Gesichtern der jungen Leute zu schließen, keineswegs auf eine Beleidigung abgesehen, nur auf einen Scherz, wie er dem trunkenen Mute passend und jedenfalls harmlos erschien. Auch nahm Hypolit die Sache nicht anders, indem er, höflich den Hut ziehend, ein kaum ironisches Eh bien, Messieurs? fragte.

Die französischen, offenbar von einer französischen Zunge gesprochenen Worte wirkten auf die Berauschten wie ein elektrischer Schlag.

Oho, ein Franzose! – Hier nix französisch! – Verstandez-vous? schallte es zurück.

Minna machte eine lebhafte Bewegung; Hypolit flüsterte ihr zu: Ich bitte dich, sprich nicht! Und dann zu den jungen Leuten:

Meine Herren, ich muß nach ihrem Äußeren annehmen, daß Sie mich verstehen. So ersuche ich Sie um das Selbstverständliche: lassen Sie mich und meine Dame passieren!

Die in ruhigem Tone gesprochenen Worte und die vornehme Haltung des Sprechenden mochten den Übermütigen imponieren. Sie blickten einander an und schienen im Begriff, Raum zu geben. Einer von ihnen aber, ein hochgewachsener junger Mann, rief: Ach was, Jungens, keine Umstände mit dem Schwadroneur!

Und dann, ein wenig vor die anderen tretend, in fließendem Französisch, und indem er die Haltung Héricourts möglichst nachahmte: Mein Herr! wir werden Sie passieren lassen, vorausgesetzt, daß die Dame Ihre Landsmännin ist. Ist sie es nicht, so wünschen wir das Gesicht der Deutschen zu sehen, die es an einem Tage wie der heutige mit den Franzosen hält.

Bravo! – das ist recht! – Wir wollen ihr Gesicht sehen! – Herunter den Schleier! riefen die Lachenden untereinander.

In meinem Vaterlande, erwiderte Hypolit, ist man gewohnt, die Pflichten des Anstandes zu erfüllen, ohne Bedingungen zu stellen.

Wir sind aber nicht in Ihrem Vaterlande, und wir bestehen auf der Bedingung, rief der Sprecher.

Ja, wir bestehen auf der Bedingung, rief der Chor. Herunter den Schleier!

Ein besonders Kecker war herangesprungen und streckte die Hand nach Minna aus. Im nächsten Moment taumelte er, von einem kräftigen Stoß Hypolits vor die Brust getroffen, auf seine Gefährten zurück.

Die Kette hatte sich gelöst, aber nur, damit jetzt alle mit drohenden Gebärden und wilden Worten auf Hypolit eindringen konnten, ohne daß doch einer Hand an ihn zu legen gewagt hätte. Aber schon waren die Angreifer nicht mehr in der Lage, ihre Sache allein für sich durchzuführen. Ein Volkshaufen hatte sich inzwischen angesammelt, der sich mit jeder Sekunde vergrößerte. Aus dem drohenden Gemurmel ringsumher wurde wüstes Geschrei; die Hinterstehenden drängten auf die Vorderen; Fäuste waren geballt, Stöcke wurden geschwungen; der nächste Augenblick mußte eine schreckliche Katastrophe herbeiführen. Da brach sich einer durch die umdrängende Menge gewaltsam Bahn: ein hanseatischer Offizier, der sich vor die Bedrohten stellte, mit heller, heftiger Stimme rufend:

Zurück! zurück, sage ich! Und haltet Frieden! Wollt ihr den schönen Tag entweihen? So viele gegen den einen Wehrlosen? Schämt euch! Und wisset: dieser Herr hat das Recht, frei durch unsere Straßen zu gehen: er ist der militärische Bevollmächtigte der Franzosen, geschützt durch das Völkerrecht, wenn ihr ein anderes Recht nicht gelten lassen wollt.

Georg sprach nur noch zu dem Volkshaufen; die ersten Angreifer hatten sich, als sie die Sache diese Wendung nehmen sahen, eiligst in die Menge verloren. Die aber hatte ihren Helden von heute morgen kaum erkannt, als sie, vergessend, um was es sich hier eigentlich handelte, in Hurras und Lebehochs ausbrach. Kaum, daß sich Georg der Begeisterten, die alle seine Hände schütteln wollten, erwehren konnte. Morgen mehr! rief er. Für heute abend laßt es gut sein!

Die Leute gehorsamten ihm. Noch ein paar Hurras und Lebehochs; dann war der Weg frei.

Georg wandte sich zu Hypolit, militärisch grüßend:

Ich bitte für meine Landsleute um Entschuldigung, Herr Marquis. Sie sind heute in einer erregten Stimmung, die sich begreifen läßt, und auf die man vielleicht hätte Rücksicht nehmen sollen. Jedenfalls möchte ich, der größeren Sicherheit wegen, um die Erlaubnis nachsuchen, Sie und Ihre Dame bis zu Ihrer Wohnung geleiten zu dürfen.

