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Als Smith am Morgen des nächsten Tages Ralph den gewohnten Besuch abstattete, fand er denselben noch im Bett und fieberhaft. Ralph wollte das letztere in Abrede stellen, mußte dann aber zugestehen, daß er sich gestern auf dem Ball zu viel zugemutet und eine schlechte Nacht verbracht habe. Smith bestand darauf: es mußte nach dem Arzt geschickt werden. Doktor Brunn war nicht mehr zu Hause gewesen: seit zehn Uhr auf seiner Praxis, gegen zwölf im Reichstag; dort werde ihn die Botschaft sicher treffen. Ralph wollte von Smiths Vorschlag, einen andern Arzt herbeizuholen, nichts wissen: er habe vollkommenes Vertrauen zu Doktor Brunn, dem ersten, von dem er überzeugt sei, daß er seinen Zustand richtig erkannt habe; überdies befinde er sich bereits wesentlich besser. Smith mußte sich in Geduld fassen und seinen jungen Freund auf dessen Bitte allein lassen, damit er den in der Nacht vermißten Schlaf nachholen könne. Darüber war die Mittagsstunde herangekommen; Ralph war aufgestanden und konnte den Doktor, als er nun eintraf, in seinem Arbeitszimmer empfangen: allein, da Herr Curtis kurz vorher Smith in sein Kabinett hatte bitten lassen.
Doktor Brunn hatte seinen Patienten eingehend untersucht und sich dann an den Tisch gesetzt, ein Rezept zu schreiben. Jetzt war er mit demselben fertig, wandte sich in dem Stuhl zu Ralph, der auf dem Sofa sitzen geblieben war, und sagte mit seiner sonoren Stimme:
So! davon nehmen Sie alle Stunden einen Eßlöffel! und halten sich den Tag über ruhig in Ihrem Zimmer – auf dem Sofa, meinetwegen auch im Bett, wenn Sie das vorziehen! Weiter ist für den Augenblick nichts zu thun.
Für den Augenblick! erwiderte Ralph. Und später?
Darüber sprechen wir in Zukunft ausführlich; sagte der Arzt.
Verzeihen Sie meine Indiskretion, fuhr Ralph fort; mir sind heute nacht allerlei seltsame Gedanken gekommen, die sich in der Frage konzentrierten: ob ich überhaupt noch das Recht habe, von einer Zukunft zu reden, Zukunftspläne zu fassen wie andre Menschen. Sie wissen ja: in einer schlaflosen Nacht erscheint einem ein derartiger Skrupel von unabweislicher, ich möchte sagen: wesenhafter Dringlichkeit. Das zittert jetzt noch in mir nach so stark, daß ich Ihnen für ein ganz einfaches Ja oder Nein aufrichtig dankbar wäre.
Doktor Brunn hatte den Hut, welchen er vorhin zur Hand genommen, wieder auf den Tisch gesetzt und sagte nach einer kurzen Pause, die lebhaften braunen Augen freundlich auf den Kranken richtend:
Dergleichen Interpellationen werden nicht selten an uns gerichtet, und wir dürfen sie ausweichend, wie nur irgend ein in die Enge getriebener Minister, beantworten, weil es den Fragern meistens gar kein rechter Ernst mit der Frage ist, das heißt: sie im Ernstfalle, im schlimmen Falle, die Wahrheit weder vernehmen möchten, noch ertragen könnten. Sie gehören nicht zu der Kategorie dieser verschämten Absolutionssüchtigen; und ich halte es nicht für unmöglich, daß ich Ihnen die Wahrheit sagen würde, wenn – ja, sehen Sie, lieber Mister Curtis, Ihr Fall liegt so einfach nicht; ist im Gegenteil ein sehr komplizierter, der diese oder jene oder eine dritte Wendung nehmen kann – je nachdem. Ich hatte überdies noch zu wenig Zeit und Gelegenheit, Sie zu beobachten, wenn ich auch, Ihnen gegenüber, vor meinen deutschen Kollegen den Vorsprung eines langjährigen Aufenthaltes in Amerika habe und einer ziemlich eingehenden Kenntnis der amerikanischen Konstitution – ich meine jetzt nicht: der politischen, sondern der physischen: der amerikanischen Lebensweise, des sozialen Milieu, in welchen Ihr New-Yorker der gutsituierten Kreise lebt und so weiter, was alles bei einem solchen Falle in starke Mitrechnung kommt, wobei ich immer von der Voraussetzung ausgehe, daß Ihr Aufenthalt hier in Deutschland nur ein temporärer ist.
