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Zehntes Kapitel.

Hartmut war, als er die Tapetenthür hinter sich zugezogen, auf dem Korridor stehen geblieben, einen Entschluß in seiner Seele wälzend, mit dem er sich schon lange getragen, und dessen Unaufschiebbarkeit die Unterredung, von welcher er eben kam, ihm bewiesen hatte. Er mußte die Scheu, die ihn von Smith noch immer fern gehalten, überwinden; mußte wenigstens den Versuch machen, die Gunst des einflußreichen Mannes zu erwerben, ihn zu seinen Interessen hinüber zu ziehen, durch ihn auf Anne zu wirken, gegen deren Ueberspanntheit er selbst machtlos war, die aber doch vielleicht auf den alten Freund und Lehrer hören würde. Schlug der Versuch fehl – nun, dann blieb freilich nur das letzte: die Sache hier aufzugeben und zu Herbert überzugehen. Aber das konnte auch eben nur das letzte sein.

Als hätte er sie gerufen, kam die Austin die Seitentreppe, auf welcher man zu Ralphs Gemächern im oberen Stock gelangte, herab. Eine kurze geflüsterte Unterredung folgte, worauf die Alte die Treppe wieder hinaufging; er aber in sein zu ebener Erde gelegenes Zimmer huschte, dort schnell den Gesellschaftsanzug mit einem andren vertauschte, aus seinem Pult ein paar Papiere nahm, die er zu sich steckte, dann wieder über den Korridor, die Seitentreppe hinauf eilte, wo ihn die Austin erwartete.

Er ist in seinem Zimmer und will Sie empfangen, flüsterte die Alte. Aber ich sage nochmals: Sie geben sich vergebliche Mühe. Der läßt nicht mit sich handeln.

Gleichviel! murmelte Hartmut.

Dann sehen Sie sich wenigstens vor!

Seien Sie ohne Sorge!

Die Alte schlürfte davon; Hartmut ging auf den Fußspitzen den oberen Korridor entlang bis zu Smiths Thür, an die er vorsichtig klopfte, um dann auf ein leises Herein!, das von drinnen ertönte, das Zimmer zu betreten.

Eine Lampe brannte auf dem Arbeitstisch, an welchem Smith stand, dem seltsamen Besuch mit großen, stillen Augen entgegensehend.

Sie haben mich zu sprechen gewünscht? sagte er.

Zu dienen, Herr Baron; erwiderte Hartmut, sich verbeugend.

Ich bitte, es bei dem Namen zu belassen, unter welchem Sie mich kennen gelernt haben; sagte Smith.

Das ist ein schlimmer Anfang, dachte Hartmut, indem er sich abermals, zustimmend, verbeugte; und dann, einer Handbewegung des Mannes folgend, auf einem Sessel Platz nahm, während auch jener sich an dem Arbeitstische, ihm zugewandt, niederließ.

Die Veranlassung, die Sie zu mir führt?

Die nächste, erwiderte Hartmut, Ihnen diese Briefe von Ihrer Hand zu überreichen. Sie sind, soweit ich habe sehen können, sämtlich an meinen Vater gerichtet. Ich fand sie an demselben Orte, an welchem ich auch Ihr Bild fand, welches ich seiner Zeit Ihrem Fräulein Tochter zu überreichen mir erlaubte.

Er hatte ein kleines Bündel Briefe aus der Tasche genommen, welches Smith entgegennahm und hinter sich auf den Tisch legte, ohne es weiter anzusehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, sagte er, wie man für jede Aufmerksamkeit zu danken hat. Daß ich Freude empfinden sollte bei dieser Reminiscenz einer Vergangenheit, mit der ich ein für allemal abgerechnet habe, werden Sie nicht verlangen. Darf ich fragen, ob Sie noch sonst eine Veranlassung hatten, diese Zusammenkunft zu wünschen?

