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Zweites Kapitel.

In dem nächstgelegenenen saalartig großen Raume führte er sie nach einer Ecke, in welcher Sofa, Tisch und Fauteuils schicklich geordnet waren. Er hatte ihr dabei den Arm gereicht, und sie jetzt, als sie zu der Stelle gelangten, mit einer Verbeugung freigegeben, zugleich einen der Fauteuils für sie zum Niedersitzen bequemer zurechtrückend. In Begriff sich ihr gegenüberzusetzen, blieb er, mit einer Hand auf der Lehne, stehen, sie mit einem langen Blick, der trotz seiner Starrheit nichts Beleidigendes hatte, betrachtend, worauf er sich, wie aus einem Traum erwachend, leicht das weiße Haar aus der Stirn strich und nun ebenfalls, als ob er sein Säumnis wieder einbringen müsse, mit einiger Hast und nicht ohne Verlegenheit Platz nahm.

Es war bis dahin kein Wort zwischen den beiden gewechselt worden, und Marie merkte zu ihrem Schrecken, daß sie auch hier wieder den Anfang werde machen müssen, da Herr Smith noch immer schwieg, und die Zeit, die sie von Hause fortbleiben durfte, zu Ende ging, ja bereits zu Ende war. Da sie nicht wußte, ob Herr Smith deutsch verstand, hielt sie es für das geratenste, beim Englischen zu bleiben. Aber sie hatte in dieser Sprache kaum ein paar Worte gesagt, als sie ihr Gegenüber unterbrach:

Wir können uns deutsch unterhalten, liebes Fräulein. Ich bin ein Deutscher und habe meine Muttersprache nicht verlernt, trotzdem ich seitdem – ich meine: seitdem ich drüben war, was eine recht, recht lange Zeit ist, – im ganzen nicht eben viel deutsch gesprochen habe. Ich heiße auch nicht Smith, sondern – jawohl: Schmidt, nur daß amerikanischen Zungen und Ohren der erstere Name bequemer ist. Uebrigens kommt auch nichts darauf an – lassen wir es also bei Smith!

Ob er wohl meinen Namen weiß? dachte Marie, welche sah, daß Herr Schmidt oder Smith während des Sprechens ihre Karte, die er nebenan von Frau Curtis entgegengenommen, alsbald zu einem dünnen Röllchen zusammengedreht hatte, welches er nun zwischen den Fingern bewegte, ohne daß er, soweit sie hatte bemerken können, einen Blick auf dieselbe geworfen. Es kommt auch nichts darauf an, wiederholte sie bei sich seine letzten Worte.

Sie wollte die unterbrochene Rede von neuem – diesmal deutsch – anheben, aber Herr Smith kam ihr zuvor, indem er in demselben gütigen Tone, den er gleich zuerst angeschlagen hatte, fortfuhr:

Ich nehme an, liebes Fräulein, daß Sie sich zu der Stelle einer Gesellschafterin gemeldet haben, welche in diesem Hause vakant und von der es allerdings wünschenswert ist, daß sie sobald wie möglich ausgefüllt wird. Sie haben Frau Curtis gesehen und wissen also, daß sie kein Wort deutsch spricht, auch, wie ich hinzufügen muß, niemals ein einziges lernen wird, da sie zu den Menschen gehört, von denen man wohl sagen kann: sie lernen überhaupt nichts, was nicht in das Maß des ganz allgemeinen und, so zu sagen, instinktiven menschlichen Könnens und Wissens eingeschlossen ist. Nach der Aussage des Dieners möchte ich annehmen, Sie, liebes Fräulein, sind bereits Zeugin einer der tausend Verlegenheiten gewesen, in die Frau Curtis in einem fremden Lande auf Tritt und Schritt geraten muß. Habe ich recht?

In der That, sagte Marie, im stillen verwundert über die Offenherzigkeit, mit der Herr Smith sich über die Gebieterin des Hauses aussprach.

Nun aber, fuhr Herr Smith fort, ist niemand schwerer zu behandeln als erwachsene, sehr unwissende Menschen. Des Kindes Wille ist des Windes Wille, sagt Longfellow in einem schönen Gedicht; aber Kinder sind eben Kinder, und mit dem geringen Nachdruck, den sie ihrem Willen zu geben imstande sind, wird der verständige Erzieher leicht fertig. Hier handelt es sich um Menschen, die längst erzogen sein sollten und, was die Sache, wie in unserm Falle, gar arg macht, für die Ausführung ihres thörichten Wünschens und Wollens infolge ihrer familiären und sozialen Stellung eine gewisse Machtfülle einzusetzen haben. Sie werden sich prüfen müssen, liebes Fräulein, ob Sie für eine so schwierige Aufgabe, wie sie Ihnen hier gestellt wird, über das nötige Quantum von Geduld und Langmut, aber auch von Energie und Festigkeit verfügen.

