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Die Einladung Maries zu den Curtis war im Iliciusschen Hause mit großer Befriedigung aufgenommen worden. Die Geheimrätin, welche nicht aufgehört hatte, in der so hochgeehrten Tochter ein vornehmstes Werkzeug der Ausführung ihrer Pläne zu sehen, zeigte sich besonders glücklich. Ihr schien es zweifellos, daß, wenn der offizielle Grund der Einladung auch die größere Behaglichkeit sei, welche sich die Curtisschen Damen bei der andauernden Krankheit des Professors von Maries Gegenwart versprachen, der wirkliche Grund ganz wo anders liege: in dem Wunsche der Amerikaner, von ihr zu erfahren, wie man die Ausstattungen Annes und des Professors nach deutschen Begriffen schicklich herzurichten habe. Sie wollte sich enthalten, Marie nach der einen oder der andren Seite besondere Vorschriften zu machen, in ihrer »festen Ueberzeugung«, daß »bei so bewährter Anleitung sich, wie im ganzen, so im einzelnen, Reichtum und Geschmack die Hand bieten würden.« Ada, die bis zu dem Augenblicke, als Marie in den Wagen stieg, welcher sie zu den Curtis abholte, ihre Schmeichelkünste an der Schwester geübt hatte, war mit der Mama vollständig einverstanden. Sie hatte in letzter Zeit den Professor allerdings wenig gesehen; aber da er, wenn sie ihn gesehen, immer die gleiche Liebenswürdigkeit an Tag gelegt, und Anne ihre gelegentlichen klüglich geäußerten Zweifel an der Beständigkeit der Neigung des Bruders für sie stets zurückgewiesen, glaubte sie sich jetzt ihrer Sache sicherer als je. Auch der Vater und Herbert meinten, daß dieser Besuch Maries bei den Curtis ihren besonderen Interessen nur förderlich sein könne; in dem Familienkonzerte war nur Reginalds Stimme ausgeblieben. Er hatte sich seit dem entschiedenen Bruch mit Herbert und seitdem nun auch Stephanie und Egon in der neuen Wohnung hausten, sehr selten und seit drei Tagen gar nicht blicken lassen. Aber die Geheimrätin beunruhigte sich darüber nicht. Für sie war es zweifellos, daß der »kluge Junge« der eigentliche intellektuelle Urheber der Einladung war. Indem er das elterliche Haus mied, wollte er allen indiskreten Fragen des Vaters und Herberts aus dem Wege gehen und scheinbar nicht die Hand in dem Spiel haben, das er doch im Grunde leitete.
Es war am Spätnachmittage desselben Tages, an dem die Uebersiedelung Maries zu den Curtis stattgefunden hatte. In der Tiefe des Gartens, welcher sich hinter dem Hause bis fast zur Lennestraße erstreckte, in dem letzten Gange zwischen der mit Spalieren bezogenen Rückwand eines Nachbargebäudes und einer hohen, jetzt dicht zubelaubten Hecke wandelten Smith und Marie langsam auf und ab. Die Mündung eines Weges, der von der kleinen Rampe an der Hinterseite des Hauses, in der Mitte ein Rondel umkreisend, durch den Garten lief, schnitt eine breite Lücke in die Hecke.
So oft die beiden diese Lücke passierten, thaten sich ihre Hände auseinander, um sich sofort wieder zusammen zu schmiegen, sobald sie sich hinter der grünen Wand vor einem etwaigen Späherblick vom Hause her gesichert wußten. Als dieses Spiel wieder einmal stattgefunden hatte, blieb Smith, sich selbst in einer längeren, halblauten Tones geführten, eifrigen, fast leidenschaftlichen Rede unterbrechend, stehen und sagte lächelnd:
Schämst Du Dich eines Vaters nicht, der so lange Zeit brauchte, sich zu dem höchsten Glück zu bekennen, das ihm im Leben werden konnte?
Marie schlang ihre Arme um den Vater, küßte ihn auf Stirn und Mund und sagte:
Da hast Du meine Antwort!