Hol Dich der Teufel mit Deinen vornehmen Faxen! dachte Hartmut. Und laut sagte er in einem Ton, den er schmerzlich zu machen suchte:

Verzeihen Sie mir, wenn ich auf diese Frage nicht gefaßt war! Ich hatte geglaubt, Sie würden sich in meine Lage zu versetzen wissen; Sie würden einige Sympathie für diese meine Lage haben. Ich komme in dieses Haus, mich durch die Annahme einer ausgeschriebenen Stelle vor dem Hungertode, der mir drohte, zu schützen. Ich sehe mich hier, wo ich für ein paar Monate Ruhe von der Unrast, die mich sonst umtreibt, zu finden hoffte, in die sonderbarsten, kaum glaublichen Verhältnisse versetzt. Da ist meine Familie, die mich von sich gestoßen hatte, und der ich mich, – Gott weiß, mit welchem Widerwillen! – nun wieder nähern mußte. Da ist eine fremde Familie, deren Mitglieder ohne Ausnahme mein innigstes Interesse hervorrufen, deren Wohl und Wehe ich zu dem meinen bereits gemacht hatte, bevor – mir stockt das Wort im Munde; aber, wie kann ich, wollte ich hier abbrechen, Ihnen sagen: warum ich hier bin? – bevor eines dieser Mitglieder mein Fühlen, Denken, mein Herz, mein Sein, mein alles im Sturm für sich gewann, für sich in Anspruch nahm, da das, was ich nicht zu hoffen, kaum zu denken wagte, nun doch Wirklichkeit wurde: sie mich liebte, wie ich sie. – Und Sie können fragen: ob ich noch sonst eine Veranlassung habe, diese Zusammenkunft zu wünschen! Aber ich weiß, woher Sie diese kühle Reserve nehmen! Aus dem Mißtrauen, mit dem man Sie gegen mich erfüllt hat, und dem Sie nun Folge geben, ohne den, welchen Sie verdammen, auch nur ein einziges Mal gehört zu haben! Da sehe ich denn freilich, daß ich besser gethan hätte, mir diese Beschämung zu ersparen. Verzeihen Sie die Belästigung!

Er that, als ob er sich erheben wollte, ließ sich aber bereitwillig wieder in den Sessel sinken, als Smith mit einer lebhaften Handbewegung hastig sagte:

Bleiben Sie! Ich bitte!

Und dann nach einer kurzen Pause, während derer er sich wiederholt nachdenklich über Stirn und Augen gestrichen hatte:

Sie haben recht! Verzeihen Sie mir! Aber Sie irren, wenn Sie glauben, daß Ihnen meine Tochter eine Anklägerin gewesen ist.

Ich habe das nicht gesagt; erwiderte Hartmut schnell; nur von dem Mißtrauen gesprochen, mit dem Fräulein Marie gegen mich erfüllt ist und Sie erfüllt hat. Von Fräulein Marie finde ich das begreiflich, verzeihlich. Edeldenkend, wie sie ist, sie ist ein Weib, kann sich nicht vorstellen, daß die identische Lage, in der wir uns befanden – beide Ausgestoßene ihrer Familien – bei dem Manne ganz andere Folgen haben, zu ganz anderen Konsequenzen führen mußte. Aber wann hätte je ein Mann den passiven Duldungsmut des Weibes gehabt? Jedenfalls hatte ich ihn nicht. In dem individuellen Unrecht, das man an mir verübte, erkannte ich bald das allgemeine Unrecht, das in dem Staate, wie in der Familie, die Obmacht hat. Ich nahm den Kampf auf mit diesem Unrecht. Daß der junge, leidenschaftliche, unberatene Mensch seine Seele aus dem ungleichen Kampfe nicht rein zurückgezogen hat; er die Wut, mit der ihn seine Ohnmacht erfüllte, zeitweise gegen sich selbst richtete; die Verzweiflung an der Verwirklichung der Welt, die er hatte aufbauen wollen, gelegentlich zur Verzweiflung an sich selbst wurde, und er dann weit abirrte von den breiten Tugendpfaden, auf denen die Menschen, welche niemals kämpften und niemals litten, mühelos einherziehen – mein Gott, ich sollte denken, ein Mann, wie Sie, müßte das verstehen. Nur verstehen! Mehr verlange ich nicht. Denn dann wird sich – nicht meine Unschuld herausstellen, auf die ich keinen Anspruch mache; aber: wie ich mich in Schuld verstricken konnte, verstricken mußte. Und dann, zweifle ich nicht, wird man mir auch die Hand reichen, mich von dieser Schuld, soweit sie noch an mir haftet, zu lösen.

