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Florenz

1906

Seit das einheitliche Lebensgefühl des Altertums in die Pole Natur und Geist auseinander gebrochen ist, seit das unmittelbare, anschauliche Dasein seine Fremdheit und Gegensatz an einer Welt des Geistes und der Innerlichkeit gefunden hat – war das Problem gegeben, dessen Bewußtsein und Lösungsversuche die ganze Neuzeit erfüllen: das Problem, den beiden Parteien des Lebens die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Doch scheint dies nur dem Kunstwerk ganz erreichbar: nur hier enthüllt die Form, die die Natur gegeben hat, sich als der anschaulich gewordene Geist, er steht hier nicht mehr hinter dem Sichtbar-Natürlichen, sondern die Elemente sind so unscheidbar eins geworden, wie sie es vor ihrer Trennung durch den Prozeß des geschichtlichen Lebens waren. Wenn man aber von der Höhe von S. Miniato auf Florenz hinuntersieht, wie es von seinen Bergen gerahmt und von seinem Arno wie von einer Lebensader durchflossen ist; wenn man, die Seele erfüllt von der Kunst seiner Galerien und Paläste und Kirchen, am Nachmittag durch seine Hügel streift mit ihren Reben, Oliven, Zypressen, wo jeder Fußbreit der Wege, der Villen, der Felder gesättigt ist mit Kultur und großen Vergangenheiten, wo eine Schicht von Geist wie ein Astralleib dieser Erde um sie liegt – da erwächst ein Gefühl, als sei hier der Gegensatz von Natur und Geist nichtig geworden. Eine geheimnisvolle und doch wie mit Augen zu sehende, mit Händen zu greifende Einheit webt die Landschaft, den Duft ihres Bodens und das Leben ihrer Linien mit dem Geist, der ihre Frucht ist, zusammen, mit der Geschichte des europäischen Menschen, der hier seine Form gewann, mit der Kunst, die hier wie ein Bodenprodukt wirkt. Man begreift, daß an dieser Stelle die Renaissance entstanden ist, das erste Gefühl, daß alle Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Kunst sucht, sich als eine Herausbildung aus der natürlich gegebenen Erscheinung der Dinge einstellt, und daß die Renaissancekünstler, auch die der souveränsten Stilisierung, meinen durften, sie schrieben nur die Natur ab. Hier ist die Natur Geist geworden, ohne sich selbst aufzugeben. Jeder dieser Hügel symbolisiert die Einheit, in der die Gegensätze des Lebens zu Geschwistern werden: indem jeder sich zu einer Villa, einer Kirche erhebt, scheint die Natur überall auf die Krönung durch den Geist hinzuwachsen. Eine fruchtbare, der Kultur entgegenkommende Erde auf Schritt und Tritt; und doch kein üppig südlicher Überreichtum, der den Menschen vergewaltigt. Es gibt einen tropischen Reichtum des äußeren wie inneren Daseins, dem keine Kunst gewachsen ist; diesen hier aber konnte die menschliche Kraft von sich aus formen. Es geht auf diesen letzten Zug des Florentiner Lebens zurück, wenn Benozzo Gozzoli und andere die Landschaft hier als einen Garten darstellen: eingeteilt mit Beeten, Hecken, wohlangeordneten Bäumen; die Natur ist ihnen gar nicht anders ideal vorstellbar als in der Formung durch den Geist. Indem so die Spannung zwischen Natur und Geist sich löst, entsteht die ästhetische Stimmung, das Gefühl, einem Kunstwerk gegenüber zu stehen. Es gibt vielleicht keine zweite Stadt, deren Gesamteindruck, ihr Anschauliches und ihre Erinnerungen, ihre Natur und ihre Kultur so zusammenwirkend, in dem Beschauer so stark den Eindruck des Kunstwerks erzeugte, bis in das äußerlichste hin: auch die kahlen Berge hinter Fiesole, die nicht wie alle näheren Hügel die Zeichen menschlicher Tätigkeit tragen, wirken gerade nur wie die Einfassung des durch den Geist und die Kultur charakterisierten Bildes und werden so in dessen Gesamtcharakter hineingezogen wie der Rahmen in das Gemälde, dessen Sinne er gerade durch sein Anderssein dient, weil er es damit als einen für sich bestehenden, sich selbst genügenden Organismus zusammenschließt.