Die ich von Deiner Großmut erwartete, und die mich eben deshalb nicht ganz beruhigt; erwiderte Smith, im Weiterschreiten Maries Arm nehmend. Oft schon habe ich geahnt und jetzt endlich sehe ich es klar: der, welcher im Kampfe des Lebens seinen Mann, stehen will, darf nicht bloß Ideen, sondern muß Wesen von Fleisch und Blut hinter sich haben, die ihm die Verkörperung, die irdisch greif- und faßbare Form seiner Ideen sind. Das hat mir gefehlt von dem Augenblicke, als mich in Amerika die Nachricht von dem Verrat Deiner Mutter traf, und daß die Gerichte ihr Dich, mein einziges Kind, zugesprochen; sie in Begriff stehe, den zu heiraten, dem ich sie, dem ich Dich anvertraut. Da war »für mich verschwunden die Sonn' am hellen Tag.« Nein: für mich war sie ja bereits entschwunden mit dem kläglichen Untergang meiner Hoffnungen auf die Vereinigung aller deutschen Stämme unter dem glorreichen Banner einer mächtigen Republik. So mochte denn das individuelle Glück mit dem allgemeinen zum Hades sinken; mochte sich an meinem Vermögen, das mir niemals als ein Glück erschienen, freuen, wer daran Freude hatte! Und doch, mein geliebtes Leben, hättest Du vor meines Geistes Aug' gestanden im Bilde der Zukunft, die ja einmal Gegenwart werden würde – wie ich Dich sah an jenem Morgen, als ich begriff, daß das schöne fremde Fräulein mit den herrlichen Augen meine Tochter sei; – wie ich Dich jetzt sehe, um mich nicht sättigen zu können an Deinem Anblick! – Aber Du warst, als ich von Dir schied – ich Dich zum letztenmal in meinen Armen hielt – in jener Schreckensnacht, die dem Entscheidungskampfe vorherging – ein Baby, das kaum den Vaternamen lallen konnte. Gott sei Dank! sie hat es besser als du, sagte ich damals bei mir: sie hat die schwere Kunst des Vergessens nicht zu lernen! Ich Thor, ich blöder Thor! der ich danach strebte, es zur Meisterschaft zu bringen in der schnöden Kunst, ohne zu fühlen, daß ich darüber verlernte, ein Mann zu sein!
So darfst Du nicht reden, Vater, erwiderte Marie mit sanftem Vorwurf. Nicht allen ist alles gegeben. Wohl Dir, daß es Dir gegeben ward, treu an dem Ideale einer Menschheit festzuhalten, wie sie vielleicht niemals sein wird. Gibt es ein Gutes auf dieser Welt, so ist es sicher dies; und nur, wer sich zu ihm bekennt, liebt in meinen Augen wahrhaft Gott. Dem aber, steht geschrieben, sollen alle Dinge zum besten dienen. Ich bitte Dich, halte auch Du daran fest, wie ich es thue! Und hat es sich nicht schon für uns bewährt? Hat es nicht uns einander finden lassen, wenn auch noch so spät? inniger als wir uns ohne die vorhergegangenen Prüfungen je gefunden hätten? Nun, um uns niemals wieder zu verlassen. Denn, wieviel mir auch sonst in unserer Zukunft dunkel ist, dies ist mir klar, wie die Sonne am Himmel: ich trenne mich nicht wieder von Dir, Du Dich nicht von mir, solange ein Lebensodem in uns ist.
Sie hatte, am Ende des Ganges angelangt, den Vater von neuem umarmt unter Thränen, die aus beider Augen reichlich flossen. Diesmal war es Smith, der sich zuerst wieder aufrichtete und festen Tones sagte:
Das ist beschlossene Sache auch bei mir. Und nun, mein geliebtes Kind, laß uns überlegen, wie wir es ins Werk setzen, ohne uns Unerträgliches zuzumuten. Unerträglich aber wäre für mich – denn es läge jenseits der Grenze meiner Kraft, – Deiner Mutter noch einmal im Leben gegenübertreten zu müssen. Deine Auseinandersetzung mit ihr muß also geschehen, ohne daß ich persönlich dabei ins Spiel komme. Deshalb, um auch der Möglichkeit dazu auszuweichen, nicht früher, als bis ich mich fern von hier in Sicherheit vor ihr weiß. Was mich bisher hier, wo mir der Boden unter den Füßen brennt, gehalten hat, bist ja nur Du gewesen. Um Deinethalben könnte ich ja nun gehen: wohin ich mich immer wende, ich werde Dich nicht mehr verlieren. Aber es handelt sich nicht bloß um uns – weitaus nicht bloß um uns.
Er schwieg verlegen mit einem bittenden Blick auf Marie, als ob sie ihm weiter helfen möge.
Was ist es, Vater? fragte Marie. Um wen kann es sich sonst noch handeln? Ich verstehe das nicht. Dein Freund ist doch nicht so krank, wie Du ihn freilich machen mußtest, wolltest Du einen schicklichen Vorwand haben, mich hierher und zu Dir zu bringen. Oder sprichst Du nicht von ihm?
Ich möchte allerdings zuerst von ihm sprechen, erwiderte Smith. Ob ich, von dem andren, was mir schwer auf der Seele liegt, zu sprechen den Mut finden werde, ich meine: ob ich das Recht dazu habe – doch lassen wir das jetzt! Ralph ist nicht so krank, sagst Du. Im physischen Sinne vielleicht nicht. Desto kränker aber in einem andren – mein Gott, Kind, ahnst Du denn wirklich nichts?
Die Unruhe des Vaters hatte sich jetzt auch Maries bemächtigt, nur daß ihre Unruhe zugleich ein Unmut war, den sie weder verbergen konnte noch wollte.