Hier haben Sie meine Hand! sagte Smith.

Er hatte plötzlich das gesenkte Haupt erhoben und die Rechte Hartmut weit entgegengestreckt. Hartmut seinerseits beeilte sich, die feine Hand zu ergreifen und enthusiastisch zu drücken, heimlich triumphierend über einen Sieg, den er sich so leicht nicht gedacht hatte. Nur die großen blauen Augen, in die er jetzt blicken mußte, genierten ihn. Die Augen glänzten so. Dann aber sagte er sich: es ist ein dummes Licht, das nur sich selbst leuchtet und von der Welt nicht mehr sieht, als ein paar Kinderaugen.

Ich danke Ihnen; murmelte er, die schlanke Hand nach einem letzten kräftigen Drucke loslassend.

Wofür? erwiderte Smith. Davor sei Gott, daß ich in pharisäischer Selbstgerechtigkeit die Hand des irrenden Bruders zurückwiese: des jüngeren Bruders, und der sich selbst zu seinem Irrtum bekennt! Wer bin ich, daß ich das dürfte! Ja, ich schäme mich jetzt des Mißtrauens, mit dem ich dem Sohne des Mannes begegnet bin, der so verhängnisvoll in mein Leben eingriff, nachdem er zum Verräter an der Sache geworden war, der wir uns als Jünglinge angelobt hatten. Als ob Sie nicht, wie Ihres treulosen Vaters, so Ihrer guten, bis in den Tod getreuen Mutter Sohn gewesen wären! Als ob der Mutter Segen nicht tausendfach wieder gutmachen könnte, was des Vaters Fluch an Ihnen gesündigt! Aber lassen wir das Vergangene vergangen sein! Nur wer den Augenblick ergreift, sagt der Dichter, ist der rechte Mann. Freilich treffen Sie mich augenblicklich in schwerer Verdüsterung des Gemütes. Es geht meinem lieben Ralph heute wieder einmal sehr schlecht. Ich fange an zu fürchten, daß wir uns auf ein schlimmes Ende gefaßt machen müssen, obgleich ich mich sorgsam hüte, meine arme Tochter etwas davon merken zu lassen. Reden wir von Ihnen! Sie lieben Anne –

Mehr als mein Leben! rief Hartmut feurig.

Eine andre Liebe würde ihr auch nicht genügen, fuhr Smith mit bestätigendem Nicken fort; und eine andre Liebe würde auch, wie die Verhältnisse liegen, gar bald ihre Ohnmacht eingestehen müssen. Denn das haben Sie sich doch klar gemacht, daß Sie Annes Hand mit Einwilligung ihres Vaters nie erhalten werden?

Ich bin wenigstens darauf gefaßt; erwiderte Hartmut, ohne die Augen niederzuschlagen.