Ich möchte es wenigstens auf den Versuch ankommen lassen, sagte Marie ausweichend.

Natürlich, erwiderte Herr Smith rasch; und dem Versuch kommt zu gute, daß Sie – was ich nebenbei sehr begreiflich finde – den vorteilhaftesten Eindruck auf die Betreffende gemacht haben. Freilich sind solche Menschen, wie Frau Curtis, das beständige Spiel von Sympathien und Antipathien, nur daß die letzteren stärker zu sein und länger anzuhalten pflegen als die ersteren. Damit wäre ja wohl über Frau Curtis so ziemlich alles Nötige gesagt. Von Herrn Curtis ist nichts zu sagen – ich meine in unserm Falle – weil die Angelegenheit schlechterdings nicht zu seinem Ressort gehört, in welches er denn freilich weder seine Frau noch seine Kinder hineinreden läßt. Also die Kinder! Sie werden in denselben zwei Menschen kennen lernen, die kennen gelernt zu haben sich wohl der Mühe verlohnt. Ich erlaube mir, anzunehmen, es ist Ihnen recht, wenn ich diesen Ausspruch mit ein paar Worten motiviere?

Was könnte mir willkommener sein? sagte Marie eifrig, ohne dabei im mindesten an sich und die Nutzanwendung zu denken, welche sie möglicherweise für ihre Zukunft in diesem Hause aus den Mitteilungen des seltsames Mannes ziehen könnte, vielmehr ganz in das Interesse versunken, das ihr die Charakterskizzen selbst einflößten, und vielleicht noch mehr die eigene Art, in der dieselben gegeben wurden. Wobei sie es denn weiter als etwas Seltsames empfand, daß ihr dieser Fremde, den sie in ihrem Leben nie zuvor gesehen hatte, völlig wie ein längst Bekannter und Vertrauter erschien, oder wie ein Arzt, dem gegenüber die hergebrachte Scheu thöricht wäre, und der seinerseits keine Umstände macht und zu machen braucht. Nur über die Stellung, welche der Mann in diesem Hause einnahm, wäre sie gern klar gewesen; aber auch darüber würde ihr ja wohl der Lauf der Unterhaltung einen Aufschluß bringen.

Bitte! fügte sie hinzu, als Herr Smith, der den Kopf mit dem mächtigen weißen Haar in die feingegliederte Hand gestützt hatte, in schweigsames Nachdenken versinken zu wollen schien. Auch jetzt antwortete er nicht alsbald, sondern erst nach einer weiteren Pause:

Ich denke nämlich, ob ich nicht eigentlich unrecht thue, Sie mit den Charakteren der Menschen, die sie hier finden werden, vorweg bekannt zu machen, und Sie so des Vergnügens zu berauben, welches darin liegt, sich das Sein und Wesen eines Menschen aus seinen Reden und Handlungen allmählich zu abstrahieren. Indessen Sie brauchen kein großes Gewicht auf meine Mitteilungen zu legen. Wenn unser Wissen schon überall Stückwerk ist, so ist es das nirgends mehr, als wo es sich um die Kenntnis der Seelen solcher Menschen handelt, die wir selbst haben formen helfen. Das ist aber für mich, Ralph und Anne Curtis gegenüber, der Fall. Allerdings habe ich Ralph erst kennen gelernt, als er längst aus den Kinderschuhen, in der That beinahe zwanzig war, so daß ich mich nicht sowohl seinen Erzieher und Lehrer, als seinen Freund nennen muß. Aber auch die Einwirkung des Freundes auf den Freund kann ja bedeutend sein, zumal wenn zwischen ihnen eine große Differenz der Jahre stattfindet. Und doch werde ich an diese Differenz bei Ralph und mir kaum jemals erinnert, weil Ralph zu den Menschen gehört, die trotz des himmlischen Feuers, das sie immerdar beseelt, alt auf die Welt kommen: ich meine mit der Sophrosyne des Alters, während ich – aber ich wollte hier nicht von mir sprechen.