Verzeihe mir, lieber Vater! sagte sie; ich kann hier Deinen Empfindungen nicht so willig folgen. Du sprichst selbstverständlich von Deines Freundes Neigung, oder Leidenschaft für Ada. Wenn Du das eine Krankheit nennst – ich meine, so ist es eine, in der Du ihm nicht helfen kannst, oder es wäre das bereits geschehen. Da es nicht geschehen ist – nun ja, es mag Dir schwer werden, ihn nun seinen Weg allein gehen zu lassen. Aber ich vermag nicht abzusehen, was Du andres thun könntest.
Mein Gott, sie ahnt wirklich nichts; murmelte Smith.
Es war so undeutlich gesagt – Marie würde es kaum verstanden haben, wenn sie aufmerksam hingehört hätte. Das war nicht der Fall. Gerade während sie die letzten Worte sprach, hatte sie durch die Oeffnung der Hecke Ralph aus dem Hause auf die Veranda treten und auch sofort die Stufen in den Garten hinabschreiten sehen – augenscheinlich in der Absicht, sich zu ihnen zu gesellen: er winkte mit der Hand und beschleunigte seinen Schritt. Sein Erscheinen gerade in diesem Augenblick war für sie um so überraschender, als er heute mittag bei ihrem Empfange sich durch Anne hatte entschuldigen lassen; sie überdies vom Vater wußte, daß er eine besonders schlechte Nacht gehabt habe und heute, wahrscheinlich auch morgen noch, das Zimmer werde hüten müssen. So war denn Smith selbst, als er, durch eine Bewegung Maries aufmerksam gemacht, den Freund erblickte, sichtlich erschrocken.
Ja, um Himmelswillen, Ralph, rief er, was heißt das? Wer hat Ihnen denn erlaubt, aufzustehen?
In Ermangelung eines andren – ich selbst; erwiderte Ralph. Ich befand mich besser und wollte den ersten guten Augenblick benutzen, unsern lieben Gast auch meinerseits zu begrüßen.
Er hatte, den kleinen runden Hut in der linken, Marie lächelnd die Rechte entgegengestreckt. Das Lächeln war sehr freundlich, aber, wie Marie vorkam, auch sehr befangen, und sein Gesicht erschreckend bleich, wie die Hand, die sie jetzt in der ihren fühlte, unheimlich kalt.
Es ist gewiß sehr gütig von Ihnen, sagte sie, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend; aber ich fürchte: es ist zu gütig. Sie hätten sich um meinetwillen nicht einer Gefahr aussetzen sollen.
Schelten Sie ihn nur! rief Smith. Auf mich hört er ja nicht mehr.
Und ich bitte, hören Sie nicht auf ihn! sagte Ralph, dem alten Freunde die Hand auf die Schulter legend. Er ist mit all seiner Liebe und Fürsorglichkeit schuld, daß ich noch immer nicht weiter bin. Nicht die kleinste Freiheit gönnt er mir. Wie soll ich da gesunden? Ich hoffe, Fräulein Marie, Sie werden jetzt ein andres Regime einführen.
Er hatte sich wieder voll zu Marie gewandt, die mit einem unbestimmten Lächeln antwortete, da ihr eine schickliche Erwiderung nicht einfallen wollte. Sie fühlte sich unbehaglich in der Gegenwart des Mannes, über den sie noch eben zu ihrem Vater ein bitteres Wort gesprochen hatte, ohne doch damit ihrer wahren Empfindung den vollen Ausdruck zu geben. Weshalb mußte er gerade jetzt kommen, ihr die kostbaren Minuten zu rauben, – die ersten, ungestörten, die sie mit dem Vater hatte zubringen können?
Und nun schien der Vater zu ihrem wahren Schrecken die Absicht zu haben, sie hier mit dem Professor allein zu lassen, indem er, ohne ein Wort zu sagen, ein paar rasche Schritte nach dem Hause zu machte.
Wollen wir nicht alle hineingehen? sagte Marie hastig.
Bitte, bleiben Sie! rief Smith, stehen bleibend. Ich will nur Ralph ein Plaid holen. Er soll die Treppe nicht noch einmal steigen. Ich bin in einer Minute zurück.
Er eilte wirklich davon. Marie, die keine Möglichkeit sah, ihm zu folgen, da Ralph seinerseits dazu keine Miene machte, mußte sich in das Unvermeidliche fügen, im Herzen ernstlich erzürnt. Sah dies doch wahrlich von des Vaters Seite wie Absicht aus! Hatte der Professor, von ihr unbemerkt, ihm einen Wink gegeben? Drängte es den Mann so, ihr von seiner Krankheit zu erzählen, die »keine physische war«? Wollte er sie zur Mitwisserin seines Seelenleidens machen? von ihr gar eine Fürsprache verlangen, deren es nicht einmal bedurfte? eine Absolution erbitten, die sie ihm, ohne sich an ihrer innersten Empfindung zu versündigen, nicht erteilen konnte?