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Siebentes Kapitel.

Der freundliche Portier, von dem Anne sich in der Mittagsstunde eine Droschke hatte holen lassen, machte heute ein bekümmertes Gesicht. Ob es denn wahr sei, was die Leute sagten, daß der Herr und die Frau nicht eine kleine Reise machten, wie es zuerst geheißen habe, sondern nicht wiederkommen würden? Er könne sich das nicht denken trotz der vielen Koffer, die sie mitgenommen hätten. Es habe ihn schon gewundert, daß die Herrschaften verreist wären, wo es dem Herrn Professor doch so sehr schlecht gehe. Eben seien die Herren Aerzte wieder da; sie hätten sogar heute noch einen dritten mitgebracht.

Anne erwiderte: soviel sie wisse, handle es sich nur um eine kleine Reise. Die Mama mache auch die kleinste nicht ohne ihre großen Koffer. Möglicherweise erfolge die Rückkehr schon morgen, jedenfalls in den nächsten Tagen.

Sie log nicht für sich – ihr war es gleichgültig, wann der Zusammenbruch erfolgte. Aber Ralphs letzte Stunden sollten nicht durch die Unruhe gestört werden, die sicher im Hause entstand, sobald die Leute die volle Wahrheit erfuhren.

Auch bei dem, was sie nun vorhatte, dachte sie nicht an sich. Gestern abend hatte sie Hartmut zum letztenmale und auch nur auf wenige Minuten gesehen und gesprochen. Er war sehr düster und einsilbig gewesen; hatte auf ihr Drängen nur gesagt, die nächsten Tage brächten sicher die Entscheidung; sie möge sich darauf vorbereiten.

Die plötzliche Abreise der Eltern, von der sie selbst gestern abend noch keine Ahnung gehabt hatte, mochte er gewußt, oder vorausgesehen haben; aber das hatte er sicher nicht gemeint. Sie waren ja darüber einig, daß sie die Eltern aus der Rechnung ihres Lebens streichen müßten und streichen wollten. Nicht die Eltern nur: zu dem Großen, das er plante, mußte er die Arme frei haben nach allen Seiten. War sie doch darauf gefaßt, daß er sich von ihr auf eine Zeitlang würde trennen müssen. Warum er Marie und ihren Vater auf eine falsche Fährte bringen zu sollen geglaubt hatte – sie wußte es nicht. Es kam auch nichts darauf an. Jedenfalls hatte er seine guten Gründe gehabt. Ihr aber lag es ob, »vorbereitet zu sein.«

Sie wußte sehr wohl, daß in solchen Dingen mehr noch als in andern das Geld eine wichtige Rolle spiele. Sie hatte Hartmut schon wiederholt gebeten, in diesem Punkte über sie zu verfügen, ihr wenigstens diese niedrigste Teilhaberschaft an der großen Sache zu gönnen. Er hatte es stets abgelehnt: vielleicht später; vor der Hand reichten seine Mittel aus. Vor der Hand! Das konnte in jedem Moment zu Ende sein. War vielleicht in diesem Moment schon zu Ende. Auf jeden Fall wollte sie sich »vorbereiten.«

Drüben hatte sie immer ihr eigenes Konto bei dem Bankier gehabt. Das war hier nicht der Fall gewesen: sie hatte auf Rechnung des Vaters ausgegeben, was ihr beliebte. Es war keine kleine Summe. Die Kunstgegenstände, die sie bei Fiocati erstanden, gingen in die Tausende. Andre Tausende hatte der Diamantschmuck gekostet, den sie bei einem Juwelier auf dem Schloßplatz gekauft. Ihr Pferd im Tattersal repräsentierte ebenfalls einen Wert, der jetzt immerhin in Rechnung fiel.

Also zuerst zu Fiocati.

Sie würden Berlin nun doch früher verlassen, als ursprünglich geplant – vielleicht schon in wenigen Tagen; nicht nach Amerika zurückzukehren, sondern ein paar Jahre lang auf Reisen zu bleiben. So seien ihr die schönen Sachen, die zum Teil noch unausgepackt dastünden, zu großer Last. Ob man sie wieder nehmen wolle? selbstverständlich mit dem bei einem Rückkauf usancemäßigen Vorteil?

Der Handel war, da die Sachen fraglos wieder einen Liebhaber finden würden, und Anne nicht feilschte, bald abgeschlossen. Der verbindliche Kaufmann bedauerte nur, eine so geschätzte Kundin so bald verlieren zu sollen. Die Sachen würden noch im Laufe des Tages abgeholt werden; das Geld stehe dem gnädigen Fräulein jederzeit zur Verfügung. Anne bat um die Zusendung, sobald die Sachen abgeholt und unversehrt gefunden wären.