Bitte, thun Sie es doch! rief Marie, über den Eifer, mit dem sie es gesagt, errötend; aber die großen blauen Augen des Mannes, von denen ein anfänglicher Schleier ganz verschwunden war, und die sich immer mehr mit einem schönen Glanz belebten, hatten es ihr angethan. Er erwiderte mit einem melancholischen Lächeln:

Dazu würde uns auch später die Zeit bleiben, wenn Sie inzwischen nicht, wie ich fürchte, herausgefunden haben, daß es sich nicht der Mühe verlohnt. Aber freilich, wenn ich von Ralph anfange, finde ich so leicht kein Ende. Also von ihm nur noch, daß die Natur, die ihn sonst so reich bedachte, als dürfe sie dem einen nicht zu viel geben, ihm die derbe Gesundheit des Leibes versagte. Er macht mir manchmal rechte Sorge. Das ist auch der Grund, weshalb ich ihm so zugeredet habe, nach Deutschland zu gehen. Er wollte durchaus nicht ohne mich – meinte, daß ihm ohne mich das Land seiner Sehnsucht doch immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben werde. Als ob ich nicht in dem Deutschland von heute so fremd wäre, so wildfremd – wie sagt doch Goethe?

»Gleich, mit jedem Regengusse,
Aendert sich dein holdes Thal;
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.«

In demselben Flusse! wie schön das gesagt ist und wie grausam wahr! In demselben Flusse! Gewiß, gewiß: man schwimmt nicht zum zweitenmal in demselben Flusse.

Seine klangreiche Stimme zitterte, als er die letzten Worte sprach, und die schlanke Hand, mit der er sich flüchtig über die Augen fuhr, bebte; aber alsbald hatte er die tiefe Erregung bewältigt und sagte, wieder aufschauend, in dem früheren ruhigen gütigen Ton:

So sind wir alten Leute; liebes Fräulein: immer Lober der Vergangenheit, die denn doch auch nicht allewege erfreulich war. Es ist gut, daß Anne mich nicht gehört hat! Sie lebt in der Gegenwart und hat auch alles dazu: Gesundheit, Schönheit, Kraft und, was die Hauptsache, will sagen: die Zusammenfassung und Folge davon ist: den energischsten Willen zum Leben. Ein solcher sehr energischer Wille sieht freilich manchmal einer sehr energischen Selbstsucht zum Verwechseln ähnlich, deren fröhlichem Gedeihen überdies amerikanische Erziehung und Anschauung besonders günstig sind, so daß Sie, liebes Fräulein, Anne gegenüber, fürchte ich, manchmal einen schweren Stand haben werden, trotzdem Sie eigentlich Unedles von ihr nicht zu befürchten brauchen; aber hochgestimmte Seelen werden schon immer durch das verletzt, was nicht schlechtweg edel ist. Meinen Sie nicht, liebes Fräulein?

Die großen blauen Augen waren mit einem freundlich forschenden Blick auf sie geheftet; Marie hatte die volle Ueberzeugung, daß der alte Mann ihr gegenüber gar nichts anderes wollen könne, als ihr Bestes. So erwiderte sie ohne Bangigkeit:

Ich möchte mich keine hochgestimmte Seele nennen, schon deshalb nicht, weil ich gewöhnt bin, was meiner Seele als ein Höchstes und Würdigstes erscheint und als einzig wert, daß man dafür lebe, von meiner Verwandtschaft ganz anders bezeichnet zu hören. Früh habe ich lernen müssen, mich selbst zu vergessen, um die Dienste, welche man von mir forderte, gleichmütig leisten zu können, so daß ich mich, alles in allem, zu der abhängigen Stellung der Gesellschafterin in einem fremden Hause wohl vorbereitet glaube.

Wie alt sind Sie, liebes Fräulein? fragte Herr Smith.

Ich werde in wenigen Monaten neunundzwanzig.

In der That! sagte Herr Smith; ich würde Ihnen höchstens drei- bis vierundzwanzig gegeben haben. Ich vermute, auch Sie gehören, wie Ralph, zu den Menschen, die alt geboren werden und immer jung bleiben.

Ich habe darüber niemals nachgedacht, erwiderte Marie lächelnd; ich kann nur sagen, daß ich mir allerdings manchmal ungebührlich alt und dann wieder ebenso kindisch vorkomme.

Sonderbar! erwiderte Herr Smith: noch erst gestern bediente sich Ralph fast der identischen Worte, um sich zu charakterisieren. Ueberhaupt, je länger ich Sie sprechen höre – es mutet mich wundersam an, wie Heimatglocken, – die Glocken der Kirche meines väterlichen Dorfes, wenn ich an einem Frühlingsmorgen durch die sonntäglich stillen Felder strich – ich war immer ein schlechter Kirchgänger – oder am Rande des Hochwaldes ruhte, oder im Schatten eines Felsens, von dessen bemoostem Hange ein Wässerlein sickerte – ich sollte meinen: auch Sie haben Ihre Kindheit auf dem Lande verlebt?