Sie müssen es sein; sagte Smith. Jene Gier nach Besitz, die jetzt in dem einst so bescheidenen Deutschland wie ein fressend Feuer um sich greift, hat in Amerika, wo ihr die großen Raumverhältnisse, die Breite der allgemeinen Lebensbedingungen, die kaum eingeschränkte Freiheit des Individuums einen ungeheuren Stoff bot, schon längst ihre wüstesten Orgien gefeiert. Mister Curtis ist der wahre Typ dieser rücksichts- und schamlosen Selbstsucht, die, wenn es so fortginge, – was Gott verhüten wolle! – die Signatur der ganzen modernen Menschheit werden würde. Ihm ist schlechterdings nichts heilig. Gut ist ihm, was ihm seinen Besitz mehren und befestigen hilft; schlecht, was ihm den Besitz verringert, oder bedroht. So wütet er, einer losgelassenen wilden Bestie gleich, gegen die Menschheit, aber glücklicherweise auch gegen sich selbst, wie denn die Natur die Uebel, die sie sich schafft, durch ein ihnen eingepflanztes selbstmörderisches Moment zu paralysieren strebt. In seiner maßlosen Gier übersieht, oder mißachtet er nicht selten die passive Widerstandskraft seiner Opfer, oder die aktive Gegnerschaft des andren Raubzeuges und unterliegt in dem so entbrannten Kampfe. Er ist schon mehrmals in seinem Leben heute ein vielfacher Millionär gewesen, um morgen um ein paar Dollars in Verlegenheit zu sein. Ich bescheide mich gern, seine wirklichen Verhältnisse zu kennen; aber ich glaube, daß auch dieser sein Aufenthalt in Deutschland nur ein Beutezug ist, der ihn für Verluste, die er in Amerika erlitten hat, schadlos halten soll. Bräche aber eine Katastrophe herein, so sind für Anne nur zwei Fälle möglich. Entweder sie steht zu dem Vater, hilft ihm die Katastrophe überwinden – sagen wir durch eine Millionenheirat – wie ich denn weiß, daß ein New-Yorker überreicher junger Mann sie leidenschaftlich begehrt; – oder sie thut es nicht – wie ich überzeugt bin, daß sie es nicht thun, sondern die Gelegenheit benutzen wird, sich die Freiheit zu erringen, nach der ihre enthusiastische Seele schmachtet. Im letzteren, mir gewissen Falle steht eines fest: er wird die Tochter aus dem Buche seines Lebens mit derselben Kaltblütigkeit streichen, mit der er früher einen Eindringling in sein Jagd- und Raubgebiet niederschoß. Ich nehme an: das alles haben Sie sich klar gemacht; darüber sind Sie auch mit Anne einig. Und Sie kommen nun, im Einverständnis mit Anne, zu mir, als Waffenbruder, möchte ich sagen, in dem Kampfe des Idealismus gegen eine Welt, die jenseits und diesseits des Ozeans in wüstem Materialismus schon versunken ist, oder zu versinken droht.

Dies wird immer besser, sprach Hartmut bei sich, und laut sagte er:

Sie haben mir jedes Wort aus der Seele gesprochen, soweit es die Gesinnung betrifft, welche den erfüllen muß, den ein Mann, wie Sie, der Waffenbrüderschaft würdigt. Ich darf mit erhobener Stirn versichern: nie habe ich für mich selbst einen weltlichen Vorteil erstrebt. In diesem Punkte habe ich die Keckheit, selbst hinter Ihnen nicht zurückzustehen. In einem andren unterscheiden wir uns doch; unterscheide ich mich von Anne, die auch hier, wie überall, sich als Ihre Schülerin bewährt. Ich weiß, daß ich Ihnen gegenüber ganz offen sprechen darf, und so sage ich: nach meiner Einsicht und Ueberzeugung hat nie und nirgends der Idealismus im Kampfe mit dem Materialismus eine Chance gehabt, verschmähte er die Waffen, deren jener sich bedient. Macht geht vor Recht, heißt die Losung aller Zeit; genauer: wer die Macht hat, kann diktieren, was Recht sein soll, Recht ist. An diesem Fundamentalgesetz kann der Wille des Einzelnen nichts ändern; wir müssen es nehmen, wie es ist. Und da scheue ich mich nicht zu sagen: ist nun einmal, wie die Dinge liegen, heutzutage Gold die Macht, so wünsche ich, muß ich im Interesse der großen und guten Sache wünschen, daß die Macht, also das Gold, auf unsrer Seite sei. Auch das Gold von Mister Curtis. Ich halte seine Lage keineswegs für so mißlich, geschweige denn für verzweifelt. Ich weiß, daß er sein Geschäft hier mit einer runden Million abschließen wird. Das ist für einen kühnen Fuß, wie der seine, ein breiter stepping-stone zu einer zweiten, dritten Million. Geben Sie mir diese Millionen, und ich will die Welt aus den argen Angeln heben, in denen sie jetzt schwebt! Braucht denn der Mann zu wissen, wofür er seine Schätze zusammenrafft? Ja, ist es nicht eines jener Mittel, mit denen, wie Sie vorhin so richtig sagten, die geängstete Natur sich selbst hilft: daß das Laster sich mästen muß, auf daß die Tugend nicht zu darben brauche? Von diesem, nur von diesem Standpunkte erscheint mir der Verzicht Annes und Ralphs auf das väterliche Vermögen als eine Thorheit, ja, als ein Verbrechen. Von diesem Standpunkte habe ich Annes Bruch mit ihrem Vater zu verhindern gesucht und bis jetzt verhindert. Aber ich zweifle, daß mir das auf die Dauer möglich sein wird, es sei denn, daß es mir gelingt, Sie, dessen Autorität sie unbedingt folgen wird, von der Richtigkeit meiner Ansichten zu überzeugen. Ich verlange nicht, daß mir das jetzt, mit einem Schlage, gelungen sein soll. Ich habe ja nur in allgemeinen Andeutungen sprechen, die Pläne, mit denen ich mich trage, nicht im einzelnen entwickeln können. Ich bitte, mir zu einer andren gelegeneren Stunde diese Gunst gewähren zu wollen. Sie werden dann, denke ich, erkennen, daß, wie mein Herz für die große Sache glüht, und ich entschlossen bin, mit meinem Leben für sie einzustehen, ich auch meinen Kopf nicht habe müßig sein lassen und, wie das Ziel, so auch den Weg deutlich sehe, auf dem einzig und allein dahin zu gelangen ist.