Nun zu dem Juwelier auf dem Schloßplatz.

Das neue Märchen herzusagen, fiel dem stolzen Munde schon seltsam schwer. Es war, als ob die paar Lügen – die ersten, die sie je gelogen – ihre Kraft erschöpft hätten. Aber es war ja für ihn, für den sie durch die Hölle gegangen wäre. So mochte denn weiter gelogen werden:

Sie habe ihr Konto bei dem Bankier in bedenklicher Weise überschritten. Es sei ihr peinlich, Mister Curtis das gestehen zu müssen. Ueberdies sei Mister Curtis auf längere Zeit verreist. Auch sei es Grundsatz bei ihr, ihre Angelegenheiten ohne väterliche Intervention zu regeln. Ob man geneigt sei, das Diamantencollier zurückzukaufen? Dazu diese Perlenschnur und diese kleine Kollektion von Bracelets, Medaillons, Spangen und Ringen?

Aber, mein gnädigstes Fräulein, rief der Juwelier fast erschrocken, das ist ja ein Vermögen!

Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen, erwiderte Anne lächelnd; ich weiß nur, daß ich sehr viel Geld brauche. Was können Sie dafür geben?

Es ist schwer, das im Moment zu bestimmen, sagte der Juwelier, sich über die gefaltete Stirn streichend. Lassen Sie mir einige Zeit!

Das kann ich nicht; entgegnete Anne. Ich brauche das Geld sofort. So muß ich mich eben an einen andren wenden.

Auf keinen Fall! rief der Juwelier. – Und dann, nachdem er die Schmucksachen eine nach der andren in die Hand genommen und aufmerksam betrachtet hatte, fuhr er in ruhig-geschäftsmäßigem Tone fort:

Ein andrer würde Sie vielleicht nicht so gewissenhaft bedienen, wie ich es jedenfalls thun werde, wenn Sie denn wirklich auf den Verkauf der Sachen bestehen. Aber, verzeihen Sie mir die Frage, warum thun Sie das? Was ich Ihnen für die Sachen bieten könnte, schwankt zwischen siebzig- und achtzigtausend Mark. Das ist eine große Summe; aber sie spielt doch in Ihren Verhältnissen gar keine Rolle. Es ist notorisch, daß Ihr Herr Vater allein an der Emission der Choctawbahn-Prioritäten eine runde Million gemacht hat. Da haben Sie doch bei Ihrem Bankier, auch wenn Sie Ihr Konto noch so weit überschritten haben, illimitierten Kredit. Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag machen, gnädiges Fräulein! Betrachten Sie mich als Ihren Bankier! Erlauben Sie mir, Ihnen die Summe zu geben, die Sie augenblicklich brauchen! Ich verlange keine Sicherheit; aber, wenn Sie darauf bestehen, will ich die Sachen hier als Pfand behalten so lange, wie Sie wollen. Ist Ihnen das angenehm?

Ich bin Ihnen für Ihre Güte sehr verbunden, erwiderte Anne; aber ich kann von derselben keinen Gebranch machen. Ich will verkaufen – unbedingt.

Der Juwelier schüttelte den Kopf und sagte: Dann verstatten Sie, daß ich mich mit meinem Kompagnon verständige!

Er packte die Sachen wieder in die Schatulle, in der Anne sie gebracht hatte, und entfernte sich mit derselben aus dem Laden, wo die Unterredung stattfand, in das benachbarte Privat-Comptoir.

Anne blieb im Laden sitzen. Ein paar Kunden kamen und gingen, von ihr, die in ihre Gedanken verloren war, kaum bemerkt. Die Zeit verstrich; ihre Ungeduld wuchs; sie sah nach der Uhr: dreiviertel auf zwei. Brauchten denn diese Leute eine Ewigkeit? Sollte sie die Uhr gleich mit in den Kauf geben? Es war ein exquisites Werk in den denkbar kleinsten Dimensionen: das Gehäuse mit minimalen Diamanten bedeckt, die in kunstvollster Weise zu Flachen zusammengefügt waren. In einem Juwelierladen in Paris, wo sie die Uhr zufällig blicken ließ, hatte man dieselbe sehr bewundert und ihr sechstausend Franks geboten, wenn sie sich entschließen könnte, sie zu veräußern. Sollte sie es jetzt thun? Aber das würde wohl nicht zu der Rolle, die sie einmal angenommen, gepaßt haben.

