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Das Abendmahl Lionardo da Vincis

1905

I

An den Künstlern höchsten Ranges vollzieht das Greisentum manchmal eine Entwicklung, die ihr Reinstes und Wesentlichstes scheinbar gerade durch den natürlichen Verfall des Alters hervortreten läßt: indem die Kraft der Formgebung, der Reiz der sinnlichen Gestaltung, die unbefangene Hingabe an die gegebene Welt herabsinken, bleiben nur die ganz großen Linien, das Tiefste und Eigenste der Produktivität sozusagen übrig. So Goethe im zweiten Teil des Faust, so Beethoven in den letzten Quartetten. Während an den Durchschnitts- und Zufallsmenschen das Alter sinnlos herumnagt, ihr Wesentliches wie ihr Wertloses, wie es gerade kommt, vernichtend, ist es das Privileg einiger großen Menschen, daß die Natur, auch wo sie zerstört, es an ihnen wie nach höherem Plane tut und die Vernichtung zum Mittel macht, ihr Ewiges aus ihrer Oberfläche und dem, was nicht ihr reines Eigen ist, zu lösen.

Angesichts der spärlichen Reste, die jahrhundertelange Zerstörungen jeder Art an Lionardos Abendmahl im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand übrig gelassen haben, scheint sich jenes Schicksal großer Künstler auf das große Kunstwerk übertragen zu haben. Denn was von ihm geblieben ist, wirkt so schlechthin einzig mit so ungeteilter Kraft aus den Tiefen aller Kunst hervorbrechend, als wären all die abgefallenen Farbenteilchen von einer Oberfläche weggeblättert, den wesentlichen Kern dahinter nicht berührend, ja, ihn immer sichtbarer machend; und als würde noch in dem Augenblick, bevor einmal sein letzter Schimmer verschwindet, in diesem die ganze Macht und innere Unvergänglichkeit, wie hinter zerbrochener äußerer Schale, aufleuchten.