Die Einheit des Bildes von Florenz gibt jeder seiner Einzelheiten eine tiefere und weitere Bedeutung, nur der vergleichbar, die die Einzelheit des Kunstwerks durch ihre Eingliederung in dieses gewinnt, Mohnblumen und Ginster, Villen, wie Geheimnisse verschlossen, und spielende Kinder, Bläue und Gewölk des Himmels – wie alles dies überall in der Welt zu finden ist und überall schön ist, wird es hier dennoch mit einem ganz andern seelisch-ästhetischen Schwergewicht und Peripherie ausgestattet, weil nichts durch seine einzelne Schönheit allein entzückt, sondern ein jedes an einer übergreifenden Gesamtschönheit teilhat. Und nicht nur das Nebeneinander aller anschaulichen Elemente und das von Natur und Geist, sondern auch das Nacheinander von Vergangenheit und Gegenwart sammelt der Eindruck von Florenz und seiner Landschaft wie in einem Punkte. Die große Vergangenheit ist zwar mit dem Leben des gegenwärtigen Florenz schmerzlich wenig verbunden, aber sie lebt für sich zu stark, zu unmittelbar ergreifend, als daß das romantische Gefühl des Abgrunds zwischen einst und jetzt mächtig werden könnte. Die Elemente der Romantik sind freilich allenthalben vorhanden: das alte Gemäuer, den Berg hinan gelegen, die Villa auf der Höhe mit den alten Zypressen, die einsamen Burgtürme in der Umgebung – alles dies ist spezifisch romantisch, aber ganz ohne die Sehnsucht der deutschen Romantik, in der alles einem Verlorenen, vielleicht nie Gewesenen nachtrauert. Denn die Vergangenheit ist anschaulich geblieben und hat dadurch eine eigentümliche Gegenwart, die sich neben die andere, vom Tage getragene stellt, ohne sie doch zu berühren. Die Zeit stiftet hier nicht die zerrüttende Spannung zwischen den Dingen, wie die reale, sondern gleicht der ideellen Zeit, in der das Kunstwerk lebt, die Vergangenheit ist hier unser eigen wie die Natur, die auch immer Gegenwart ist. Alle Romantik lebt von jener Spannung zwischen der Wirklichkeit und der Vergangenheit, der Zukunft, der Idealität, der Möglichkeit oder auch der Unmöglichkeit. Diese Landschaft aber ist wie ein italienisches Porträt, in dessen Zügen auch alles ausgebreitet ist, alles da ist, die schließlich alles sagen, was sie zu sagen haben – im wesentlichen Unterschied gegen die nordische Art der Menschen, die sich überhaupt mit andern Mitteln gibt, durch Hindeutungen, Beleuchtungen, Symbolisierungen, Zusammengefaßtheiten, in denen eben die Wesensinhalte nicht nebeneinander daliegen, sondern die ein Nachleben des Nacheinander des Lebens vom Beschauer verlangen. Der Landschaft von Florenz fehlt alles Symbolische, das die Alpen und die Heide, der Wald und das Meer besitzen. Sie bedeutet nichts, sie ist, was sie sein kann.

Um alles dieses willen wird das Leben dort so merkwürdig ganz, als schlössen sich hier die Lücken, die ihm sonst aus der Entzweiung seiner Elemente kommen. Es ist, als suchte diese Stadt aus allen Winkeln der Seele alles Reife, Heitere, Lebensvolle zusammen und bildete daraus ein Ganzes, indem sie plötzlich den inneren Zusammenhang und Einheit davon fühlbar macht. Was aber Florenz freilich versagen muß, weil es gerade dieses gibt, das ist – wie um doch so viel, wie es kann, davon gutzumachen – innerhalb seiner selbst symbolisiert: in der Mediceerkapelle. Sie ist viel mehr römisch als florentinisch. Das Schicksal, überhaupt eine so ungeheure Vergangenheit zu haben, gleichviel noch was ihr Inhalt gewesen ist – dieses Schicksal lastet auf Rom und gibt seinem Lebensrhythmus eine schwere Würde, eine tragische Spannung, die sich in Florenz löst, wo das Leben gleichsam die Arme öffnet, um jede Vergangenheit mit Liebe aufzunehmen. Die Figuren Michelangelos aber tragen jenes Verhängnis einer unerlösten Vergangenheit, sie sind alle wie von einer Erstarrung über die Unbegreiflichkeit des Lebens ergriffen, über das Unvermögen der Seele, alle die Zerrissenheiten der Schicksale in der Einheit eines Lebensgefühles zu sammeln. Und die florentinische Einheit von Natur und Geist hat Michelangelo nicht weniger ins Tragische gewendet. Gewiß ist das Innen und das Außen, die Seele und ihre Erscheinung, gleichmäßig von seiner Kunstform zusammengehalten. Allein die Spannung zwischen beiden ist so gewaltig, ja gewaltsam, daß sie fortwährend auseinanderzubrechen drohen und nur wie durch ein fortwährendes Aufrufen der äußersten Kraftreserven ihre Einheit bewahren. Es ist, als hätte er jede Gestalt in dem Augenblick gefaßt, wo in ihr der Kampf zwischen der dunklen Last der irdischen Schwere und der Sehnsucht des Geistes nach Licht und Freiheit zum Stehen gekommen ist. Daß die Einheit, in die die Kunst das Leben faßt, zwei unversöhnliche Parteien in sich begreift, lehrt jede Linie Michelangelos: das Bild von Florenz – seiner Landschaft, seiner Kultur, seiner Kunst – will uns überreden, daß die Parteien der Wirklichkeit in ein Daseinsgefühl zusammenwachsen. So sprechen beide dasselbe aus, aber je nachdem der Ton auf der Zweiheit in aller Einheit oder auf der Einheit in aller Zweiheit liegt, trennen sich zwei Welten, zwischen denen das innerste Leben sich entscheiden muß, auf die eine verzichten, wenn es die andere besitzen will.

Und nun ein letztes. Weil über der Natur hier überall die Form der Kultur liegt, weil jeder Schritt auf diesem Boden an die Geschichte des Geistes rührt, der sich mit ihm untrennbar vermählt hat, – bleiben die Bedürfnisse unerfüllt, die nur die Natur in ihrem ursprünglichen Sein, jenseits aller Weiterführung durch den Geist, befriedigen kann: die inneren Grenzen von Florenz sind die Grenzen der Kunst. Die Erde um Florenz ist keine, auf die man sich niederwirft, um das Herz des Daseins in seiner dunklen Wärme, seiner ungeformten Stärke schlagen zu fühlen – wie wir es im deutschen Wald und am Meer und selbst in irgend einem Blumengärtchen einer namenlosen Kleinstadt spüren können. Darum ist Florenz kein Boden für uns in Epochen, in denen man noch einmal von vorn anfangen, sich noch einmal den Quellen des Lebens gegenüberstellen will, wo man aus den Wirrnissen der Seele sich an dem ganz ursprünglichen Dasein orientieren muß. Florenz ist das Glück der ganz reifen Menschen, die das Wesentliche des Lebens errungen oder darauf verzichtet haben und für diesen Besitz oder diesen Verzicht nur noch seine Form suchen wollen.


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