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1916
Da der Gegenstand der Geschichte als eines theoretischen Gebildes das Geschehene ist – abgehoben von dem Gegenwärtigen wie von dem Zukünftigen – so gehört die Zeit jedenfalls zu den entscheidenden Bestandteilen ihres Begriffes. Allein weder ihr Verhältnis zu dessen anderen Bestandteilen noch der besondere Sinn, mit dem sie gerade in der Geschichte wirksam ist, scheint mir bisher zu der erwünschten oder auch nur zu der möglichen Klarheit gelangt zu sein.
Ein Wirklichkeitsinhalt ist dann ein historischer, wenn wir ihn innerhalb unseres Zeitsystems an eine bestimmte Stelle geheftet wissen – wobei diese Bestimmtheit mannigfache Genauigkeitsgrade haben mag. Dieses Selbstverständliche und Triviale wird sich gegenüber tiefer und weiter scheinenden formalen Definitionen des Geschichtlichen doch als die entscheidendere zeigen.
Es wird zunächst dadurch ausgeschlossen, daß ein Wirklichkeitsinhalt schon durch die Tatsache, daß er überhaupt nur zu irgendeiner Zeit bestanden hat, zu einem historischen werde. Entdeckte man z.B. irgendwo in Asien eine verschüttete, mit vielerlei interessanten Dingen angefüllte Stadtanlage, die aber weder durch ihren Stil noch durch direkte oder indirekte Zeugnisse den geringsten Hinweis auf ihr Alter gäbe – so wären diese Ueberbleibsel zwar vielleicht in vielen Hinsichten höchst wertvoll und bedeutsam – aber eine historische Urkunde wären sie nicht. Solange sie nur in der Zeit überhaupt, aber nicht in einer bestimmten Zeit stehen, sind sie in einem historisch leeren Raum. Und wüßten wir selbst durch eine Offenbarung, daß es sich um Reliquien eines auch sonst bekannten Volkes handelt, es gelänge aber durchaus nicht – wofür es freilich kein konkretes Beispiel gibt – ihnen in der Entwicklung dieses Volkes eine irgendwie bestimmte Zeitstelle anzuweisen, so wären sie noch immer kein historisches Dokument.
Aus eigentümlicheren Strukturverhältnissen noch geht die Ohnmacht des Verstehens hervor, einem Wirklichkeitsinhalt den Charakter des Historischen zu verleihen. Zweifellos ist das Verstehen die conditio sine qua non für die Anerkennung eines Inhalts als eines historischen. Wenn z.B. die berichtete Handlungsweise eines Menschen uns mit Rücksicht auf seinen sonst bekannten Charakter total »unverständlich« ist, obgleich sie an sich möglich wäre, so weigern wir uns, sie als historische Tatsache anzunehmen. Schon die bloße Benennung eines Seins oder Geschehens, sein bloß potentielles Historisch-Sein fordert ein gewisses Maß von Verstehen, ohne welches es ein unqualifizierbares, ununterscheidbares X wäre: wenn wir ein Geschehen als eine Schlacht oder einen Kanalbau, ein Tun als Herrschen oder Produzieren, ja wenn wir es als unverständlich bezeichnen, liegt dem ein prinzipielles Verstehen zugrunde.
Nun aber ist das zunächst ganz paradox Scheinende: daß dieses Verstehen als solches gar nichts mit der historischen Wirklichkeit als solcher zu tun hat, sondern etwas völlig Zeitloses ist. Der Aktus, mit dem ich den Charakter des Paulus oder des Moritz von Sachsen »verstehe«, ist prinzipiell genau derselbe, wie wenn ich den Charakter von Othello oder Wilhelm Meister verstehe. Das Verständnis, d.h. das Nachfühlen eines einheitlichen Zusammenhanges von Elementen, gilt ausschließlich deren ideellem Inhalt, und sobald man diesen beisammen hat, so erfolgt es, gleichviel ob er außerdem unter der Kategorie der Wirklichkeit oder der Phantasie, unter der Kategorie der Gegenwart oder der Vergangenheit besteht. Ich verstehe Paulus nicht wegen seiner geschichtlichen Realität, sondern sozusagen umgekehrt verstehe ich von dieser nur die ideell von ihr ablösbaren Inhalte. Ihr Sein, die Wirklichkeit als solche, ist das Hinzunehmende, niemals zu Verstehende. Und da die historische Zeit ausschließlich die Form von Wirklichkeit ist, so verläuft das Verstehen auch in völliger Unabhängigkeit von ihr. Wo wir dennoch aus solchem ideellen Verhältnis von Inhalten deduzieren, daß ein gewisser Inhalt real ist, leiten wir nur die auf anderen Wegen bereits für den einen festgestellte Wirklichkeit auf einen anderen über.