II

Die künstlerischen Aufgaben, die Lionardo sich hier gestellt hat, sind durch dieses Bild zum Gemeinbesitz aller folgenden Entwicklung der Malerei geworden: bei mangelnder Kenntnis der vorangegangenen könnte deshalb die unerhörte Größe der Leistung, die völlige Neuheit der durch sie geschaffenen Welt sich verbergen – wenn nicht die hier zuerst aufkommenden Probleme hier zugleich vollendeter als je nachher gelöst wären. Es ist nicht nur ein erster Anfang, sondern ein letztes Ende. Vor allem: zum ersten Male ist eine Situation gezeigt, die, eine große Anzahl von Personen gleichzeitig ergreifend, jede von ihnen zum stärksten, vollendetsten Ausdruck ihres besonderen Wesens bringt. Gewiß haben schon Giotto und Duccio die gemeinsame Erregung einer Menge zum Ausdruck gebracht. Allein die Menschen bleiben bei ihnen sozusagen anonym, selbstlose Träger eines Affekts, bloße Beispiele eines Allgemeinbegriffs von Stimmung oder Leidenschaft. Im Abendmahl Lionardos treibt die Erregung, was ihr vorher nie gelang, das tiefste, als einzigartig empfundene Persönliche in die Erscheinung. Wie etwas Selbstverständliches erscheint hier das Wunderbare: ein äußeres Ereignis – das Wort des Heilands: »Einer unter euch ist, der mich verraten wird« – kommt über eine Anzahl völlig verschiedener Menschen und veranlaßt jeden Einzelnen von ihnen zur vollsten Entwicklung und Offenbarung seiner individuellen Eigenart. Der Vorgang und die Teilnehmer sind so zu einander geordnet, daß jener sozusagen an den Einzigkeitspunkt in jedem der letzteren rührt. Zum ersten Male ist hier in einem Gruppenbild jene volle innere Freiheit der Persönlichkeiten errungen, mit der die Renaissance die Befangenheit des mittelalterlichen Menschen überwunden und der Neuzeit ihr Stichwort gegeben hat, die Freiheit, für welche die ganze Welt und ihr Geschehen nur ein Mittel und eine Anregung ist, durch die das Ich zu sich selbst kommt. Die Spannung, die sonst zwischen dem beharrenden Charakter des Menschen und der momentanen, durch äußere Mächte veranlaßten Erregung besteht, zeigt sich hier wie in einer höheren Einheit gelöst; diese Erregung wird zum Kanal, durch den das eigentliche Sein der Individuen hemmungslos nach außen flutet, durch die die körperliche Erscheinung zur restlosen Offenbarung unermeßlich verschiedener Temperamente, seelischer Werte, tiefster Seinsgründe wird. Es ist doch überhaupt Sinn und Glück der Kunst, daß sie Erscheinungsreihen, die in der Wirklichkeit gleichgültig, zufällig, feindlich nebeneinander laufen, als tief verbundene enthüllt, in einer Harmonie einbegriffen, eine als das Symbol der anderen: der Sinn des Gedichts und die Hörbarkeit seiner Worte, deren klanglicher Rhythmus mit jenem Schritt hält, im Gegensatz zu der Zufälligkeit ihrer Begegnung in der unkünstlerischen Äußerung; die blinde Notwendigkeit in den Dingen und Ereignissen und die spielende Freiheit, mit der der Künstler sie so noch einmal erzeugt, als wäre der Grund in ihm, aus dem heraus er schafft, eben derselbe, aus dem der Natur ihre völlig anders formulierte Gesetzlichkeit kommt; der sinnliche Reiz der geklärten Raumform, der verteilten Farbflecken, der Licht- und Schattenspiele, mit dem das Porträt sich schmücken muß, während es doch zugleich den Ansprüchen aus ganz anderen Ordnungen der Dinge gehorcht: der Ähnlichkeit mit dem Modell mit all seinen Zufälligkeiten und dem Ausdruck der Seele, die hinter aller Erscheinung überhaupt steht. Das Abendmahl hat diesen Harmonien, mit denen die Kunst die Zufälligkeit des Lebens überwindet, eine neue hinzugefügt: ein ungeheures Schicksal, mit jenen Worten Christi von einem Punkte ausgehend und in ihn zurückkehrend, zwingt die Jünger nicht mehr in eine Gleichheit des Affektes und Ausdrucks, sondern wirkt auf jeden, als wäre sie gerade auf seine Persönlichkeit eingestellt, als gewänne dasjenige, worin jeder Erlebende völlig einzig ist, erst durch diese Gemeinsamkeit des Erlebens seine rückstandslose Entwicklung und Offenbarung.

Darum gibt es in diesem Bilde – vielleicht als in dem einzigen von gleicher Figurenzahl – keine Nebenpersonen. Wo das ganze und tiefste Wesen eines Menschen sich darbietet, kann er nicht mehr zur Nebenfigur werden, deren Sinn es immer ist, daß sie nur mit einem Stück ihrer Existenz in das Kunstwerk hineinreicht, während die Hauptfiguren die Summe ihres Daseins in dessen Grenzen zusammenfassen. Das Lebensproblem der modernen Gesellschaft: wie aus individuell absolut verschiedenen und dabei gleichberechtigten Persönlichkeiten eine organische Geschlossenheit und Einheit werden könnte – ist hier in der Vorwegnahme durch die Kunst »im Bilde« gelöst.

