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Während der vergangenen Nacht war die Curtissche Wohnung eine Stätte der Unrast gewesen. In später Abendstunde hatte Ralph einen besonders heftigen Anfall gehabt. Doktor Brunn war sofort geholt worden; er hatte die Situation so bedenklich gefunden, daß er auch seinen Kollegen von der Universität citieren mußte. Beide Herren hatten gemeinschaftlich längere Zeit am Bett des Kranken zugebracht. Der Kollege war gegen Mitternacht gegangen, Doktor Brunn noch geblieben, bis auch er sich eine Stunde später zurückziehen durfte mit der Bitte, ihn, falls der Anfall sich erneuerte, unverzüglich wiederum rufen zu lassen.
Nun war es in dem Nebenflügel des oberen Geschosses, den der Kranke und seine Pfleger innehatten, still geworden; dafür begann in den von Herrn und Frau Curtis bewohnten Räumen des Hauptgebäudes ein sehr geschäftiges, wenn auch verhältnismäßig geräuschloses Treiben. In dem großen Schlafgemach, dessen sämtliche Gasflammen angezündet waren, standen drei Riesenkoffer, die sich allmählich unter den Händen der rastlos schaffenden Austin füllten. Mister Curtis ging in Pantoffeln ab und zu, aus seinem Arbeitskabinett auf der andren Seite des Treppenflures Geschäftsbücher, wohlverschnürte Briefbündel herbeitragend, die er selbst in einen vierten kleinen Koffer packte, unter gelegentlichem Flüstern zu der alten Dienerin, die ein kurzes Wort erwiderte, oder auch nur mit dem grauen Kopfe nickte. In einer verdunkelten Ecke des Gemaches auf einem Divan schlief Missis Curtis, wohlzugedeckt, einen festen Kinderschlaf in dem guten Glauben, durch den bloßen Umstand, daß sie sich nicht zu Bett gelegt hatte, ihrerseits einen besonders wirkungsvollen Beitrag zu den Reisevorbereitungen zu liefern.
Die frühe Junisonne verkündete bereits ihr Nahen durch breite rote Streifen, die den östlichen Himmel umsäumten, als die Alte ihr mühseliges Werk beinahe vollbracht hatte. Mister Curtis ließ den Vorhang, hinter dem er auf die stille Straße hinabgeblickt, fallen. Es war drei ein halb Uhr: die auf vier Uhr bestellten Wagen konnten noch nicht da sein. Er wandte sich zu der Alten, die vor einem der Koffer knieete, und raunte ihr ein paar Worte zu. Die Alte strich sich das graue Haar aus der Stirn, erhob sich und flüsterte zurück:
Wenn er nun nicht kommen will?
So läßt er's bleiben; lautete die mürrische Antwort.
Anne ist nicht von der Partie? fragte die Austin weiter.
Das müssen Sie doch besser wissen als ich; erwiderte Mister Curtis.
Ueber das runzlige Gesicht der Alten zuckte ein böses Lächeln.
Wohl! sagte sie; ich weiß es. Ich hasse sie. Sie hat mich immer wie einen Hund behandelt. Ich habe es ihr nun heimgezahlt. Und Ihnen und meiner Missis hat sie auch immer im Wege gestanden. Nun sind Sie sie los – Gott sei Dank!
Sie hat es nicht anders gewollt; murmelte Mister Curtis.
Als ob Sie es anders gewollt hätten! erwiderte die Austin höhnisch. Als ob Sie die Geschichte nicht hätten kommen sehen von Anfang an! Als ob Sie nicht auch froh wären, daß Sie Ralph zum letztenmal gesehen haben!
Schämen Sie sich! sagte Mister Curtis.
Drehen Sie andern eine Nase!