Dieser Erkenntnis tut es keinen Abbruch, daß das Verstehen oft gerade Zeitverhältnisse einschließt: wenn sein Gegenstand z.B. ein ursächliches Hervorgehen einer Erscheinung aus einer andern ist. Dann bildet eben die Gruppe dieser Erscheinungen die Verstehens-Einheit, das Zeitverhältnis, als ein nach Ordnung und Dauer notwendiges, ist jetzt selbst ein Inhalt, der verstanden werden will; allein dieses, auf die Relation bestimmter Elemente gerichtete Verständnis ist ersichtlich ganz unabhängig davon, an welcher Stelle unserer Zeitrechnung die ganze Gruppe sich findet. Denn nicht weil sie an einer bestimmten Stelle steht, sondern weil sich ihre Inhalte untereinander bedingen, wird sie verstanden. Diese immanente Zeit einer verstandenen Tatsachen-Gruppe ist nicht die historische Zeit, sie gleicht der Zeit, deren Messung innerhalb eines naturwissenschaftlichen Experimentes wichtig ist und die mit dem kalendarischen Zeitdatum, an dem das Experiment angestellt wird, überhaupt nichts zu tun hat; Dieses Motiv wäre ganz unverstanden, wenn man aus der Empirie heraus einwendete: gewisse Erscheinungen seien doch gerade nur dadurch verständlich, daß sie an einer: ganz bestimmten Zeitstelle stehen; die Ausbreitung des Christentums sei nur zu begreifen, weil es auf gewisse Gemütszustände der antiken Welt traf, die eben damals, aber weder vorher noch nachher bestanden, das Aufkommen des Barockstils sei nur in der Epoche, in der die Renaissance ihre spezifischen Kräfte erschöpft hatte, als möglich anzusehen usw. Ganz richtig. In diesen Fällen gehören die zeitlich voranliegenden Bedingungen der zu verstehenden Tatsache zu dem jetzt betrachteten Verstehenskomplex. Haben wir etwa vorher die Erscheinungen des Barock ihren Inhalten nach auseinander verstanden, derart, daß dieses Verständnis bei jeder beliebigen zeitlichen Plazierung des Barockkomplexes ungeändert bliebe, so wird jetzt der zum Problem gewordene Bezirk um die Renaissance erweitert, das Verstehen spielt jetzt, statt nur zwischen den Elementen des Barock, zwischen diesem und der Renaissance und beide bilden jetzt die Verstehens-Einheit, die als solche in ihrer nun erlangten inneren, sachlichen Einsichtigkeit gar nicht davon berührt wird, an welche Stelle der historischen Zeit sie gehört. Und wenn nun wiederum die Renaissance nur aus den vorhergehenden mittelalterlichen Zuständen verständlich erscheint, so muß die selbstgenugsame Gruppe von Inhalten um diese erweitert werden. Dann aber wäre auch diese neue größere Gruppe rein ihrem Inhalte nach verstanden und darin änderte sich nicht das geringste, wenn ihre empirische Realisierung tausend Jahre früher stattgefunden hätte. Denn wenn das Verständnis sich dadurch verbesserte oder verschlechterte, so wäre damit der Voraussetzung widersprochen, wonach gerade die Gegenstände des Verständnisses, eben diese Inhalte und keine anderen, zeitlich disloziert werden sollten;
Da indes prinzipiell kein erklärendes Moment das letzte sein kann, sondern zu seinem eigenen Verständnis immer ein vorangehendes fordert, so streckt sich nun die Verstehens-Einheit der Forderung nach ins Unendliche, der Tatsache nach bis an den frühesten, uns jeweilig bekannten Geschehensinhalt. Nehmen wir an, daß die bekannten Geschehnisse der Geschichte durchweg zu Kausalreihen verbunden sind, so bildet nun erst die Totalität dieser Geschehnisse die für das Verständnis jeder Einzelheit zulängliche Gruppe. In dem Augenblick aber, in dem diese, durch das sachlich immanente Verstehen zusammengehaltene Gruppe dasteht – als wirklicher oder als hypothetischer Geistesbesitz – ändert sich das bisher behauptete Zeitverhältnis von Verstehens-Einheiten vollkommen. Jede einzelne solche, die als abgeschlossen verständliche gesetzt wurde, konnte ohne Änderung dieses Charakters an jede beliebige Stelle der Zeitreihe gesetzt werden. Jetzt, wo diese Totalität die Totalität der gewußten Inhalte umfaßt, ist dies nicht mehr möglich. Denn vor ihr und nach ihr ist jetzt die – für uns – leere Zeit, in der kein Stellenwechsel möglich ist, weil keine Stelle von der andern unterschieden, ist, so wenig wie in dem als leer gedachten absoluten Raum ein einzelner Körper eine »Stelle« haben kann. Wie Körper sich nur gegenseitig ihren Ort bestimmen und das Ganze der Körperwelt deshalb ortsfrei ist, da es kein Etwas außerhalb seiner hat, das ihm einen Ort »bestimmen« könnte – so ist Zeit nur eine Relation der Geschichtsinhalte untereinander, während das Ganze der Geschichte zeitfrei ist.
