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1907
Jenseits alles Naturalismus, der der Kunst das Gesetz der ihr äußeren Dinge auferlegt, steht eine Wahrheitsforderung über ihr: ein Anspruch, den das Kunstwerk zu erfüllen hat, obgleich er nur aus ihm selbst quillt. Ruht ein mächtiges Gebälk auf Säulen, denen wir solche Leistung nicht zutrauen, geben uns die pathetischen Worte eines Gedichts Anweisung auf eine Leidenschaft und Tiefe, von denen uns dennoch das Ganze nicht überzeugt, so fühlen wir den Mangel einer Wahrheit, einer Übereinstimmung des Kunstwerkes mit seiner eigenen Idee. Noch einmal aber steht es vor der Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, weil es einem Gesamtzusammenhang des Seins zugehört. Auf schwer enträtselbare Weise malt sich hinter jedes Kunstwerk das Wollen und Fühlen einer bestimmten Seele, eine bestimmte Auffassung von Welt und Leben – aber keineswegs immer so, daß das Werk der treue und angemessene Ausdruck jener tieferen, allgemeineren Wirklichkeit ist, die es uns dennoch ihm anzufühlen veranlaßt. Sondern, merkwürdig genug, manches Kunstwerk gibt uns unmittelbare Anweisung auf eine innere und metaphysische Welt, die sich in ihm ausdrücken sollte, tatsächlich aber nicht ausdrückt. Da mögen nun die Teile untereinander harmonisch und vollkommen sein: das Ganze treibt aus einer Wurzel, zu der es nicht gehört, und je vollendeter es in sich ist, desto radikaler ist die Lüge, wenn es sich in den Zusammenhang eines inneren Lebens, einer Weltanschauung, einer religiösen Überzeugung einstellt, die es in seinem tiefsten Sein dementiert.
An solchen Wahrheiten und solchen Lügen haben die verschiedenen Künste in verschiedenen Maßen teil. An die Baukunst, von der hier die Rede sein soll, kann kein Naturalismus die Wahrheitsforderung im Sinn der Formgleichheit mit einem äußerlich Gegebenen stellen; um so ersichtlicher beansprucht sie die innere Wahrheit: daß die tragenden Kräfte den Lasten genügen, daß die Ornamente den Platz finden, in dem sie ihre innere Bewegtheit ausleben können, daß nicht Einzelheiten dem Stile untreu werden, in dem das Ganze sich bietet. Geheimnisvoller aber ist die Harmonie oder der Widerspruch, in dem das Bauwerk mit der seelischen Bedeutung oder dem Lebenssinne steht, der mit ihm verbunden ist, aus ihm aufleuchtet – aber nur wie eine Forderung, die es zwar selbst stellt, aber doch nicht immer selbst erfüllt. Vielleicht liegt hier der tiefste Unterschied zwischen der Architektur von Venedig und der von Florenz. Bei den Palästen von Florenz, von ganz Toskana, empfinden wir die Außenseite als den genauen Ausdruck ihres inneren Sinnes: trotzig, burgmäßig, ernste oder prunkvolle Entfaltung einer wie in jedem Steine fühlbaren Macht, jeder die Darstellung einer selbstgewissen, selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Die venetianischen Paläste dagegen sind ein preziöses Spiel, schon durch ihre Gleichmäßigkeit die individuellen Charaktere ihrer Menschen maskierend, ein Schleier, dessen Falten nur den Gesetzen seiner eigenen Schönheit folgen und das Leben hinter ihm nur dadurch verraten, daß sie es verhüllen. Jedes innerlich wahre Kunstwerk, so phantastisch und subjektiv es sei, spricht irgend eine Art und Weise aus, auf die das Leben möglich ist. Fährt man aber den Kanal Grande entlang, so weiß man: wie das Leben auch sei – so jedenfalls kann es nicht sein. Hier, am Markusplatz, auf der Piazetta, empfindet man einen eisernen Machtwillen, eine finstere Leidenschaft, die wie das Ding an sich hinter dieser