Er war schnell aufgestanden; langsamer erhob sich Smith. Auf seinem Gesicht lag eine tiefe Traurigkeit, und so auch in dem Ton der Stimme, als er jetzt erwiderte:

Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und will gewiß jede Gelegenheit wahrnehmen, mich mit Ihnen zu verständigen; aber es hieße Ihr Vertrauen schlecht erwidern, wollte ich Ihnen verhehlen: ich zweifle, daß wir uns jemals verstehen werden. Alles, was Sie gesagt haben, beweist mir nur zum andren Male die tiefklaffende Differenz zwischen der Denkweise der Menschen von heute und der Generation, zu der ich gehöre. Was Sie wollen, ist doch wieder, was heute alle Welt und auch Anne will, – die in diesem Punkte gar nicht meine Schülerin, sondern völlig das Kind ihrer Zeit und Ihre Gesinnungsgenossin ist: Erfolg um jeden Preis. Darin unterscheiden Sie sich – wie anders auch das dargebotene Bild erscheinen mag – in nichts von dem reaktionären Junker, wie Ihr Stiefbruder Herbert; dem habgierigen Kaufmann, wie James Curtis; dem herrschsüchtigen Priester, der jetzt, aller Orten, dem Zuge der Zeit folgend, kecker als seit Jahrhunderten das Haupt erhebt. Der Königsmörder selbst, falls er sich etwas bei seiner greulichen That denkt und nicht bereits dem Wahnsinn verfallen ist, was will er anders als den Erfolg seiner Sache um jeden Preis? Aber wäre die Sache noch so gut: mit unheiligen Mitteln entwertet man die beste, erreicht man heilige Ziele nie, weil, wer sie anwendet, indem er sie anwendet, moralisch geschädigt wird, also daß er das einst erstrebte Gute gar nicht mehr ehrlich und kräftig wollen kann. Sie sagen: der Idealismus, der sich nicht der Waffen des Materialismus bemächtigt, wird immer unterliegen. Das steht ja jetzt in tausend Büchern zu lesen, und ist vergiftend in das Mark des Volkes gedrungen, das nach der bösen Lehre thut aus allen Kräften. Ich aber sage: nein und tausendmal nein! der Idealismus kann nur siegen mit seinen eignen reinen Waffen. Der Sieg, den er mit andern erkämpft, ist nur ein Scheinsieg; in Wirklichkeit hat immer wieder nur der Materialismus gesiegt, wenn auch unter andrem Namen. Ich habe bereits zweimal für meine Freiheitsideale das Schwert gezogen. Dennoch sage ich: mit dem Schwerte wird nichts bewiesen; mit dem Schwerte wird nichts geschaffen, was nicht ein andres Schwert wieder vernichten könnte. Ewiges, Unvergängliches schafft nur die stille Kraft der Vernunft, vor der allein die Tyrannei zittern würde, wenn sie eine Ahnung ihrer Unwiderstehlichkeit hätte. Vor euren Anarchisten braucht sie nicht zu zittern: sie wird stets die Menge für sich haben, die mit Recht dafür hält, daß der ungeordneten Gewaltsherrschaft die geordnete vorzuziehen ist. Und auch eure Sozialdemokraten vergessen immer wieder, daß der Kommunismus der ersten Christen aus der Nächstenliebe hervorging, die Nächstenliebe aber nicht aus dem Kommunismus hervorgehen kann. Dabei scheint denn das Kommen des Reiches Gottes auf Erden in unabsehbare