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Sechstes Kapitel.

Der merkwürdigen Nacht folgten Tage, der Oberfläche des Meeres gleichend, auf der schwarze Wolkenschatten mit den Sonnenlichtern abwechseln. Der herzugerufene Arzt, ein berühmter Kliniker der Universität, hatte die Prognose des Kollegen nur einfach bestätigen können. Da auch die Behandlung seine volle Billigung fand, erklärte er die regelmäßige Fortsetzung seiner Besuche für zwecklos; selbstverständlich stehe er jederzeit dem Herrn Kollegen zur Verfügung. Ralph war es zufrieden. Er hatte unbedingtes Vertrauen zu Doktor Brunn und ertrug nur schwer den Anblick eines fremden Gesichtes. Selbst die Gegenwart der Austin erregte ihm starkes Unbehagen. Man hätte der Dienste der mürrischen Alten gern entraten; aber sie nahm einen Teil der Pflege als ihr Recht in Anspruch, und so mußte man sie um des Friedens willen gewähren lassen.

Sonst führte Doktor Brunn mit seinen beiden Assistenten, wie er Smith und Marie nannte, allein den Kampf gegen den tückischen Dämon der Krankheit, der einmal den vereinten unermüdlichen Anstrengungen der drei entschieden weichen mußte, das andre Mal, ihrer Bemühungen spottend, siegreich vordrang; dann wieder auf Tage einen Waffenstillstand anzubieten schien, den er, wenn seine Gegner schon freier aufatmen zu dürfen glaubten, tückisch brach.

Smith hatte Doktor Brunn mit seinen wahren Verhältnissen bekannt gemacht. Bei seiner häufigen und manchmal stundenlang währenden Anwesenheit hätte sich das Geheimnis schwer bewahren lassen, und man hatte den Mann zu sehr schätzen und lieben gelernt, um ein Geheimnis vor ihm haben zu wollen. Uebrigens war er, als Smith bereits am zweiten Tage ihm in aller Kürze das Nötige mitteilte, kaum erstaunt.

Daß Sie weder Smith oder Schmidt hießen, noch hier in Deutschland Schulmeister gewesen waren, sagte er lächelnd, darauf hätte ich schwören mögen. Wir geborenen Plebejer haben eine scharfe Witterung für euch Aristokraten und erkennen euch in jeder Verkleidung an einer gewissen Haltung, gewissen Bewegungen, Umgangsformen, Redewendungen sogar, – lauter Dingen, die wir, aus kleinen Verhältnissen, auch wohl mit der Zeit lernen, aber wie eine fremde Sprache, die man geläufig und doch nicht vollkommen, nicht mit der rechten Eleganz spricht. Und was die Aehnlichkeit mit Ihrem Fräulein Tochter betrifft – es scheint ja nun freilich posthume Weisheit; aber ich kann Sie versichern, es frappierte mich, als ich Sie zum erstenmal nebeneinander sah. Im Ansatz der Nase an die Stirn, im Schnitt der Augen, mehr noch im Blick ist eine family likeness höchster Potenz.