heiteren Erscheinung stehen: aber die Erscheinung lebt wie in ostentativer Abtrennung vom Sein, die Außenseite erhält von ihrer Innenseite keinerlei Direktive und Nahrung, sie gehorcht nicht dem Gesetz einer übergreifenden seelischen Wirklichkeit, sondern dem einer Kunst, das jenes gerade zu dementieren bestimmt scheint. Indem aber hinter der Kunst, so vollendet sie in sich sei, der Lebenssinn verschwunden ist oder in entgegengesetzter Richtung läuft, wird sie zur Künstlichkeit. Florenz wirkt wie ein Werk der Kunst, weil sein Bildcharakter mit einem zwar historisch verschwundenen, aber ideell ihm getreu einwohnenden Leben verbunden ist. Venedig aber ist die künstliche Stadt. Florenz kann nie zur bloßen Maske werden, weil seine Erscheinung die unverstellte Sprache eines wirklichen Lebens war; hier aber, wo all das Heitere und Helle, das Leichte und Freie, nur einem finstern, gewalttätigen, unerbittlich zweckmäßigen Leben zur Fassade diente, da hat dessen Untergang nur ein entseeltes Bühnenbild, nur die lügenhafte Schönheit der Maske übrig gelassen. Alle Menschen in Venedig gehen wie über die Bühne: in ihrer Geschäftigkeit, mit der nichts geschafft wird, oder mit ihrer leeren Träumerei tauchen sie fortwährend um eine Ecke herum auf und verschwinden sogleich hinter einer andern und haben dabei immer etwas wie Schauspieler, die rechts und links von der Szene nichts sind, das Spiel geht nur dort vor und ist ohne Ursache in der Realität des Vorher, ohne Wirkung in der Realität des Nachher. Mit der Einheit, durch die ein Kunstwerk jedes seiner Elemente seinem Gesamtsinn untertan macht, ergreift hier der Oberflächencharakter das Bild der Menschen. Wie sie gehen und stehen, kaufen und verkaufen, betrachten und reden – alles das erscheint uns, sobald uns das Sein dieser Stadt, das in der Ablösung des Scheins vom Sein besteht, einmal in seinem Bann hat, als etwas nur Zweidimensionales, wie aufgeklebt auf das Wirkliche und Definitive ihres Wesens. Aber, als habe sich dieses Wesen darunter verzehrt, ist alles Tun ein Davor, das kein Dahinter hat, eine Seite einer Gleichung, deren andere ausgelöscht ist. Selbst die Brücke verliert hier ihre verlebendigende Kraft. Sie leistet sonst das Unvergleichliche, die Spannung und die Versöhnung zwischen den Raumpunkten wie mit einem Schlage zu bewirken, zwischen ihnen sich bewegend, ihre Getrenntheit und ihre Verbundenheit als eines, und dasselbe fühlbar zu machen. Diese Doppelfunktion aber, die der bloß malerischen Erscheinung der Brücke eine tiefer bedeutsame Lebendigkeit unterlegt, ist hier verblaßt, die Gassen gleiten wie absatzlos über die unzähligen Brücken hinweg, so hoch sich der Brückenbogen spannt, er ist nur wie ein Aufatmen der Gasse, das ihren kontinuierlichen Gang nicht unterbricht. Und ganz ebenso gleiten die Jahreszeiten durch diese Stadt, ohne daß der Wandel vom Winter zum Frühling, vom Sommer zum Herbst ihr Bild merklich änderten. Sonst spüren wir doch an der blühenden und welkenden Vegetation eine Wurzel, die an den wechselnden Reaktionen auf den Wechsel der Zeiten ihre Lebendigkeit erweist. Venedig aber ist dem von innen her fremd, das Grün seiner spärlichen Gärten, das irgendwo in Stein oder in Luft zu wurzeln, oder nicht zu wurzeln scheint, ist dem Wechsel wie entzogen. Als hätten alle Dinge alle Schönheit, die sie hergeben können, an ihre Oberfläche gesammelt und sich dann von ihr zurückgezogen, so daß sie nun wie erstarrt diese Schönheit hütet, die die Lebendigkeit und Entwicklung des wirklichen Seins nicht mehr mitmacht.