Und nun verstehen wir erst den Sinn und zugleich die Paradoxie jener Hilfskonstruktion, die den einzelnen geschlossenen historischen Komplex zeitlich verschiebbar sein ließ, ohne daß das Verständnis seiner Inhalte darunter zu leiden schien. Denn da sich nun gezeigt hat, daß das gegenseitige Verständlichmachen, auf das hin sie sich zur Einheit schloß, nur ein vorläufiges und fragmentarisches war und in vollem Maße erst dann eintritt, wenn eine solche Gruppe nach beiden Zeitrichtungen hin – denn wir verstehen ein Geschehen erst dadurch ganz, daß wir auch seine Folgen kennen – bis zur Grenze unseres Wissens ausgedehnt wird – so ist in dieser Totalreihe einem jeden Inhalt seihe Stelle unweigerlich und prinzipiell unzweideutig festgelegt. Als selbstgenugsamer konnte der kleine Komplex beliebig verschoben werden, nur seine Elemente lagen gegenseitig fest; jetzt hat diese Festigkeit das ganze Geschehen ergriffen. Gewiß betrifft das Verstehen auch jetzt die zeitfreien Inhalte, die insoweit an beliebiger Zeitstelle zu realisieren wären. Allein von dieser Beliebigkeit kann kein Gebrauch gemacht werden, da die genaue Plazierung, die jedem Inhalte innerhalb seiner Partialgruppe zukam, nun für uns, bei logischer Entwicklung dieser Bestimmung, innerhalb der historischen Totalität und nur in dieser besteht, ein Verschieben in dieser also ausgeschlossen ist. Indem die aus den reinen Sachgehalten hervorgehende, also gegen die äußere und absolute Zeitstelle gleichgültige Bestimmung der relativen Zeitstelle sich erst dann als vollendet zeigt, wenn sie als Relation zu der Gesamtheit erkundbarer Inhalte festgelegt ist – wird die Bestimmung auf Grund des bloßen Inhaltes eines Seins oder Geschehens zur Bestimmung von dessen absolutem Zeitpunkte; wobei mit dem letzteren die Fixierung in der Geschehensreihe von dem frühesten bis zum spätesten uns bekannten Datum gemeint ist.
Damit löst sich die Antinomie von der ich ausging. Als historisch durfte ein Inhalt nur gelten, wenn er zeitlich fixiert ist; andererseits aber doch auch nur dann, wenn er mit anderen zusammen eine Verstehens-Einheit bildete, die, weil ausschließlich der zeitlose Sachgehalt das Verstehen bestimmt, an jede beliebige Zeitstelle gesetzt werden kann, ohne das Verständnis irgend zu verringern. Diesen Widerspruch beseitigt nun die Einsicht, daß das Verstehen erst dann vollständig ist, wenn es die Gesamtheit der verwirklichten Inhalte in sich einbezogen hat, diese verstehensmäßig angeordnete Gesamtheit aber für jeden ihrer Teilinhalte nur einen Platz hat; jetzt ist kein phantasiemäßiges Verschieben mehr erlaubt, da jede Stelle, auf die es erfolgte, bereits von einem unvertreibbaren Inhalt besetzt ist. Man kann sagen, historisch sei ein Ereignis, wenn es aus sachlichen, gegen ihre Zeitstelle völlig gleichgültigen Gründen eindeutig an einer Zeitstelle fixiert ist. Also: daß ein Inhalt in der Zeit ist, macht ihn nicht historisch; daß er verstanden wird, macht ihn nicht historisch. Erst wo beides sich schneidet, wo er auf Grund des zeitlosen Verstehens verzeitlicht wird, ist er historisch. Dies kann aber prinzipiell nur geschehen, wo das Verstehen die Gesamtheit der Inhalte ergreift, weil nur im Zusammenhang des absoluten Ganzen das Einzelne wirklich verständlich wird. Daraus folgt, daß die Verzeitlichung hier nur die Fixierung an einer bestimmten Zeitstelle bedeuten kann. Denn einerseits kann, wo sie auf Grund des Geschehens ganzen erfolgt, jedes Ereignis nur eine, mit keiner andern vertauschbare Stelle haben, andererseits kann das Verstehen nur auf die relative Bestimmtheit innerhalb der Zeit Anweisung geben, nicht auf die Einstellung in Zeit überhaupt – denn dies würde ja nur sagen, daß das Ereignis überhaupt wirklich ist, was gerade das Verstehen nicht leisten kann.