Die Alte legte ein paar Sachen, die sie in der Hand hielt, in den Koffer und ging. Mister Curtis strich sich das Kinn, warf dann einen sorgenden Blick auf seine schlafende Frau und huschte zum Zimmer hinaus über den Treppenflur, welcher schon mit kühlem glanzlosem Morgenlicht gefüllt war, in sein Arbeitskabinett. Dort hatte er bereits vorher die Gasflammen bis auf eine ausgelöscht. Jetzt drehte er auch diese ab, öffnete die Vorhänge und blickte wieder, die Hände auf dem Rücken, leise pfeifend, nachdenklich auf die Straße, durch die ein erster Milchkarren langsam vom Tiergarten her gefahren kam. Ein Geräusch hinter ihm im Zimmer ließ ihn sich umwenden. Smith war eingetreten. Er ging ihm entgegen bis zu ein paar Stühlen, die mitten im Gemache standen, bedeckt mit Papieren, welche er vorhin ausrangiert hatte und jetzt, die Stühle umkippend, auf den Teppich fallen ließ:
Wollen Sie Platz nehmen?
Ich danke, erwiderte Smith.
Smith hatte sich nicht gesetzt; so blieb auch er stehen und fuhr fort:
Ich habe Sie bitten lassen müssen –
Sie scheinen nicht zu wissen, daß Ralph jeden Augenblick sterben kann, unterbrach ihn Smith mit rauher Stimme. Ich muß Sie daher ersuchen, sich in dem, was Sie mir zu so ungewöhnlicher Stunde zu sagen haben, kurz zu fassen.
Mister Curtis schob die Unterlippe vor, ließ ein paar Laute, die beinahe ein Pfeifen waren, hören und sagte:
Sie sind ein Pessimist, Smith; waren es immer. Ralph hat schon ein hundertmal, oder so, sterben sollen, wenn man Ihnen hätte glauben wollen; da verstatten Sie, daß ich auch heute skeptisch bin. Die Hauptsache ist für mich: er ist krank, zu krank, als daß ich ihm bei meiner Abreise von Berlin persönlich Lebewohl sagen könnte, worüber er, denke ich, schmerzlos wegkommen wird. Sie bleiben natürlich bei ihm. So brauche ich mir seinethalben keine Skrupel zu machen. Auch wird meine Abreise Sie nicht derangieren: die Leute haben ihren Quartalslohn pränumerando erhalten; die Wohnung ist bis zum ersten Juli gemietet und steht zu Ihrer Verfügung. Hernach werden Sie für eine andre sorgen müssen, da diese, soviel ich weiß, von dem genannten Termin bereits wieder vermietet ist. Auch Anne wird hier bleiben: ich habe sie gefragt, ob sie uns – mich und Missis Curtis – begleiten will. Sie hat klipp und klar nein gesagt. Ich bin nicht weiter in sie gedrungen: meine Kinder können thun und lassen, was sie wollen; ich nehme an, daß sie den Schuft von Selk heiraten wird, oder meinetwegen schon geheiratet, jedenfalls ihre triftigen Gründe hat, sich von ihren Eltern zu trennen. Was aber meine Abreise betrifft, so habe ich selbst mich dazu erst gestern abend entschlossen. Es war mir gelungen, auch den Rest des Geldes, das ich mir hier gemacht hatte, ausgezahlt zu bekommen, anstatt vierzehn Tage später, wie es ursprünglich stipuliert war. Damit ist der Zweck meines Aufenthalts hier in dem elenden Nest erfüllt; aus einem längeren Verbleiben könnten mir nur Unannehmlichkeiten erwachsen, denen mich auszusetzen ich keinerlei Lust verspüre. Wohin ich gehe, kann Ihnen gleichgültig sein; keinesfalls kehre ich nach Amerika zurück – wenigstens vorläufig nicht. Ich bemerke das, damit Sie, oder Ralph, oder Anne mich dort nicht vergeblich suchen. Auch würden Sie mein Haus auf dem Broadway, meine Villa in Ithaka, meine Farm in den Highlands in andern Händen finden; meine Bank geschlossen – kurz: ich habe, hatte vielmehr drüben vollständig abgewirtschaftet, wollte dem Krach, der inzwischen hereinbrechen mußte und jetzt hereingebrochen ist, aus dem Wege gehen. Für das nötige Kleingeld, ein paar Jahre auf dem Kontinent komfortabel zu leben, sollten mir die dummen Deutschen herhalten. Was sie denn auch gethan haben. Ich glaubte Ihnen, als einem alten Freunde, diese kurze Auseinandersetzung schuldig zu sein. Noch eines: Sie werden später auch für andre Möbel sorgen müssen. Wie das hier geht und steht, ist alles bis auf den letzten Stuhl nur gemietet gewesen. Es hat ein verdammtes Stück Geld gekostet; aber man mußte den guten Leuten Sand in die Augen streuen. Das wäre ja wohl das Nötige. Sollte ich etwas zu regulieren vergessen haben – wer kann in der Eile an alles denken! – so dürfen Sie der Wahrheit gemäß behaupten, daß Sie nicht wissen, wo ich geblieben bin. Nun will ich Sie nicht länger aufhalten.