Es gibt wahrscheinlich keine Stadt, deren Leben sich so ganz und gar in einem Tempo vollzieht. Keinerlei Zugtiere oder Fahrzeuge reißen das verfolgende Auge in wechselnde Schnelligkeiten mit, die Gondeln haben durchaus das Tempo und den Rhythmus gehender Menschen. Und dies ist die eigentliche Ursache des »traumhaften« Charakters von Venedig, den man von je empfunden hat. Die Wirklichkeit schreckt uns immerzu auf; die Seele, sich selbst oder einem beharrenden Einfluß überlassen, würde in einem gewissen Gleichstand verbleiben, und erst der Wechsel ihrer Empfindungen weist sie auf ein äußeres Dasein, das diese Unterbrechungen ihrer Ruhelage verursacht. Deshalb werden wir von dauernd gleichmäßigen Eindrücken hypnotisiert, ein Rhythmus, dem wir unterbrechungslos ausgesetzt sind, bringt uns in den Dämmerzustand des Unwirklichen. Die Monotonie aller venetianischen Rhythmen versagt uns die Aufrüttelungen und Anstöße, deren es für das Gefühl der vollen Wirklichkeit bedarf, und nähert uns dem Traum, in dem uns der Schein der Dinge umgibt, ohne die Dinge selbst. Ihrer eigenen Gesetzlichkeit nach erzeugt die Seele, in dem Rhythmus dieser Stadt befangen, in sich die gleiche Stimmung, die ihr ästhetisches Bild in der Form der Objektivität bietet: als atmeten nur noch die obersten, bloß spiegelnden, bloß genießenden Schichten der Seele, während ihre volle Wirklichkeit wie in einem lässigen Traum abseits steht. Aber indem nun diese, von den Substanzen und Bewegtheiten des wahren Lebens gelösten Inhalte hier dennoch unser Leben ausmachen, bekommt dieses von innen her teil an der Lüge von Venedig.
Denn dies ist das Tragische an Venedig, wodurch es zum Symbol einer ganz einzigen Ordnung unserer Formen der Weltauffassung wird: daß die Oberfläche, die ihr Grund verlassen hat, der Schein, in dem kein Sein mehr lebt, sich dennoch als ein Vollständiges und Substanzielles gibt, als der Inhalt eines wirklich zu erlebenden Lebens. Florenz gibt uns die Ahnung, daß dieselben Kräfte, die seinen Boden geformt und seine Blumen und Bäume emporgetrieben haben, auf dem Umwege über die Hand des Künstlers auch Orcagnas Paradies und Botticellis Frühling, die Fassade von San Miniato und Giottos Campanile erzeugt haben. Darum mag das seelische Leben, das zwischen jenem dunklen Urgrund und diesen Kristallformen des Geistes vermittelte, längst verschwunden sein und mag nur einen ästhetischen Schein übriggelassen haben – er ist dennoch keine Lüge, weil in ihm das Sein mitschwebt, das ihm seinen richtigen Platz anweist. Nur wo ein Schein, dem niemals ein Sein entsprochen hat und dem selbst das ihm entgegengerichtete weggestorben ist – nur wo dieser ein Leben und eine Ganzheit zu bieten vorgibt, da ist er die Lüge schlechthin, und die Zweideutigkeit des Lebens ist zu ihm wie zu ihrem Körper zusammengeronnen. Zweideutig ist der Charakter dieser Plätze, die mit ihrer Wagenlosigkeit, ihrer engen, symmetrischen Umschlossenheit den Anschein von Zimmern annehmen, zweideutig in den engen Gassen das unausweichliche Sich-Zusammendrängen und Sich-Berühren der Menschen, das den Schein einer Vertrautheit und »Gemütlichkeit« diesem Leben gibt, dem jede Spur von Gemüt fehlt; zweideutig das Doppelleben der Stadt, einmal als der Zusammenhang der Gassen, das andere Mal als der Zusammenhang der Kanäle, so daß sie weder dem Lande noch dem Wasser angehört – sondern jedes erscheint als das proteische Gewand, hinter dem jedesmal das andere als der eigentliche Körper lockt; zweideutig sind die kleinen dunklen Kanäle, deren Wasser sich so unruhig regt und strömt – aber ohne daß eine Richtung erkennbar wäre, in der es fließt, das sich immerzu bewegt, aber sich nirgends hinbewegt. Daß unser Leben eigentlich nur ein Vordergrund ist, hinter dem als das einzig Sichere der Tod steht – dies ist der letzte Grund davon, daß das Leben, wie Schopenhauer sagt, »durchweg zweideutig« ist; denn wenn der Schein nicht aus einer Wurzel wächst, deren Säfte ihn in einer Richtung halten, so ist er der Deutung jeder Willkür preisgegeben. Nur der Kunst ist es in ihren glücklichsten Augenblicken verliehen, in den Schein ein Sein aufzunehmen und dieses zugleich mit sich selbst zu bieten. Und darum ist die Kunst erst vollendet und jenseits der Künstlichkeit, wenn sie mehr ist als Kunst. So ist Florenz, das der Seele die herrlich eindeutige Sicherheit einer Heimat gibt. Venedig aber hat die zweideutige Schönheit des Abenteuers, das wurzellos im Leben schwimmt, wie eine losgerissene Blüte im Meere, und daß es die klassische Stadt der Aventure war und blieb, ist nur die Versinnlichung vom letzten Schicksal seines Gesamtbildes, unserer Seele keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer sein zu dürfen.