Erst mit dieser Bestimmung eines Inhaltes als historischen durch Fixierung an einer bestimmten Zeitstelle erscheint der Charakter der Individualisiertheit, mit dem man schon lange das historische Erkennen gegen das naturwissenschaftliche abheben will, an seine rechte Stelle gerückt. Man hat diese Individualisiertheit immer in der Einmaligkeit des geschehenden Inhalts gesucht; die naturwissenschaftliche Absicht dagegen sähe ihn auf das zeitlos-allgemeine Gesetz hin an, für das seine Einmaligkeit oder beliebige Wiederholung ganz irrelevant sei. Dies scheint mir noch keine entscheidende Bestimmung zu sein. Haben wir eine Ereignisgruppe der angedeuteten Art, die in ihrer relativen Geschlossenheit für sich verständlich ist, so können wir sie ohne Schädigung dieser Verständlichkeit beliebig hin- und herschieben; sie mag nun ihrem Inhalte nach schlechthin einmalig sein, so werden wir sie doch solange nicht als historisches Element anerkennen, bis sie ihre zeitliche Labilität mit einer eindeutig festen Stelle im Gesamtverlauf des Geschehens vertauscht hat. Vielleicht liegt nur eine Variante dieses Motivs darin, daß Ereignisse doch keineswegs der Einzigkeit ihres Inhalts ihren Charakter als historische verdanken. Sie blieben historische, auch wenn sie sich tausendmal in qualitativer Identität wiederholten. Es scheint hier eine unberechtigte Übertragung der Einmaligkeit des Weltprozeßes als ganzen, der sich freilich nicht wiederholen kann, weil jede Wiederholung – auch die der ewigen Wiederkunft– in ihn schon einbegriffen wäre, auf seine Teile stattzufinden. Da unbegrenzt viele Tatsachen prinzipiell in genauer Inhaltsgleichheit ablaufen können, sehe ich den Sinn ihrer Einmaligkeit oder Individualität nicht ein, wenn diese sich auf den Inhalt beziehen sollte, sondern erst, wenn sie bedeutet, daß an dieser Zeitstelle, die dem Begriffe der Zeit nach unwiederholbar ist, gerade dieser Inhalt sich findet. Nur der Zeitpunkt, der zwischen allem, was ihm voranging und allem was ihm folgte, festgelegt ist, gibt dem historischen Inhalt den hier fraglichen Charakter. Denn erst so nimmt er an der einzigen uns bekannten absoluten Unwiederholbarkeit, eben der der Totalität des Weltprozeßes teil (gleichviel wie unvollkommen unser Erkennen die Zuweisung im Verhältnis zu dieser Totalität vollziehe). Ihm bestimmt dieses gesamte Geschehen seine Stelle, die also auch nur eine schlechthin einzige sein kann – ob er nun in qualitativer Hinsicht individuell sei oder wiederkehre. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß nur durch die Einstellung in die Zeitlosigkeit überhaupt einem Erkenntnisinhalt diejenige Individualität geraubt würde, durch die er zu einem historischen wird; der Mangel eines »bestimmten« Zeitpunktes genügt dazu vollkommen. Dieser allein ist der Träger der historischen Einzigkeit: nur um ihn eindeutig zu bestimmen, muß der Inhalt ein eindeutig individueller sein.
Keineswegs eben ist es die bloße Zeitlichkeit eines Vorgangs, die ihn zu einem historischen macht, – sobald diese nicht den Charakter eines festgelegten Zeitpunktes hat. Zeitliche Relationen von sachlicher Begründetheit herrschen ja auch innerhalb von physikalischen und chemischen Vorgängen. Wird in einem Laboratorium die Dauer einer Schwingung, eines chemischen Prozeßes, einer psycho-physischen Reaktion gemessen, so wird auch hier Anfang und Ende, beziehungsweise die Zwischenstadien, an bestimmten Punkten einer Zeitstrecke festgelegt. Allein zu irgendwelchem Vorhergehenden oder Nachfolgenden hat diese sachlich-zeitliche Einheit gar keine Beziehung, kann sie nach der ganzen Problemstellung dieser Erkenntnisse nicht haben. Die Frage, wann dieses Ereignis als ganzes vorgegangen ist, das heißt also eben: welche Beziehung zu einem Vorher und Nachher es besitzt, ist für eben diese Zeit-Erkenntnis ganz irrelevant. Und deshalb ist das Ereignis kein historisches. Würde es sich aber etwa um das erste derartige Experiment eines Forschers handeln, das für die Weiterentwicklung der betreffenden Wissenschaft bahnbrechend war, so wäre es sogleich erkenntnismäßig wichtig, seine Stelle in einem übergreifenden Zeitverlauf, d.h. seine Beziehung zu dem vorherigen und dem nachfolgenden Stadium der Wissenschaft zu fixieren, mit andern Worten: dieser experimentale Naturvorgang wäre ein historischer! Je nach der Einstellung der Betrachtung also hätte er entweder eine Zeitlichkeit, die nicht historisch ist, oder bezeichnete einen Zeitpunkt, der bedeutungsgemäß durch sein Vorher und Nachher, also prinzipiell durch die Ganzheit des Weltverlaufs überhaupt fixiert ist, womit er erst zu einem historischen würde.