Nur die allerfrüheste, und ich habe kaum eine Erinnerung daran bewahrt; erwiderte Marie.

Herr Smith hatte seinen Sessel näher an den ihren gerückt und, seine Hand für einen Moment leicht auf ihren Arm legend, sagte er mit dem warmen Blick seiner blauen Augen in ihre Augen:

Möchten Sie mir wohl aus Ihrem Leben einiges mitteilen? Es würde mich sehr interessieren – sehr! Möchten Sie?

Gern, erwiderte Marie, obgleich ich wenig mitzuteilen wüßte, und das Wenige unerfreulich genug ist. Ich habe meinen Vater früh verloren, so früh, daß mir von ihm auch nicht die leiseste Erinnerung geblieben ist. Meine Mutter, die durch den Tod meines Vaters zu einem großen Vermögen gekommen war, heiratete nicht eben lange darauf zum zweitenmale. Aus dieser Ehe sind in rascher Folge vier Kinder entsprossen, von denen das älteste, ein Sohn, nur um drei Jahre jünger als ich, und das jüngste, eine Tochter, auch bereits erwachsen ist. Mein Stiefvater ist ein hoher Beamter; und so wäre, was Glücksgüter und gesellschaftliche Stellung betrifft, die Familie wohl zu den bevorzugten zu rechnen. Ich für mein Teil –

Sie stockte ein wenig und fuhr dann mutig fort:

Ich habe mich dieser Vorzüge nur insofern zu erfreuen gehabt, als ich die Bildung genossen habe, welche Mädchen aus diesen Ständen zu teil zu werden pflegt. Daß ich in den Kreis der Familie, wie er sich dann gestaltet hat, nie recht hineinpassen wollte, mich in den Geist derselben nicht eingewöhnen konnte und deshalb, sozusagen, in meinem elterlichen Hause, zwischen meinen Geschwistern, ein Fremdling war und geblieben bin bis auf den heutigen Tag – das hat gewiß zum größten Teil nur eben an mir gelegen; aber ich habe doch viel darunter gelitten. So kam mir schon verhältnismäßig früh der Wunsch, zu versuchen, ob es mir gelingen möchte, in einer anderen Umgebung unter fremden Leuten mir die Liebe zu erwerben, von der ich meinte, daß sie mir in meinem elterlichen Hause nicht würde, und nach der ich doch immerfort ein sehnliches Verlangen trug. Der Ausführung dieses Wunsches wurden von meiner Familie beständig Hindernisse in den Weg gelegt; nur mit Mühe ist es mir gelungen, wenigstens ein Jahr lang in einem unsrer Krankenhäuser, in welchem auch sonst Damen aus den vornehmeren Familien Dienste thun, ein Probejahr durchzumachen; der definitive Eintritt in die Schwesternschaft wurde mir dann doch versagt. Nun aber, da ich mich meinem dreißigsten Jahre nähere, auch meine jüngste Schwester, wie ich bereits erwähnte, meiner Hilfe nicht mehr bedarf, ich mich in meinem elterlichen Hause überflüssig fühle, und es auch, wenn man billig sein will, bin, habe ich gemeint, ich dürfe mir das Recht, über mich selbst zu disponieren und, mir einen passenden Wirkungskreis zu suchen, nicht länger verkümmern lassen. So bin ich auf das Avertissement in den Zeitungen –

Ich habe es selbst abgefaßt, sagte Herr Smith, mit dem Kopfe nickend.

Hierher gekommen, fuhr Marie fort, – ich will Ihnen nur gestehen: ohne daß einer meiner Angehörigen von dem Schritt weiß, und in der Gewißheit meinerseits, nachträglich diesen Schritt von den Meinigen einstimmig und hartnäckig gemißbilligt zu sehen; freilich auch ebenso entschlossen, mich diesmal durch keinen Widerstand an der Ausführung meines Entschlusses hindern zu lassen.

Das junge Mädchen hatte bei den letzten Worten nun doch die Festigkeit, welche sie bis dahin mehr zur Schau getragen, als wirklich besessen, nicht zu bewahren vermocht. Ihre Stimme hatte gebebt; unwillkürlich wischte sie sich mit dem Tuche über die heißen Augen.

Armes Mädchen! murmelte Herr Smith, armes Mädchen!