Ralph hatte durchaus die Empfindung, daß der kluge Mann, trotz des ruhig zuversichtlichen Tones, in welchem er gesprochen, ihm nur auf seine vorherige Frage habe ausweichen wollen. Er sagte deshalb, um jenem den Rückzug zu decken, mit freundlichem Lächeln:
Das ist der Arzt, der auch durch die Schule des Lebens: des sozialen und politischen, gegangen ist!
Wenn Sie so wollen, erwiderte Doktor Brunn lebhaft. Und, offen gestanden, ich begreife manchmal nicht, wie meine Herren Kollegen, die es in besagter Schule wirklich oft nur bis zum ABC-Schützentum gebracht haben, mit ihren Aufgaben fertig werden.
Und Sie haben Freude an den jetzigen politischen und sozialen Zuständen – ich meine selbstverständlich: Ihren deutschen, an deren Entwicklung Sie so eifrig mitarbeiten?
Wenigstens sehe ich jetzt voll froher Hoffnung in die Zukunft, erwiderte Doktor Brunn. Und wer, wie ich, um des Vaterlandes Größe, des Vaterlandes Glück seinem Volke zurückzubringen – wie an der Wand der Paulskirche geschrieben stand – gerungen und gelitten – ganz umsonst, wie er sich sagen mußte; lange Jahre dann bei Ihnen drüben das Brot der Verbannung gegessen – mit bitteren Thränen ob der Schmach von Ollmütz und der stupiden Reaktion, die während der fünfziger Jahre auf seinem Volke, das er hatte frei und glücklich machen wollen, lastete zum Hohn und Spott der andern Nationen; – nach über einem Dezennium dann, ein Amnestierter, heimkehrte, sein Volk noch immer unter einem Joch zu finden, das ihm grausamer deuchte als das frühere, und gegen das er sich nun – in der traurigen sogenannten Konfliktszeit – mit aller Kraft stemmte, die ihm innewohnte, bis er endlich erkannte, daß es dem störrischen Volke auferlegt werden mußte, damit es seine in allen Richtungen sich zersplitternde Kraft auf das eine Ziel lenke, das zur Zeit unerreichbar war: die Einheit, die geeinigte Macht eines wahrhaft deutschen Reiches; – wer dann, wie ich, in dem, was nun folgte: dem gewaltigen Kriege mit dem Erbfeind der Nation, nur die furchtbare Konsequenz der großen Idee erblickte, die in herrlichste, unsere kühnsten Träume überflügelnde Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit trat – ich sage, an wessen heller und heller werdenden Blick diese ungeheuren Thatsachen eine nach der andern vorübergezogen sind; wer, wie ich, nachdem er sich beschämt und beglückt von seinem Irrtum abgewandt, mit seinen schwachen Kräften das Gewaltige, das ins Rollen gekommen, hat fördern helfen – wer, sage ich, wollte da zurückschrecken vor den Hemmnissen, die sich der Erreichung des letzten Zieles noch entgegenstemmen? wer sich irremachen lassen durch den Anschein, daß die Last, die wir wälzen, manchmal still zu stehen scheint? wer nicht hoffen, daß unser Volk die machtvolle, ausschlaggebende Stellung, die es sich so glorreich errungen, auch glorreich behaupten wird?