Ferne gerückt; dennoch bin ich guten Mutes. Das Himmelslicht, das in Christi erhabenem Herzen aufgeleuchtet ist, mag durch den Stumpfsinn und die Bosheit der Menschen noch so sehr verdunkelt werden, – erlöschen wird es nimmer wieder. Heller und heller wird es erglänzen und, wie die Frühlingssonne zuletzt in die verborgensten Thale und fernste Schluchten dringt, die härtesten und rohesten Herzen schmelzen und sittigen. Sie wollen reich sein, um die Uebermacht des Kapitals – den Fluch, der auf dem Golde liegt – zu vernichten. Ich war einst reich und danke Gott, daß ich die Last nicht zu spät los wurde; und danke abermals Gott, daß meine Tochter denkt, wie ich, und nun ihrerseits, was noch von dem Fluche an ihr haftet, von sich abthun will, indem sie freiwillig auf ihren Anteil an dem Iliciusschen Vermögen verzichtet. Nein, mein junger Freund, greifen Sie zu dem Schwerte, wenn es denn sein muß: auch die blutige Hand kann wieder rein werden. Aber wollen Sie nicht im Golde wühlen: es ist noch niemand gewesen, der seine Hand von dem Schmutze, der daran klebt, je wieder rein gewaschen hätte. Denken Sie an Ihren unglücklichen Vater! Ueben Sie an ihm für das, was er um des schnöden Mammons willen gegen Ihre arme Mutter, gegen Sie selbst gesündigt; an Ihren Geschwistern, welche sich von Ihnen losgesagt haben, wie von Joseph seine Brüder – üben Sie die edelste Rache: lehren Sie, soviel in Ihrer Macht, durch Ihr Wort, durch Ihr Beispiel die Menschheit von heute, die unter dem neuen Pharao der Erfolganbetung nichts von Joseph wissen will, Joseph wieder kennen: den gotterfüllten, milddenkenden, segenspendenden! Sie, dem so viel gegeben ward, und von dem nun auch viel, von dem das Höchste gefordert wird!

Er hatte Hartmut beide Hände entgegengestreckt, über die sich dieser, sie ergreifend, neigte – wortlos, als versage ihm vor Ergriffenheit die Stimme.

Und so, wortlos, verließ er das Zimmer, sich, bevor er den Thürgriff faßte, mit einem Laut, der wie ein Schluchzen klang, über die Augen fahrend.

Draußen, auf dem Korridor, reckte er sich wie jemand, der längere Zeit sehr unbequem gesessen hat, drehte sich nach der Thür, die er eben hinter sich geschlossen, um und sagte leise durch die Zähne:

Sie wissen wohl nicht, mein Lieber, daß Sie heil verrückt sind?

Dann ging er langsam den Korridor hinab, im Geiste bereits bei der Zusammenkunft mit Herbert. Was blieb ihm sonst? Der Ritt über den See hatte sich als ein Tollhausstück erwiesen. Anstatt des Feenpalastes, den er am andren Ufer bei den Curtis zu finden gehofft, würde ihn bei den Ilicius günstigsten Falls ein mäßiges Wirtshaus aufnehmen mit einem nichts weniger als übermilden Wirt. Ein karger Lohn so verzweifelter Mühen! Aber besser doch noch immer, ein Fußbreit staubtrockenen realen Bodens unter sich zu haben, als hier in diesem abgrundlosen Sumpf idealen Blödsinns zu versinken!

 

Ende des dritten Buches.


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