Der Juwelier kam wieder in den Laden und ersuchte sie, ihm in das Comptoir zu folgen. Die Kompagnons hatten sich auf fünfundsiebzigtausend Mark verständigt, die sie für das Ganze bieten könnten. Sie begannen eine Auseinandersetzung, warum sie höher zu gehen nicht imstande seien, trotzdem der Einkaufspreis der Sachen zusammen ein sehr viel bedeutender gewesen sein müsse. Anne bat, die Erörterungen zu lassen; sie acceptiere das Gebot unbedenklich. Eine Minute später war sie wieder im Wagen mit einer Anweisung der Juweliere auf deren Bankier.

In dem Bankhause war das Geschäft schnell erledigt. Nur als der Kassierer die Unterschrift Annes über das zu empfangende Geld sah, blickte er schnell auf und fragte:

Ist das gnädige Fräulein etwa mit Herrn James Curtis verwandt?

Hat die Frage mit unsrem Geschäft etwas zu schaffen? sagte Anne.

Nicht das mindeste! erwiderte der Kassierer. Es ist nur, weil der Name, den, wie ich sehe, auch Sie führen, heute auf der Börse viel genannt wurde. Die Choctawbahn-Prioritäten, die ein Herr James Curtis hier auf den Markt gebracht hat, und die gestern mit hundertunddrei angeboten und eifrig gekauft wurden, sind heute über dreißig Prozent gefallen und werden vielleicht schon morgen völlig wertlos sein. Man hält die Choctawbahn für den reinen Schwindel.

In der That, sagte Anne in gleichgültigem Tone. Bitte das Geld, soweit möglich, in Tausendmarkscheinen, wenn es Ihnen keine Umstände macht!

Durchaus nicht.

Anne empfing das Geld und steckte es zu sich, ohne daß sich ihre ruhige Miene im mindesten verändert hätte. Aber als die Thür des Comptoirs hinter ihr zufiel, lachte sie einmal bitter auf. So war der Vater hier wieder bei seinem alten Metier gewesen und brachte jetzt seinen Raub irgendwohin in Sicherheit. Er, ein Räuber unter wie vielen andern, von denen er sich in nichts unterschied als durch seine größere Schlauheit und Frechheit! Und ein Gesellschaftszustand, der kein Mittel hatte, diesen Räubern das Handwerk zu legen, sollte zu Recht bestehen? In den Augen der Räuber gewiß und derer, die sich die Früchte des Raubes gefallen ließen, wie sie selbst es zu ihrer Schmach so lange Jahre gethan hatte. Aber auch in den Augen der halbnackten Männer da, die in der glühenden Mittagssonne den schadhaften Asphalt mit eisernen Keilen auseinander trieben und für sich, ihre Weiber und Kinder nichts hatten als die spärlichen Brosamen von der Räuber Tischen? Und die ungeheure Ungerechtigkeit würde nun so weiter sich hinschleppen ins Endlose, bis einer kam, der den Kopf hatte, sie zu begreifen, und das Herz, ihr ein Ende zu machen! Ein Ende mit Schrecken, diese Aermsten aus ihrem Stumpfsinn aufrüttelnd, daß sie die nervigen Arme reckten und mit den wuchtigen Hämmern die Räuberbrut zerschmetterten. Hohle Phrasen das für die Neunmalweisen, die, ohne es zu ahnen, doch im Solde der Räuber stehen, ihre Diener und Helfershelfer, aus tausend Büchern zu beweisen, dies könne gar nicht anders sein und: aufs Schafott mit den Friedensstörern! »Ich will der Freiheit eine Gasse machen!« Ob die Sache der Knechtschaft von einem blanken Henkersbeil verteidigt wird, oder von schimmernden Ritterspeeren – ist denn das ein Unterschied? So gehe denn, ohne nach rechts und links zu blicken, deinen Weg, du einzig Braver! Und sorge nicht für dein Weib! Es bedarf der hilfreichen Eidgenossen nicht. Es wird, wenn es sein muß, nicht weniger mutig zu sterben wissen, als du selbst!