Diese Fixierung läßt sich in einer Weise ausdrücken, die zwar selbstverständlich erscheint und so im Vorhergehenden auch angewendet wurde, in Wirklichkeit aber zu einer gar nicht selbstverständlichen Klärung historischer Kategorien verhilft. Vor allem des Begriffes der Dauer. Genau angesehen nämlich ist das, was wir unter der Zeitdauer eines Zustandes verstehen können, keineswegs dem logischen oder physikalischen Begriff der Beharrung angemessen. Nähme man sie in diesem letzteren Sinne, so wäre die Ausdehnung dieser Dauer ganz gleichgültig, es wäre, so paradox dies zunächst klingt, historisch völlig irrelevant, ob ein Zustand ein Jahr oder zehn Jahre beharrt. Denn wenn, wie dieser Begriff es fordert, wirklich innerhalb der Zustandsdauer kein Augenblick einer solchen individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen Existenzperiode von dem andern unterscheidbar wäre, also Anfang und Ende der Epoche qualitativ völlig zusammenfielen, so wüßte ich nicht, welches Interesse sich an deren Kürze oder Länge knüpfen sollte. Da innerhalb ihrer jeder Moment inhaltlich jedem gleich ist, so gäbe es für keinen ein durch seinen Inhalt bestimmtes Früher oder Später einem andern gegenüber, d.h. kein Moment innerhalb dieser Dauer wäre ein historischer. Wenn uns die Dauer einer Regierung, einer Staatsverfassung, einer Wirtschaftsform wichtig ist, so meinen wir damit eine Vielheit einzelner, einander zeitlich ablösender Ereignisse, meinen mindestens, daß am Ende der Periode sich der Zustand der Gruppe derart geändert hat, daß der darauf folgende jetzt aus ihm in einer Weise verständlich ist, wie er es aus dem Anfangszustand der Periode nicht gewesen wäre. Hätte sich aus einer im übrigen dunkeln Epoche nur die Nachricht erhalten, ein gewisser König habe dreißig Jahre regiert, so sagt uns das historisch nicht das geringste mehr, als wenn die Überlieferung auf zehn Jahre lautete – es sei denn auf die Möglichkeit künftiger Entdeckungen hin, die in und um diese bloße Zeitdauer ein Früher oder Später einzelner differenzierter Ereignisse legen. Wüßten wir, daß der Krieg, den Friedrich der Große 1756 begann, sieben Jahre gedauert hat, so würde uns diese Zahl nichts anderes als eine größere oder kleinere sagen, wäre sie nicht von verständlich einander folgenden Ereignissen ausgefüllt oder kennten wir nicht gerade die Wandlungen der europäischen Politik, die von ihm bewirkt worden sind. Daß ein Ereignis, das uns als letzterkennbares historisches Element gilt, d.h. dessen Teile für uns kein inhaltlich determiniertes Vorher und Nachher mehr zeigen und dies auch nicht durch Verwebung mit andern, ihm äußeren Reihen ersetzen – daß ein solches Ereignis irgend eine zeitliche Ausdehnung besitzt, ist historisch völlig gleichgültig: denn eine Länge, für die es nicht darauf ankommt, eine wie große Länge sie ist, ist praktisch überhaupt keine. Ein solches Ereignis ist historisches Atom und seine Bedeutung eben als historisches gewinnt es ausschließlich, indem es in der charakterisierten Weise einem zweiten gegenüber ein späteres, einem dritten gegenüber ein früheres ist. Daß ein Ereignis in einen Zeitpunkt fällt, ist eine treffende symbolische Bezeichnung: denn bei genauerem Zusehen löst sich der historische Sinn der Dauer in die Relationen des Früher oder Später auf, so daß für jedes Element die Punktualität des einfachen Überhaupt-Daseins, d.h. An-dieser-Stelle-Seins, ausreicht. Wir müssen begreifen – logisch oder intuitiv, physikalisch, physiologisch-psychologisch – daß das eine Geschehen dem andern gegenüber bedingend oder bedingt oder sonst irgendwie ihm verbunden oder vereinheitlicht ist. Dies aber versetzt es nicht in die objektiv verfließende Zeit und läßt es an deren Ausdehnung teilnehmen, sondern gibt jedem nur eine korrelative Stellung zum andern.