Obgleich sie jener Zeit in persönliche Berührung nie gekommen waren, hatte Doktor Brunn doch den Namen des Baron von Alden, als eines der notabelsten Führer des badischen Aufstandes oft genug gehört und seine privaten Verhältnisse wohl gekannt. Dann, als der Baron weder in der Schweiz, noch in England und später in Amerika auftauchte, hatte er mit den andern Flüchtlingen angenommen, daß derselbe entweder noch in einem der kläglichen Guerillagefechte im Schwarzwald, oder wenigstens bald darauf in der Verbannung sein ruhmloses Ende gefunden. Man hatte von dem excentrischen Grandseigneur, der materiell der Verwirklichung seiner Ideen mehr geopfert als vielleicht sämtliche übrigen Flüchtlinge zusammengenommen, in den Konventikeln der Vertriebenen noch hin und wieder gesprochen. Dann war es stumm über ihn geworden, wie das Grab, in welchem mit seinen Aspirationen so viele Hoffnungen und Entwürfe einst feuriger Herzen und gährender Gehirne moderten.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die beiden Männer, die einst Kampfgenossen gewesen waren, um später gleichzeitig das Brot der Verbannung zu essen, erst mit einer gewissen Scheu, dann, je näher sie sich traten, mit größerem Freimut, zuletzt mit voller Offenheit auf die gemeinschaftlichen Erinnerungen zu sprechen kamen und die Erfahrungen, welche sie drüben gemacht hatten, austauschten. Dabei stellte sich denn eine Gleichartigkeit des Fühlens und Denkens heraus, über die sie sich, die doch von anscheinend identischen Standpunkten ausgegangen waren, um zu so wesentlich andern Resultaten zu gelangen, oft selbst wundern mußten. Sie vereinigten sich, den Widerspruch auszugleichen, in der Ueberzeugung, daß politische Differenzen oft sehr viel weniger das Resultat verschiedener eigentlicher Ueberzeugungen als Sache des Temperaments und Folge der individuellen Lebensbedingungen und Lebensschicksale sind, die sonst gleichgeartete Menschen in dieses oder jenes Lager treiben.

Wie wäre es anders möglich, sagte Doktor Brunn, daß von uns beiden, die ihre Jugendbegeisterung an denselben Philosophen und Dichtern genährt, dieselben Lieder als Studenten mit derselben Inbrunst gesungen haben, und deren alte Herzen noch gleich vibrieren, sobald nur einer dieser geliebten, halbvergessenen Töne anklingt; die wir dann für dasselbe Ideal einer deutschen Republik in den Kampf gezogen sind, der eine ein überzeugter Republikaner geblieben, der andre ein nicht minder überzeugter Royalist geworden ist! Wären Sie, wie ich, als eines armen Dorfkantors Sohn geboren – das zehnte neben neun Geschwistern – und ich, wie Sie, als einziger Nachkomme eines weiland reichsfreien Geschlechts auf einem Baronenschloß, vielleicht stünden Sie heute da, wo ich stehe, und umgekehrt. Sie sind an die wechselvolle Bank der Politik getreten als großer Spieler, der ein Vermögen auf eine Karte setzt, und, wenn das Blatt gegen ihn schlägt, sich grollend für immer zurückzieht. Ich ging auch mit der Hoffnung, ein Ungeheures zu gewinnen, an das Spiel, aber mit kleinen Einsätzen – unter denen bares Geld keine Rolle spielte: mit einem obskuren Namen, den ich, um unbekannt zu bleiben, später gewiß nicht hätte zu verändern brauchen; einer bescheidenen Praxis, die ich mir überall wieder schaffen konnte; und nahm schließlich, als sich die Bank nicht sprengen lassen wollte, mit dem vorlieb, was für das Vaterland bei dem Spiel herauskam, ja, erachtete es als einen großen Gewinn. So gebe ich denn auch jetzt die Hoffnung nicht auf, Sie, Herr Baron, werden, wenn Sie die neudeutschen Zustände erst besser kennen gelernt und sich in dieselben eingelebt haben, den stolzen Bau unsrer Einheit und Macht, wie er jetzt vor einer staunenden und neidvollen Welt prangend dasteht, bewundernd anerkennen, und, was ja dann selbstredend ist, gern beitragen, diejenigen Teile, welche in der Eile vergessen oder meinetwegen auch mißraten sind, hinzuzufügen, oder in Harmonie mit dem übrigen zu bringen.

Smith schüttelte den Kopf.