Während solche Gedanken noch immer, wie Blitze eine schwüle Sommernacht, das Gehirn der Leidenschaftlichen durchzuckten, verhandelte sie bereits verständig und sachlich mit dem Stallmeister im Tattersal über den Verkauf ihres Goldfuchses. Sie wollte in wenigen Tagen abreisen; sie mußte das Pferd verkaufen. Das herrliche Tier war aus dem Stall herbeigeführt worden. Ein paar Sportsmen, die sich bereits früher in der Manege Miß Curtis hatten vorstellen lassen und zufällig anwesend waren, hörten der Verhandlung zu, sprachen endlich mit hinein. Einer hätte gern für seine junge Frau gerade ein solches Pferd gehabt; aber der von Anne geforderte Preis war ihm zu hoch. Anne sagte, daß sie mit sich handeln lasse. Man feilschte, scherzte; wurde zuletzt einig. Das kostbare, von Reginald eigens für Anne besorgte Sattel- und Zaumzeug ging mit in den Kauf. Nur eine Reitpeitsche mit schwerem silbernem Griff blieb ausgeschlossen. Sie war dem Käufer nicht zu kostbar, aber er meinte, eine Reiterin wie Miß Curtis könne nicht wissen, wie bald sie wieder im Sattel sitzen und die Peitsche brauchen werde. Die Auszahlung des Kaufpreises machte keine Schwierigkeit. Der Käufer führte eine größere Summe bei sich; der fehlende Rest wurde ihm vom Stallmeister bereitwillig vorgeschossen. Sämtliche Herren begleiteten Anne mit vieler Höflichkeit bis zu ihrer Droschke, wünschten ihr Glück zu der bevorstehenden Reise und baten, daß sie Berlin und den Tattersal in gutem Andenken behalten möge. Anne hieß den Kutscher, noch einmal zu Fiocati unter den Linden zu fahren.

Ihr war eingefallen, daß ihr Vater, wie sie ihn kannte, bei seiner Abreise, die ja eine Flucht war, sich schwerlich die Zeit genommen haben werde, die ausstehenden Rechnungen zu regulieren. Da sollten wenigstens die kleinen Leute nicht leer ausgehen. Das Geld von Fiocati kam erst morgen zur Zahlung. Wer konnte wissen, ob sie morgen noch hier war? So wollte sie das Geld an Smith adressieren lassen. Der gute Smith, der arme Ralph! Aber ihnen konnte sie nicht weiter helfen. Der Sturm, der sie erfaßt hatte, wirbelte sie hinaus in eine sternenlose Nacht, aus der jeden Augenblick der Blitz herabfahren mochte, der den Geliebten und dann auch sie zerschmetterte.

Vor ihr auf dem Rücksitz der Droschke lag die Reitpeitsche. Der silberne Griff blinkte im Sonnenschein. Dabei kam ihr der Sonnenschein in Erinnerung, die unendliche Fülle von Sonnenschein, die sie getrunken vor drei Jahren auf einer abenteuerreichen Reise nach Kansas und Kalifornien. Sie hatte die Peitsche zu der Reise gekauft und sah sich nun wieder im Geist auf dem schäumenden Mustang durch die Prärien, jagen. Es war doch schön gewesen, das wilde Leben, trotzdem sie schon damals das volle Bewußtsein der Bodenlosigkeit einer Existenz hatte, die sich auf dem verbrecherischen Reichtum ihres Vaters aufbaute: dem Abgrund, der sich über kurz oder lang öffnen und sie verschlingen würde. Das, war's gewesen, was ihr die sonnige Welt verdunkelte schon damals und ihr das Herz zuschnürte, so oft es sich öffnen wollte, die Liebesblicke einzusaugen aus den dunklen Augen ihres schlanken Gefährten auf jenen wilden Ritten. Sie hatte nie wieder an den Jüngling gedacht, selbst seinen Namen vergessen. Jetzt fiel ihr derselbe wieder ein: Fennimore Sparkle! Und wieviele andre hatten seitdem um ihre Gunst geworben! Eine schier endlose Reihe, deren letzter Reginald war. Nicht der schlechteste unter ihnen – bei Gott! Ihr war doch seltsam weh ums Herz gewesen, als er ihr endlich seine Liebe, um die sie längst gewußt hatte, gestand, und sie ihm sagen mußte, daß sie ihn nicht lieben könne. Die steile Uferhöhe, – hinter ihnen den Wald, den sie eben durchritten, vor ihnen der breite Fluß – wie hatte sie die Scenerie seltsam lebhaft an ihre amerikanische Heimat erinnert! Ihr Herz war in dem Augenblicke so weich gewesen. Und als er, nachdem er ihr hartes Nein gehört, kein Wort der Erwiderung fand, sondern so still auf seinem Pferde saß und in die sonnige Landschaft starrte, während ihm die Thränen über die Wangen liefen – da hätte sie am liebsten mit ihm geweint. In dem Momente hatte sie von ihm und dem Sonnenschein und allem, was das Leben schön und köstlich machte, für immer Abschied genommen.

Der Wagen hielt vor dem Laden unter den Linden. Sie ging hinein und brachte ihren Wunsch vor, ohne recht zu wissen, was sie sagte. Es mußte doch wohl verständlich gewesen und verstanden sein. Der Kaufmann machte sich eine Notiz und begleitete sie bis zur Ladenthür, die er bereits für sie offen hielt, als er mitten in seinem höflichen Geplauder abbrach, rufend: Um Gotteswillen, was ist das! Der Kaiser! Sehen Sie!


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