Hier aber zeigt sich eine antinomische Problematik schwerster Art. Jedes historische Atom (das ebenso eine Regierungszeit wie ein Krieg, ebenso eine Schlacht wie eine Episode in ihr sein kann, je nachdem, was wir gerade von ihm wissen oder wissen wollen) füllt tatsächlich eine Zeitstrecke kontinuierlich aus: die Regierungszeit besitzt, auch wenn sie isoliert dastünde und auch keinerlei bekannte Erfüllungen zeigte, jene objektive Dauer, die sich in diesem Falle als historisch nichtig gezeigt hat, da sie so für die Geschichte nur einen Zeitpunkt festlegt, bestimmt, ein Früher oder Später andern Punkten gegenüber festzulegen: seine inneren Mannigfaltigkeiten unterstehen natürlich wieder anderen entsprechenden Einheitsbegriffen. Und diese Divergenz erstreckt sich über die Ganzheit der Geschichte überhaupt. Sie besteht auf Grund der Setzung umschriebener Ereignisse, mit Einzelbegriffen bezeichenbarer Inhalte; aber das wirklich erlebte Geschehen hat diese Form nicht, sondern verläuft schlechthin absatzlos in einer Kontinuität, die der bloßen. Zeit ohne Bruch angeschweißt ist. An keinem andern Punkt vielleicht kann man in den Spalt zwischen dem Geschehen und der »Geschichte« bis zu solcher Tiefe hinabblicken. Das geschichtliche Bild, das wir mit dem »siebenjährigen Krieg« meinen, hat keine Lücke, es erstreckt sich eben vom August 1756 bis zum Februar 1763. In Wirklichkeit ist aber nur das Geschehen, das sich in diesen Zeitgrenzen und innerhalb der den Krieg lokalisierenden Raumgrenzen zutrug, ein kontinuierliches. Die » Geschichte« dieser Zeit ist keineswegs kontinuierlich. Von der Stetigkeit vielmehr, mit der aus einem Marsch oder einem Biwak von Truppen eine Schlacht sich vorbereitet, mit der die Bewegungen der einzelnen Soldaten aus den noch nicht schlachtmäßigen in die eigentlich kämpfenden übergehen, mit der sich an den Kampf selbst Flucht, Verfolgung, schließliche Ruhe, ansetzt – von dieser Stetigkeit des wirklichen Geschehens sind wir zwar in abstracto überzeugt; das historische Bild aber, das wir aus Forschung und phantasiemäßiger Konstruktion heraus wirklich haben, besteht aus diskontinuierlichen, gleichsam um je einen zentralen Begriff herum geronnenen Teilbildern wie die eben genannten. Um jeden solchen Kristallisationspunkt sammelt unser geschichtsbildendes Verfahren eine Anzahl unterscheidbarer Einzelvorgänge, deren Ganzheit aber eben als dieses ganze »eine Ereignis« von den benachbarten Ereignissen sich durchaus scheidet. So sagen wir etwa, daß 1758 die Schlacht bei Zorndorf von Friedrich gewonnen wurde, daß er dann nach Sachsen zur Unterstützung seines Bruders Heinrich ziehen wollte, inzwischen durch den Überfall bei Hochkirch ungeheure Verluste erlitt, dann aber durch geschickte Strategie seine Verbindung mit Heinrich dennoch zustande brachte. Hier sind also vier Momente, deren jeder in sich eine begriffliche Einheit ist, die zwar in einer bestimmten Reihe einander folgen, aber doch vermittels ihrer begrifflichen Sondersynthesen eine Diskontinuität zeigen; jede hält ihre Bestandteile enger und stetiger in sich zusammen, als jede mit der andern zusammenhängt. Jedermann gibt zwar zu, daß das Geschehen im Jahre 1758 ein völlig kontinuierliches war und daß nur die herangebrachten Begriffe von Schlacht, Sieg, Niederlage, Heeresvereinigung dies Geschehen in Teile zerschneiden. Allein diese Nachträglichkeit, die ersichtlich in einer andern Ebene, als in der des konkret Vorgestellten liegt, läßt die Nähte nicht wieder verwachsen. Es stellt sich also das ganz Merkwürdige ein: daß diejenige Vorstellung von der Form des Geschehens, die dessen Realität sicher allein entspricht, die kontinuierliche, nur ein von dem konkreten historischen Inhalt zurücktretender, abstrakt reflektierender Gedanke ist, während die wirklich zeichnende Bildung dieses Inhalts sich in der wirklichkeitsfremden Form der Diskontinuität der »Ereignisse« bewegt! Die »Schlacht von Zorndorf« ist ein in besonderer Art aus unzählig vielen Einzelvorgängen gebildeter Kollektivbegriff. In dem Maße, in dem die Kriegsgeschichte jene Einzelheiten zur Kenntnis bringt, jeden Angriff, jede Deckung, jede Episode, jedes Sonderengagement von Truppenteilen usw., also sich dem Bilde dessen, was »wirklich war« mehr nähert – in eben diesem Maß atomisiert sich der Begriff der Schlacht und verliert die Kontinuität, die wir nur durch ein gleichsam darüber schwebendes apriorisches Wissen, vermittels des Hindurchlegens einer ideellen Linie – nämlich des Begriffes Schlacht – durch all diese Wissensatome, dennoch von diesem Ereignis