Mein Haar, sagte er, ist weiß geworden im Herzeleid über meine zertretenen Hoffnungen. Sie haben dasselbe Herzeleid erfahren, und das Ihre ist braun geblieben, kaum daß sich hier und da ein Silberfaden zeigt. Es ist eben Temperamentssache, wie Sie vorhin sagten. Sie sind ein Sanguiniker, und, zu leben und zu hoffen, ist bei Ihnen eines; ich bin ein melancholischer Mensch und lebe so weiter ohne Hoffnung. Ja, offen gestanden, ich kann nicht wohl begreifen, woher Sie selbst trotz Ihres machtvollen Naturells und elastischen Temperaments die Kraft und den Mut hernehmen, Dinge zu ertragen, die Ihnen doch ein Abscheu sein müssen, wie mir, weil sie dem deutschen Wesen, wie wir es geliebt und heilig in uns selbst bewahrt haben, unziemlich, ja diametral entgegengesetzt sind: diesen prahlerischen, säbelrasselnden Chauvinismus; diese Loyalität, die sich Friedrich Wilhelm IV. Wort zum Wahlspruch genommen zu haben scheint, und sich in ihrer byzantinischen Uebertreibung erst recht schön dünkt; diesen krassen Materialismus, der jeder idealen Wallung hohnvoll ein Schnippchen schlägt; dieses Strebertum bei Jung und Alt, dem der Erfolg alles ist, es mögen die Mittel sein, wie sie wollen. Das ist mein Deutschland nicht. »Wenn ihr die ganze Welt gewönnet und nähmet Schaden an eurer Seele, es wäre doch alles nichts nütze.« Ich komme von dem Bibelworte nicht los. Und unter dieser gleißenden Oberfläche grollt und murrt die misera plebis – mit zwiefachem Recht. Daß sie elend ist, wer wagte es zu leugnen? Und soll sie es nicht als einen Hohn empfinden, daß man ihr kaltblütig Entbehrungen ansinnt, die von den Besitzenden auch nicht einer freiwillig auf sich nimmt?

Ich hoffe, erwiderte der Arzt, Großes von einer Sozialpolitik, von der ich weiß, daß sie Bismarck plant, und deren erstes Symptom der jetzt von ihm eröffnete Feldzug gegen das Freihandelssystem ist.

Und ich, entgegnete Smith, denke des Jünglings im Evangelium. Er wäre gern dem Herrn gefolgt; aber der Herr forderte als erste Bedingung, er solle dahingeben all das Seine. Da schlich der Jüngling beschämt von bannen. Denn er war sehr reich.

Mit Ihnen ist nicht zu streiten, sagte Doktor Brunn lächelnd, und nun lassen Sie uns zu unsrem lieben Kranken gehen!

Für den Mangel einer vollen Harmonie der Ansichten, der sich denn doch, trotz des liebevollen Entgegenkommens von beiden Seiten, zwischen ihm und dem ärztlichen Freunde immer wieder herausstellte, fand Smith Entschädigung in dem Gleichklang, in welchem seine und der Tochter Seele, wie zwei wohltemperierte Accorde, mühelos zusammenflossen.

Ich könnte es nicht fassen, wie ich ohne Dich das Leben so lange ertragen habe, sagte er, wenn ich eigentlich nicht immer mit Dir gelebt hätte. Auch in meinen trübsten Lagen – und dann erst recht deutlich – umgab mich ein etwas, das mir das eine Mal ein Duft zu sein schien, wie er dem Seefahrer von blumigen Eilanden, denen er sich nähert, entgegenwehen soll; das andre Mal eine Musik, herniederklingend aus Geisterreichen, die dem irdischen Auge ewig verborgen bleiben. Jetzt spüre ich den Duft nicht mehr, höre die Musik nicht mehr und habe doch in Deiner Gegenwart dieselbe glückselige Empfindung. Da darf ich mich denn nicht wundern, wenn ich manchmal fürchte, Du seiest doch nur ein Traum, wie der Duft und die Musik von ehemals; und der mir entschwinden werde mit Deiner Gestalt, hinter der sich die Thür des Zimmers schließt. Dann ergreift mich eine Unruhe, die nicht eher gestillt ist, als bis ich Dich leibhaftig wieder habe.

Auch ich verspüre diese Unruhe in hohem Grade, sagte Marie, und meine, sie ist die Folge der unsicheren und problematischen Situation, in der wir uns befinden und aus der wir uns nicht lösen können. So müssen wir denn das Unabwendbare still tragen.


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