Er hatte Smith die Hand hingestreckt; Smith legte langsam seine Hände auf den Rücken.
Sie sind und bleiben ein Narr, Smith; sagte er, die breiten Schultern zuckend.
Und Sie ein Schurke; erwiderte Smith.
Sie vergessen, daß ich Sie mit einem Faustschlag fällen kann, und daß es die bare Gutmütigkeit ist, wenn ich es nicht thue.
Schlagen Sie! sagte Smith, vor ihn hintretend.
Sein Gesicht war geisterhaft blaß in dem grauen Morgenlicht; aber seine blauen Augen funkelten wie loderndes Feuer. Der Amerikaner wich einen Schritt zurück und murmelte durch die Zähne:
Sie sind toll – rein toll!
Ich war's, erwiderte Smith, als ich damals – in Kalifornien – in Freundschaft Ihre Hand faßte, an der mehr schnöde vergossenes Menschenblut klebt als je an eines Mörders, den man an den Galgen hing. Und abermals zehn Jahre darauf diese verruchte Hand, trotzdem ich schon so Schlimmes von Ihnen wußte – Ihrer unschuldigen Kinder willen, die denn doch leiblich und geistig an ihrem schurkischen Vater zu Grunde gegangen sind, zu Grunde gehen werden. Ja, an Ihnen – an Dir, Du Auswurf Deiner edlen Nation! Du, Inkarnation von allem, was in dem Menschen Bestie ist! Du, schlimmer als ein Königsmörder, der doch nur den Leib der Majestät antastet, während Du und Deinesgleichen die Seele der Menschheit schänden, ungestraft – was sage ich, bewundert von Tausenden, die Euch ob Eurer Klugheit preisen, Eure Erfolge beneiden, sich Eure scharfen Zähne und wuchtige Krallen wünschen, daß sie sich ebenso große Fetzen von der allgemeinen Beute abreißen könnten. Warum schlägst Du den Narren nicht zu Boden, der Dir das zu sagen wagt? Du denkst: das sind ja nur Worte! Du hast recht. Das Brandmal, das sie Dir auf die Stirn drücken, wird man nicht sehen; Du kannst Dich überall wieder in der besten Gesellschaft blicken lassen, sogar unter ehrlichen Leuten, ohne daß sie Dir ins Gesicht speien. Und einen Gott, der Dich zur Hölle verdammte, gibt es für Dich nicht. Den gibt es nur für Leute, die ein Gewissen haben. Fahre dahin! Und möge Gott mir das nicht anthuen, daß ich Dir wieder auf meinem Lebenswege begegne!
Ein erster Morgenstrahl fiel durch das Fenster gerade auf das weiße Haupt, es mit einer Aureole umwebend. Dem Amerikaner lief es kalt über den Rücken; dann war die Stelle, wo der unheimliche Mensch gestanden hatte, leer.