aussagen, indem wir es eben »eine Schlacht« nennen. Indem wir jedes solche Atom unter einen bestimmten differenzierten Begriff bringen, wird es gegen das vorherige und gegen das nachherige isoliert, wir kennen nun immer kürzere Partikel, zwischen jedem und jedem nächsten solchen entsteht ein unausgefüllter Raum, der für unser historisches Erkennen, unsere Bildgestaltung gleich Null ist. Nur insoweit historische Inhalte, unter einen Begriff zusammengefaßt, als jeweilige Einheit gelten, haben sie die Form des Lebens, der erlebten Wirklichkeit: die Stetigkeit. In dem Augenblick, in dem man die einzelnen, zeitlich auseinanderliegenden Bestandteile solcher Einheit feststellt und benennt, fällt diese auseinander und die Einheit haftet nun wieder an den begrifflich markierten Partikeln. So ist »die Regierung Friedrichs des Großen« in der, Anfang und Ende verbindenden Überschau, eine Einheit. Ergreift aber das historische Bewußtsein das darunter Begriffene: seine Kriege und seine wirtschaftliche Kultivierung Preußens, sein Verhältnis zum französischen Geist und seine Herstellung des preußischen Landrechts, so ist jedes dieser Elemente in sich zusammengehalten, gravitiert nach seinem eigenen Zentrum und besitzt seine kontinuierliche Verbindung mit dem anderen nur durch eine Art von Interpolation, die die leeren Spazien von der Idee eines lebendigen ununterbrochenen Geschehens durchströmen läßt. Immer aber liegt das so entstehende Bild des Lebens in einer erkenntnistheoretisch anderen, abstraktiveren Ebene, als die einzelnen Elemente, die aus ihrer umschriebenen Konkretheit erst in jene hinaufgehoben werden müssen. Und so geht dieser Prozeß weiter, wenn nun der siebenjährige Krieg als Einheit gilt, die sich in Schlachten, Heereszüge, Verhandlungen auflöst; jede der Schlachten wieder in der vorhin angedeuteten Weise in ihre Etappen, und so fort. Die Fortsetzung dieses Verfahrens scheint an einer atomistischen Struktur des Geschehens münden zu sollen: wir hätten schließlich lauter Momentbilder, eines ganz nahe an das andere herangedrängt, aber immer zwischen beiden das Intervall, das gar nicht ausgefüllt werden kann, weil seine stetige Ausfüllung jene Bildhaftigkeit und sozusagen Eingerahmtheit des Einzelnen aufheben würde, die sein bezeichenbares Bestimmtsein, seine Rolle als einzelnes historisches Element bedingen. Jene lebendige, dem Zeitverlauf genau angeschmiegte Kontinuität wäre damit so wenig zu erreichen, wie man durch noch so viele Punkte die Stetigkeit der Linie besetzen kann. Das Entscheidende ist also gar nicht, daß wir nicht »genug« wissen, um die ganze Strömung der lebendigen Wirklichkeit lückenlos in unsere historische Erkenntnis aufzunehmen: diese vielmehr hat prinzipiell gar nicht die Form, um die Kontinuität des Erlebens nachzuzeichnen und umso weniger, je mehr wir »wissen«, d. h. je mehr konkrete, als begriffliche Einheiten, genau umschriebene Bilder wir gewinnen. Weil wir die Kontinuität des Geschehens unmittelbar in einer nicht aussprechbaren Weise als unsere eigene Daseinsform erleben, sind wir zwar befähigt, sie auch in die historischen Ereignisse hineinzumeinen. In dem Maße aber, in dem wir an jeder solchen Einheit die immer spezialisierendem, immer genauer sehende Funktion des Erkennens üben, zerfällt sie in lauter Diskontinuitäten, deren jede einzelne zunächst wieder als kontinuierliche Dauer gemeint ist, bis das fortschreitende Erkennen auch an ihr die gleiche Zerspaltung und damit die gleiche Entlebendigung vollzieht. Dies kann soweit gehen, daß die Wiedereinfügung der gesondert erkannten Geschehensatome in den Gesamtverlauf, wodurch sie zu historischen werden, nicht mehr möglich ist, daß sie sozusagen ein zu geringes Quantum eigenen Sinnes haben, als daß jene durch ihren Inhalt begreifliche Verbindung mit allen andern sich herstelle. Die einzelnen Schlachten des siebenjährigen Krieges, in isolierter Betrachtung beliebig verschiebbare Atome, können zu historischen Elementen werden, sobald der siebenjährige Krieg selbst als Kontinuität, die jeder Schlacht ihre Stelle anweist, begriffen wird, dann wieder dieser Krieg in der Politik des 18. Jahrhunderts usw. Gelangen wir nun aber abwärts zu einem einzelnen Handgemenge zwischen einem preußischen und österreichischen Grenadier bei Kunersdorf, so ist dies kein historisches Gebilde mehr, weil es genau ebenso bei Leuthen oder bei Liegnitz hätte stattfinden können. Und kennte man jede körperliche und seelische Bewegungsnuance, die unter den Russen, Österreichern und Preußen am 12. August 1759 vorging, sodaß von den Begriffen, die