III

Es ist wohl kaum darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Abendmahl in ganz verschiedenen Zeitmomenten vor sich geht. Die Ausdrucksbewegungen der verschiedenen Gruppen stellen den Erfolg und das Weiterklingen des entscheidenden Eindrucks jenes Wortes Christi in mannigfaltigen Zeitabständen von seinem Eintreten dar. Für die Gruppe ganz rechts muß das erregende Wort schon ein paar Minuten zuvor gesprochen sein, es ist ein Augenblick aus einer schon begonnenen Diskussion: für manche Jünger hat schon eine Art Reflexion begonnen, der allererste Eindruck muß vorbei sein: Judas aber zeigt die erste, momentane Überraschung, die schon in der nächsten Minute in eine andere Geste übergehen mußte: für die stehende Figur rechts wäre etwa ein Zeitpunkt zwischen der Momentreaktion des Judas und der schon relativ ruhigeren bei anderen Jüngern der psychologisch wahrscheinliche. Es antwortet hier nicht nur jede dieser Seelen auf die tiefste Erschütterung ihres Lebens in der Art, die die ganze Formel ihres Seins vor uns ausbreitet, sondern es ist auch der Moment im Ablauf der Erschütterung gewählt, in dem diese Ausbreitung am vollsten und klarsten geschehen kann. Und dies konnte nicht bei allen der allererste Moment sein. »Die ersten Gedanken«, sagt Lessing einmal, »sind jedermanns Gedanken«; d. h. die unmittelbare, reflexartige Reaktion müßte bei allen ungefähr gleich ausgesehen haben, die Seele braucht einige Zeit, damit der ersten Überwältigung gegenüber ihre besondere Gefühlsweise sich aufarbeitete, und ungleiche Seelen brauchen dazu ungleiche Zeiten. Die Einheit der Zeit wird zerbrochen, um die Einheit der seelischen Steigerungen bis auf den Höhepunkt ihrer ästhetischen Wirkung zu erreichen.

Damit hat Lionardo das Wesensprinzip der Kunst über eine Existenzform souverän gemacht, die ihr die härteste Eigengesetzlichkeit entgegenzusetzen scheint. Die Kunst drückt die Inhalte der Wirklichkeit in einer völlig anderen Sprache aus, als die Wirklichkeit selbst es tut. Daß in aller bildenden Kunst die schwingende Bewegung des Lebens in Starrheit übergeht, in der Plastik die Vielheit der natürlichen Farben in eine Einheit, in der Malerei die Greifbarkeit des Dreidimensionalen in bloße Flächenerscheinung – dies sind nur die allerunableugbarsten Besonderungen zwischen Wirklichkeit und Kunst. Aber man sieht allmählich ein, daß auch der Raum, den das Bild darstellt, keineswegs eine Kopie des realen Raumes ist, sondern ein ideales, von den Bedürfnissen der Kunst aus gestaltetes Gebilde. So ist im Abendmahl ein ganz neuer Zeitbegriff geschaffen: eine Zeit, die nicht ein gleichgültiges Gefäß für jedes beliebige Zugleich oder Nacheinander ist, sondern die das Bedeutsame und inhaltlich sich Fordernde zusammenführt, gleichviel, wie es sich in der realen Zeit anordnet. Der Zwang, den diese ausübt, wenn wir das Leben seiner Wirklichkeit nach aufnehmen, ist gebrochen, sobald es von den Forderungen der Kunst ergriffen wird. Hier ist der Abstand überwunden, in dem die Wirklichkeitsreihen das von den künstlerischen Notwendigkeiten aus Zusammengehörige halten. Die erzählenden Bilder des Quattrocento hatten sich noch der Form der realen Zeit gefügt, selbst da, wo sie naiverweise verschiedene Stadien einer Ereignisreihe in einen Rahmen zusammenbrachten: die Bilder des Trecento hatten allerdings eine »Zeitlosigkeit« gewonnen, aber um den Preis, auf jenen Reichtum des Lebens zu verzichten, der sich nur in der Zeitform darstellen kann. Lionardo aber hat das zeitliche Geschehen selbst zum Mittel einer zeitlosen, d. h. alle Bedingtheit ablehnenden, nur die rein innere Bedeutung des Gegenstandes vortragenden Kunstwirklichkeit gemacht.

Indem das Abendmahl sich in ganz verschiedenen Augenblicken der realen Zeit ereignet, hat die Gestaltungskraft der Kunst ihre Autonomie auch an der Zeitform des Daseins erwiesen, der gegenüber Machtlosigkeit und Hinnehmen des Gegebenen unser unabänderliches Los zu sein schienen.


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