Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein ästhetischer Versuch
1902
Der Charakter der Dinge hängt in letzter Instanz davon ab, ob sie Ganze oder Teile sind. Ob ein Dasein, sich selbst genügend, in sich geschlossen, nur durch das Gesetz seines eigenen Wesens bestimmt wird, oder ob es als Glied im Zusammenhange eines Ganzen steht, aus dem ihm erst Kraft und Sinn kommt – das unterscheidet die Seele von allem Materiellen, den Freien von dem bloßen Sozialwesen, die sittliche Persönlichkeit von dem, den sinnliche Begier in die Abhängigkeit von allem Gegebenen verflicht. Und es scheidet das Kunstwerk von jedem Stück Natur. Denn als natürliches Dasein ist jedes Ding ein bloßer Durchgangspunkt ununterbrochen fließender Energien und Stoffe, verständlich nur aus Vorangehendem, bedeutsam nur als Element des gesamten Naturprozesses. Das Wesen des Kunstwerkes aber ist, ein Ganzes für sich zu sein, keiner Beziehung zu einem Draußen bedürftig, jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnend. Indem das Kunstwerk ist, was sonst nur die Welt als ganze oder die Seele sein kann: eine Einheit aus Einzelheiten – schließt es sich, als eine Welt für sich, gegen alles ihm Äußere ab. So bedeuten seine Grenzen etwas ganz anderes, als was man an einem natürlichen Dinge Grenzen nennt: bei diesem sind sie nur der Ort fortwährender Exosmose und Endosmose mit allem Jenseitigen, dort aber jener unbedingte Abschluß, der die Gleichgültigkeit und Abwehr nach außen und den vereinheitlichenden Zusammenschluß nach innen in einem Akte ausübt. Was der Rahmen dem Kunstwerk leistet, ist, daß er diese Doppelfunktion seiner Grenze symbolisiert und verstärkt. Er schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird. Distanz eines Wesens gegen uns bedeutet in allem Seelischen: Einheit dieses Wesens in sich. Denn nur in dem Maße, in dem ein Wesen in sich geschlossen ist, besitzt es den Bezirk, in den niemand eindringen kann, das Für-sich-Sein, mit dem es sich gegen jeden anderen reserviert.
Distanz und Einheit, Antithese gegen uns und Synthese in sich, sind Wechselbegriffe; die beiden ersten Eigenschaften des Kunstwerks: die innere Einheit und daß es in einer Sphäre sei, die von allem unmittelbaren Leben abgerückt ist – sind eine und dieselbe, nur von zwei verschiedenen Seiten gesehen. Und erst wenn und weil das Kunstwerk diese Selbstgenugsamkeit besitzt, hat es uns so viel zu geben, jenes Für-sich-Sein ist der Anlaufrückschritt, mit dem es um so tiefer und voller in uns eingeht. Das Gefühl des unverdienten Geschenkes, mit dem es uns beglückt, stammt aus dem Stolze dieser in sich befriedigten Geschlossenheit, mit der es nun dennoch unser eigen wird.
Die Eigenschaften des Bildrahmens enthüllen sich als Hilfen und Versinnlichungen solcher inneren Einheit des Bildes. Anhebend von scheinbar so Zufälligem wie die Fugen zwischen seinen Seiten. An ihnen gleitet der Blick nach innen; indem das Auge sie auf ihren ideellen Schnittpunkt zu verlängert, wird die Beziehung des Bildes auf sein Zentrum von allen Seiten her betont. Diese zusammenführende Wirkung der Rahmenfugen verstärkt man ersichtlich, indem man die äußeren Rahmenseiten den inneren gegenüber etwas erhöht, so daß die vier Seiten konvergierende Ebenen bilden. Aus dem gleichen Motiv aber erscheint mir eine jetzt häufige Form völlig verwerflich: die Erhöhung der inneren Rahmenseiten, so daß der Rahmen nach außen abfällt. Da der Blick, wie die körperliche Bewegung, leichter vom Hohen zum Tieferen geht als umgekehrt, so wird er auf diese Weise unvermeidlich vom Bilde weg nach außen geführt, und der Zusammenhalt des Bildes einer zentrifugalen Zerstreuung ausgesetzt.