die Reihenfolge der Tatsachen bezeichnen, keiner mehr einen meßbaren Zeitraum des Geschehens zusammenfaßte – so wäre damit die Absicht der Historik dennoch nicht erreicht. Denn sie begehrt gar nicht diese Einzelheiten zu wissen, sondern will das sie zusammenfassende, höhere Gebilde: Schlacht von Kunersdorf – kennen. Jenes Fechten zwischen einem österreichischen und einem preußischen Grenadier, obwohl ein echter und notwendiger Teil der Schlacht, fällt aus der historischen Interessenreihe heraus, die sich andernfalls in eine Diskontinuität auflöst. Die Schlacht von Kunersdorf aber, die wir kennen wollen, ist eine notwendig durch eine Zeitausdehnung hindurch kontinuierlich erstreckte Einheit. Diese ist ihrer Form nach allerdings ein Bild der Wirklichkeit, die kontinuierlich ist, sie kann sich aber nie mit realem Inhalt erfüllen, weil diese jeweils letzten Einzelbilder zwar die Form des Früher oder Später, aber damit die der Diskontinuität haben und jene, nur in einer abstrakteren Intuition erfaßte Zeitspanne so wenig ausfüllen können, wie eben noch so viele Punkte eine Linie erfüllen können, deren Lauf sie freilich bezeichnen. Es scheint ein allgemeines Prinzip zu bestehen, daß das Zerfällen einer Erscheinung in Elemente, als deren Summe sie dann wieder begriffen werden soll, bei einer bestimmten Stufe der Zerkleinerung die Individualität der Erscheinung aufhebt. Wenn wir das Wesen eines Menschen, der uns als eine ganz singuläre Vision gegeben ist, in seine einzelnen Züge zerlegen, entdecken wir meistens, daß jeder von diesen ein mehr oder weniger allgemeiner ist, der mit vielen andern Menschen geteilt wird. Das Schicksal eines Individuums, als Ganzes unvergleichlich, läßt sich in eine Summe von Ereignissen vereinzeln, deren jedes eigentlich ein häufiges Vorkommnis ist, und zwar umso augenscheinlicher, je kleiner man die Abschnitte wählt. Die atomistische Weltanschauung, für die die kleinsten Teile und ihre Bewegungen als einzige Realitäten bestehen, kann das Problem der Individualität weder lösen, noch auch nur anerkennen. So also verflüchtigt sich der Individualcharakter einer Gegebenheit, durch den sie zeitlich fixierbar, also historisch wird, gerade oft, natürlich nicht immer, durch diejenige Auseinanderlegung und Spezialisierung ihrer Elemente, die doch als wachsende Exaktheit und Erkenntnis der Dinge »wie sie wirklich gewesen sind«, gilt. Man kann demnach von einer Schwelle der Zerkleinerung reden. Mit der Kenntnis jeder Muskelzuckung jedes Soldaten würde uns jene einheitliche Lebendigkeit des ganzen Ereignisses, die Anfang und Ende seines zeitlichen Bildes verbindet, verloren gehen; das historische Element muß so groß bleiben, daß sein Inhalt Individualität behält, und durch sie die Hinweisung auf ein völlig bestimmtes Früher oder Später allen andern gegenüber. Die geschichtliche Erkenntnis bewegt sich also in einem dauernden Kompromiß zwischen der Aufstellung ausgedehnter Einheitsgebilde, deren Kontinuität zwar die Form des Geschehens nachbildet, aber nicht mit der Einzelheit realer Anschauungen zu erfüllen ist – und diesen letzteren, die im wissenschaftlichen Ideal nur je einen chronologischen Punkt bezeichnen und gerade dadurch dieses Ideal der Stetigkeit des realen Geschehens entrücken.
In dieser tiefen Antinomie der Historik offenbart sich das Problem, das ich für das fundamentale ihrer Erkenntnistheorie halte: wie wird aus dem Geschehen Geschichte? Indem das Leben die geistige Form des Historischen annimmt, zeigt sich sowohl der historische Realismus, der die Ereignisse nachzuzeichnen glaubt, wie sie wirklich gewesen sind, als eine ebenso einseitige Vergewaltigung der Sachlage wie der Idealismus, für den Wirklichkeit soviel wie Erkenntnis der Wirklichkeit ist: der eine büßt die Inhalte ein, der andere ihre Kontinuität. Dennoch möchte ich dem Problem gegenüber, das sich zwischen dem erlebten Leben einerseits und seiner Umformung, die wir Geschichte nennen, andererseits, anspinnt, die Hoffnung wagen: daß die Fremdheit zwischen beiden vielleicht eine erkenntnistheoretische, aber keine metaphysische Entscheidung letzter Instanz sein kann, da schließlich auch die Geschichte eine Äußerung und Tat des Lebens ist, eben desselben Lebens, dem sie sich zuerst gegenüberstellte: denn auch das Gegenüber-vom-Leben ist eine Form des Lebens. Der Realismus der Geschichte liegt nicht in dem Lebens inhalt, den sie, wie er wirklich war, nachzeichnete, sondern darin, daß ihr unvermeidliches Anders-Sein-als-das-Leben irgendwie den Triebkräften, dem Gesetze dieses Lebens selbst entspringen muß.