Durch den gezwungen ruhigen Ton, worin diese Worte gesprochen wurden, zitterte eine mühsam verhaltene Leidenschaft, die Minnas Herz zerbrach. Sie hatte während des schrecklichen Auftritts vorhin ihre Selbstbeherrschung nicht verloren; jetzt kam ein wimmerndes Stöhnen aus ihrer Brust, und Hypolit fühlte, daß sie sich an ihn klammerte, um nicht umzusinken. In ihm selbst bebte der Unwille nach über die Brutalitäten, denen er sich und das geliebte Weib eben noch ausgesetzt gesehen hatte, und in dem Umstande, daß der Bruder die Schwester, die er verleugnete, solche Qual erdulden lassen konnte, erblickte er nur einen anderen Beweis der Herzensroheit, die dieses Volkes traurige Mitgift sei. Doch bezwang er sich um der Unglücklichen an seiner Seite willen so weit, daß er mit Haltung sagen konnte:

Ich danke Ihnen, Herr Leutnant Warburg, obgleich ich glaube, daß wir Ihres Schutzes entraten können. Die Wohnung Ihrer Frau Schwester, die ein Gast des Grafen und der Gräfin d'Aubigny ist, befindet sich in der Entfernung weniger Häuser. Meine Wohnung – dieselbe, die ich auch vormals innehatte – passieren wir soeben.

Dann will ich Monsieur und Madame nicht weiter lästig fallen, sagte Georg, stehenbleibend und, die Hand an dem Tschako, sich verbeugend.

Georg! rief Minna mit einem wilden Schrei, beide Hände, die sie losgemacht hatte, dem Bruder entgegenstreckend.

Madame irren sich ohne Zweifel, sagte Georg kalt, mit nochmaliger Verbeugung sich zum Gehen wendend.

Er hatte noch kaum zwei Schritte getan, als er Hypolit vor sich sah, ihm den Weg vertretend.

Herr Marquis belieben?

Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie ein Held zu sein glauben, und nichts weiter als ein Elender sind!

Ich schleudere es Ihnen in die Zähne zurück: Sie glauben ein Bayard zu sein, Herr Marquis, und sind nichts als ein kläglicher Don Juan.

Sie machen von dem Umstande, der Bruder Ihrer Schwester zu sein, einen unwürdigen Gebrauch.

Unmöglich, Herr Marquis! Ein deutscher Offizier kann die Geliebte eines französischen nicht zur Schwester haben. Es gab eine Zeit – und sie ist nicht lange her – als die Herren Offiziere in Deutschland den Kopf nicht ganz so hoch trugen.

Memmen gab es zu allen Zeiten und bei allen Nationen. Sollte ich zufällig auf eine französische gestoßen sein? Oder wird der Marquis d'Héricourt beweisen, daß er wenigstens den Mut seiner Schamlosigkeit hat?

Sie werden morgen von mir hören, mein Herr!

Schwerlich, bevor Sie von mir gehört haben, mein Herr!

Der in leisem Tone geführte Wortwechsel hatte nur Sekunden gewährt. Als Hypolit sich nach gegenseitiger stummer Begrüßung von Georg abwandte, der alsbald in dem Schatten der Häuser verschwand, sah er Minna in der Entfernung weniger Schritte an dem steinernen Pfosten eines Tores gelehnt. Er eilte auf sie zu, umschlang die an allen Gliedern Zitternde mit einem Arme und führte sie so die kurze Strecke bis zur d'Aubignyschen Wohnung. Sie waren beide außerstande gewesen, ein Wort hervorzubringen: Hypolits Atem ging zornig schwer; Minna drohten wiederholt die Sinne zu schwinden. Nun, an der Schwelle, richtete sie sich plötzlich aus seinem Arme auf und rief leidenschaftlich:

Du darfst dich nicht mit meinem Bruder schlagen!

Du hast keinen Bruder mehr, erwiderte Hypolit dumpf. Er hat sich von dir losgesagt. Ich meine, er wäre deutlich genug gewesen.

Gleichviel! rief Minna; er bleibt mein Bruder trotzdem und – ist es in diesem Augenblicke vielleicht mehr als je.

Die letzten Worte waren nur gemurmelt, er hatte sie aber doch verstanden.

So bin ich dir eben weniger, als ich zu sein geglaubt habe, erwiderte er schmerzlich.

Laß uns nicht abwägen, laß uns nicht rechten, Hypolit! Laß uns menschlich sein!

Der Himmel ist mein Zeuge, wie gern ich es wäre! Kann man es denn sein in diesem barbarischen Volke?

Beschimpfe nicht das Volk, zu dem ich gehöre!

Eben jetzt solltest du dessen nicht gedenken.

Ich werde dessen gedenken jetzt und immer.

Dann freilich darf ich nicht vergessen, daß ich französischer Offizier und Edelmann bin.

Er hatte sich bereits halb abgewandt; sie ergriff ihn bei der Hand.

Hypolit, du weißt nicht, was du tust!

Ich weiß es.

Dann ist alles verloren.

Nur die Ehre nicht.

Leb wohl!

Sie hatte seine Hand losgelassen und eilte die Stufen hinauf durch die offene Haustür in den matterhellten Flur. Nur noch flüchtig sah er die teure Gestalt auf der Treppe. Dann war sie verschwunden.

Ein schmerzvolles Stöhnen brach aus seiner Brust. Ein paar Augenblicke stand er in gräßlichem Seelenkampfe. Hatte er nicht eben, wie Petrus den Herrn, verleugnet, wovon er noch vor einer halben Stunde in ihren Armen geschworen, daß es ihm heilig, daß es ihm das einzig Heilige in diesem Leben sei? Aber: »sollte ich zufällig auf eine französische Memme« – ah! Auf Erden durfte kein Mann atmen, der sich rühmen konnte, das Wort ungestraft gesprochen zu haben!

Er drückte den Hut in die Augen, hüllte sich schaudernd enger in den Mantel und ging langsam die Straße hinab nach seiner Wohnung.


 << zurück weiter >>