Es war sehr leise gesprochen worden, aber Marie hatte es doch verstanden, und der schlichte Ausdruck herzlichen Mitgefühls von seiten des fremden Mannes machte ihr eigenes volles Herz überfließen. Weinend drückte sie das Tuch in die Augen und mußte alsbald wieder aufschauen vor einem seltsamen Ton, den Herr Smith ausgestoßen, und der gerade so geklungen hatte, als ob er ihm durch einen heftigen körperlichen Schmerz abgezwungen sei.

In der That bemerkte sie eine große Veränderung in dem Ausdruck seines Gesichtes, welches sehr blaß war und wie von Zuckungen zerrissen, so daß sie jetzt einen wirklich alten Mann vor sich zu sehen glaubte.

Ihnen ist nicht wohl! rief sie, sich rasch erhebend und die Hände nach ihm ausstreckend, die er, in seinen Sessel zurücksinkend, ergriff und festhielt, so daß sie, seiner Bewegung folgend, sich über ihn beugen mußte. In dieser wunderlichen Situation, er halbgebrochenen Auges zu ihr aufstarrend, sie mitleidsvoll auf ihn herabblickend, verharrten sie lange genug, daß Marie Zeit fand, ihre Frage und ob sie irgend etwas für ihn thun könne, mehrmals zu wiederholen.

Nein, nein, murmelte er endlich; es wird gleich vorüber sein – gleich! Aengstigen Sie sich nicht, liebes Fräulein; so etwas hält bei mir nicht lange an, wenn ich Sie freilich jetzt bitten muß – und nicht wahr? der Name da auf der Karte – das ist Ihr Name?

Marie folgte der Richtung seines Blickes, der auf die Karte geheftet war, die jetzt, aufgerollt, etwas seitwärts von ihnen auf dem Teppich lag und vorhin, als der Anfall kam, seinen zitternden Fingern entglitten sein mochte.

Ja, sagte Marie.

Und der Name Ihres Stiefvaters?

Geheimrat von Ilicius.

Ah!

Marie war in der größten Verlegenheit. Herr Smith, der noch immer ihre Hände festhielt, litt augenscheinlich auf das heftigste. Sie hätte gern jemand herbeigerufen, aber wie sollte sie das in dem fremden Hause anfangen? Jedenfalls mußte sie diese Unterredung, welche der alte Mann trotz seiner Schmerzen fortsetzen zu wollen schien, auf der Stelle abbrechen. Sie bat Herrn Smith, ihr das zu erlauben, hinzufügend, daß sie morgen wieder vorfragen wolle, um dann hoffentlich auch Miß Anne zu sehen, von der, wie sie verstanden zu haben glaube, die Entscheidung abhänge.

Ja, ja, sagte Herr Smith, thun Sie das! Oder nein, thun Sie es lieber nicht! Kommen Sie nicht, bis ich mit Anne gesprochen habe und Ihnen Nachricht senden und eine Stunde bestimmen kann, damit Sie nicht wieder vergeblich sich bemühen! Leben Sie wohl! leben Sie recht, recht wohl!

Er hatte ihre Hände wiederholt gedrückt. Nun ließ er dieselben los und richtete sich auf – nicht ohne Anstrengung. Doch schien er seine Kraft wiederzufinden, als er sie durch den Saal zu der Ausgangsthür nach dem letzten Vorzimmer begleitete, diesmal, ohne ihr den Arm zu reichen. Vor der Thür blieb er stehen und sagte in einem hastigen, fast ängstlichen Tone:

Ich nehme an, daß Sie die Ihren, wie Sie ohne deren Wissen diesen Schritt gethan haben, auch von dem vorläufigen Ausgang desselben nicht unterrichten werden?

Ich habe keine Veranlassung dazu, um so weniger als ja eigentlich noch nichts entschieden ist; erwiderte Marie.

Freilich, sagte Herr Smith, freilich! Ich muß ja zuvor mit Anne sprechen! Dann schreibe ich Ihnen – heute noch. Sie wohnen doch hier in Berlin?

Gewiß; erwiderte Marie, Straße und Hausnummer der Wohnung ihres Stiefvaters hinzufügend.

Gut, gut! also heute noch! Und nochmals: leben Sie wohl! recht, recht wohl!

Er hatte ihr die Thür geöffnet und, als sie sich jetzt zum Abschied verneigte, abermals ihre beiden Hände ergriffen und heftig gedrückt. Als die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, hörte sie deutlich einen Laut, der halb wie ein Stöhnen und halb wie ein Schluchzen klang.


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