Nun aber, wie er noch so hinstarrte, war es nicht mehr das wüste Zimmer, sondern das kleine Camp da hinten am Fuße der Sierra Nevada, wohin vor ihm noch nie der Fuß eines Europäers gekommen war. Und wo er nun schon zwei Monate ausgeharrt hatte unter den gräßlichsten Entbehrungen in der Hoffnung, die zum wilden Fieber geworden war, daß die Ader, die im Anfang sich so ergiebig erwiesen und dann ausgesetzt hatte, wenn er nur die Kraft behielte, weiter zu arbeiten, seine Mühen millionenfach belohnen würde. Wenn er die Kraft behielt! Seit vier Wochen hatte er kein Stück Fleisch mehr zwischen den Zähnen gehabt; seit acht Tagen war auch das Brot zu Ende, und er lebte von Kräutern und Beeren wie ein Tier. Die Munition für seine Büchse war verbraucht bis auf den einen Schuß, der im Rohre stak, und den er für einen Fall der Not aufsparen mußte. Dann kam der Fall der Not: den einen der beiden indianischen Schufte hatte er niedergeschossen, den andren mit dem Kolben tot geschlagen. Und dann – Zum Teufel, es ist doch alles nur Satzung, die Menschen gemacht haben, die nie am Verhungern gewesen sind; und den einen hatte er ja auch ganz anständig eingescharrt. Sie sagen, Doris wäre darüber wahnsinnig geworden, als sie sah, wovon er drei Tage gelebt hatte und sie nun auch schon seit vierundzwanzig Stunden. Unsinn! sie hatte sich das Fieber in der Prairie geholt vom Rande der Swamps, an denen sie kampiert, und von der Angst, als sie so allein durch die Oede zog und schon die letzte Hoffnung, ihn zu finden, aufgegeben hatte. Und die sechs oder acht andern, Weiße und Indianer, die er abgeschossen, wenn sie ihm in sein Revier kamen – das war doch nur in der Ordnung gewesen. Und die Schwarzen, die unterwegs d'rauf gegangen waren – er hatte sie doch nicht gemordet – zu seinem eigenen Schaden noch dazu! Wie konnte denn der Mensch sagen, daß er ein Mörder sei? Mörder! das ist auch wieder so ein Wort, womit sich die Menschen gegenseitig bange machen. Es lebt eben einer weniger; und Gott sei Dank, wenn er uns unbequem war. Es bleiben ihrer noch genug, und sterben müssen wir alle einmal.
Von der Straße herauf erschallte Wagengerassel; an der Hausthür unten wurde gepocht. Die Kerle werden noch die ganze Straße aufwecken; können sie denn nicht warten, bis der Schuft von Portier kommt!
Er öffnete das Fenster und rief hinunter, – auf englisch, da ihm die deutschen Worte nicht beifielen – daß man sich gedulden solle. Dann ging er eilends in die Schlafstube, wo die Austin eben mit Mühe seine Frau geweckt hatte und jetzt in ihr Reisekostüm brachte, was keine leichte Aufgabe war, da die noch ganz Verschlafene sich fortwährend reckte und dehnte und im weinerlichen Tone zu wissen verlangte, weshalb man sie so früh aus dem Bett geholt und das Bett gleich wieder gemacht habe? Die Austin, die selbst noch nicht im Reiseanzug war, wurde ungeduldig und zerrte an der Aermsten herum, die nun ernstlich zu weinen begann. Ihr Gatte schickte die Alte weg: er selbst wolle Missis bedienen.
Die Gepäckträger, welche die Riesenkoffer einen nach dem andren herunterschleppten, grinsten, wann sie, wieder heraufkommend, den Mister immer noch in derselben sonderbaren Beschäftigung fanden, während die Frau heulte, und er keine Miene verzog, kein rauhes Wort für die Närrin hatte, sondern freundlich und geduldig blieb, – einer liebevollen Mutter gleich, die ihrem unartigen Kinde nicht zürnen kann – wie sauer auch dem schweren, plumpen Mann die ungewohnte Arbeit sichtlich wurde.
Die Koffer waren unten; die Leute abgelohnt; im Hause herrschte wieder Stille.
Durch das stille Haus, die Treppe hinab, über die jetzt schon einzelne Sonnenstreifen fielen, führte der Amerikaner seine kindische Frau am Arm mit steifstelliger Galanterie, zärtlich sorgsam darauf achtend, daß die Kurzsichtige die Stufen richtig nahm. Hinter ihnen her ging die Austin, mit Schirmen und Plaids beladen.
Der Gepäckwagen war schon vorausgefahren. Herr Curtis half seiner Gattin in die geschlossene Kutsche, stieg dann selbst ein; die Austin kletterte hinterher und schlug die Thür zu. Die Kutsche rollte davon.