Während Doktor Brunn in dem stillen Krankenzimmer diese Rede hielt, zu der er das Motiv aus der Reichstagssitzung mitgebracht haben mochte, war Smith in das Zimmer getreten, in der Nähe der Thür stehenbleibend, ohne von Doktor Brunn bemerkt zu werden. Wohl aber hatte Ralph ihn gesehen, und sein Blick war wiederholt von dem kraftvollen Gesicht des Doktors, das sich im Sprechen immer feuriger belebte, zu dem milden, bleichen Gesichte des Freundes hinübergeglitten. Das waren denn zwei Typen zweier verschiedener Weltanschauungen, meinte Ralph, und wie sie charakteristischer nicht leicht gefunden werden könnten: hier der Kämpfer, der die Lanze, die er in der Stunde des Unmuts an die Hallenwand gelehnt, längst wieder ergriffen und mutig in dem Streite um ›des Vaterlands Größe und Glück‹ schwang – der andre dort, der auch gekämpft und gelitten und seine Waffen nun verrosten ließ, weil ihm die Größe, die so errungen wurde, nicht die wahre, das Glück, dem man so eifrig nachjagte, nicht das echte schien.
Der Doktor hatte, sich zum Fortgehen wendend, erst jetzt den Eingetretenen bemerkt. Er war bei seinen früheren, nicht eben zahlreichen Besuchen Herrn Smith noch nicht begegnet; hatte aber durch Mister Curtis, dessen Bekanntschaft er bei dem amerikanischen Gesandten gemacht, dann durch Ralph selbst von dem alten Hausfreunde gehört und wenigstens oberflächlich von den Schicksalen desselben. Er wußte also, wen er da vor sich sah; aber die Erscheinung des Mannes schien ihn zu frappieren. Mit dem festen Blick der klugen braunen Augen musterte er ein paar Momente Miene und Gestalt des Fremdlings, der ihm nun von Ralph vorgestellt wurde; reichte ihm dann voll freundlicher Höflichkeit die Hand und sagte:
Ich würde Sie, obgleich ich höre, daß Sie an die dreißig Jahre – viel länger als ich – drüben gewesen sind, sofort und überall als einen Deutschen erkannt haben, fast möchte ich sagen, als einen ›alten Achtundvierziger‹. Da, denke ich, wird Ihnen die Tendenz meiner Diatribe eben, deren Länge die Herren dem alten Parlamentarier nachsehen mögen, mindestens nicht unsympatisch gewesen sein.
Wie sollte sie! erwiderte Herr Smith, schwermütig lächelnd, und hätte ich auch nur an das Wort des Dichters gedacht, das so glücklich des Menschen unverwüstliches Wesen zusammenfaßt: ›Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf.‹
Des Doktors freundliches Gesicht bedeckte plötzlich ein strenger Ernst.
Wie? sagte er mit einem Tone, durch dessen Höflichkeit ein Tadel hindurchklang: erscheint Ihnen das Deutschland von heute ein Grab?
Wenigstens meiner Hoffnungen; erwiderte Smith leise.
Es gibt Hoffnungen, sagte Doktor Brunn, die sich nicht wundern dürfen, wenn sie nicht in Erfüllung gehen.
Und andre, erwiderte Smith, die sich wundern würden, wenn sie in Erfüllung gingen. Die meinen haben leider immer zu der letzteren Kategorie gehört.
Dergleichen man denn füglich den Dichtern überlassen sollte, sagte Doktor Brunn fast heftig; und dann, mit sicherstelliger Kraft in den alten höflich-freundlichen Ton einlenkend: Womit ja nur gesagt ist, daß Sie eben ein Dichter sind, gleichviel ob Sie Ihre Poemata ediert, oder in der Brust verschlossen gehalten haben, als ein ›Stummer des Himmels‹, um mich des schönen Jean Paulschen Wortes zu bedienen. Aber ich muß wahrlich fort, oder ich gerate in den Verdacht, unserm Reichstagspolonius außerhalb des Hauses Konkurrenz machen zu wollen. Auf Wiedersehen morgen, Herr Curtis! Herr Smith, – nichts für ungut!
Er reichte den beiden Männern die Hand und war festen, schnellen Schrittes aus dem Zimmer.