Weniger der synthetischen als der abschließenden Funktion dient es, daß die Rahmenseite von zwei Leisten eingefaßt ist. Dadurch verläuft das ganze Ornament oder die Profilierung des Rahmens wie ein Strom zwischen zwei Ufern. Und eben dies begünstigt jene inselhafte Stellung, deren das Kunstwerk der Außenwelt gegenüber bedarf. Es ist deshalb von äußerster Wichtigkeit, daß die Zeichnung des Rahmens dies kontinuierliche Fließen des Blickes, als ob er immer in sich zurückströme, ermögliche. Deshalb darf der Rahmen nirgends durch seine Konfiguration eine Lücke oder Brücke bieten, an der sozusagen die Welt hinein könnte oder an der es in die Welt hinaus könnte – wie dies z. B. durch die Fortsetzung des Bildinhaltes in den Rahmen hinein geschieht, eine zum Glück seltene Verirrung, die das Für-sich-Sein des Kunstwerks und eben damit den Sinn des Rahmens völlig verneint. Die in sich schließende Strömung des Rahmens bedeutet aber nicht etwa, daß das Rahmenornament in sich seiner Einfassung parallel verlaufen müßte. Im Gegenteil, gerade um den Fluß des Rahmens, der das Bild zur Insel macht, deutlich hervorzuheben, müssen Linien des Ornamentes stark, bis zur Senkrechten, von dieser Parallelität abweichen. Alle zur Rahmenseite quer stehenden Linien bilden Stauungen jenes Stromes in ihm, dessen Kraft und Bewegtheit, von uns ästhetisch nachgefühlt, sich an der Überwindung solcher Hemmungen steigert und verdeutlicht. Die ganze Bildung des Rahmenornamentes findet ihr Regulativ an dem Eindruck des Fließens und Sichschließens, durch die er die Abtrennung des Bildes von allem Ringsumher betont; so daß jede trennende Linie in dem Maße gerechtfertigt ist, in dem sie jenen Eindruck auf sein Maximum heben hilft. Aus dem gleichen Motiv wird die längst bewährte Praxis verständlich, dem kleineren Bilde den breiteren, jedenfalls den energischer wirkenden Rahmen zu geben. Denn der Gefahr für dieses, in der zugleich erblickten Umgebung zu verschwimmen, ihr gegenüber nicht hinreichend selbständig hervorzutreten, muß mit stärkeren Abschlußmitteln begegnet werden als bei dem ganz großen Bilde, das einen erheblichen Teil des Sehfeldes für sich allein ausfüllt; indem das letztere von seiner Umgebung keine Konkurrenz für die selbständige Bedeutsamkeit seines Eindrucks zu fürchten braucht, kann es sich mit einem minimalen Rahmenabschluß begnügen.
Der Endzweck des Rahmens beweist die Unzulässigkeit der hie und da auftauchenden Stoffrahmen; ein Stück Stoff wird als Stück eines viel weiter gehenden Stoffes empfunden, es hat keinen inneren Grund, daß das Muster gerade an dieser Stelle abgeschnitten wird, es weist von sich aus auf eine unbegrenzte Fortsetzung hin – der Stoffrahmen entbehrt deshalb des durch die Form gerechtfertigten Abschlusses und kann also nicht etwas anderes abschließen. Bei ungemusterten Stoffen, wo dieser Mangel an Geschlossenheit und Abschlußfähigkeit weniger hervortritt, genügt schon die Weichheit des Randes, des ganzen Stoffeindrucks überhaupt, um den gleichen Mangel zu produzieren. Es fehlt dem Stoff an der eigenen organischen Struktur, durch die das Holz eine so wirksame und doch bescheidene Geschlossenheit in sich selbst erhält – die an dem imitierten Rahmen schmerzlich vermißt wird, während sie an dem geschnitzten Goldrahmen trotz des Überzuges fühlbar wird. Denn er verdeckt nicht die leisen Unregelmäßigkeiten der Handarbeit, durch die deren organische Lebendigkeit aller Korrektheit der Maschine überlegen ist.
Das richtig verstandene Prinzip erklärt, weshalb man jetzt in einigermaßen geschmackvollen Milieus Photographien nach der Natur nicht mehr in Rahmen findet. Der Rahmen schickt sich nur für Gebilde von abgeschlossener Einheit, wie sie ein Stück Natur niemals hat. Jeder Ausschnitt der unmittelbaren Natur ist durch tausend räumliche, historische, begriffliche, gemütliche Beziehungen mit alledem verbunden, das in größerer oder geringerer, physischer oder seelischer Nähe es umgibt. Erst die Kunstform schneidet diese Fäden durch und knüpft sie gleichsam nach innen zusammen. An dem Stück Natur, das wir instinktiv als bloßen Teil in dem Zusammenhange des großen Ganzen fühlen, ist deshalb der Rahmen in demselben Maße widerspruchsvoll und gewalttätig, in dem das innere Lebensprinzip des Kunstwerkes ihn verträgt und fordert.
Ein anderes prinzipielles Mißverständnis, unter dem der Rahmen leidet, ist ein Abkömmling moderner Möbelsünden. Der Grundsatz, daß das Möbel ein Kunstwerk sei, hat mit vielem Ungeschmack und öder Banalität aufgeräumt; aber sein Recht ist nicht so positiv und unbegrenzt, als das günstige Vorurteil für ihn meinen läßt. Das Kunstwerk ist etwas für sich, das Möbel ist etwas für uns. Jenes, als Versinnlichung einer seelischen Einheit, mag noch so individuell sein: in unserem Zimmer hängend, stört es unsere Kreise nicht, da es einen Rahmen hat, das heißt da es wie eine Insel in der Welt ist, die wartet, bis man zu ihr kommt, und an der man auch vorüberfahren und vorübersehen kann. Das Möbelstück aber berühren wir fortwährend, es mischt sich in unser Leben und hat deshalb kein Recht auf Für-sich-Sein. Manches moderne Möbel erscheint, weil es der unmittelbare Ausdruck individuellen Künstlertums ist, degradiert, wenn man darauf sitzt; es schreit förmlich nach einem Rahmen, und ohne diesen im Zimmer stehend unterdrückt es den Menschen, der doch mit seiner Individualität schließlich die Hauptsache, und jenes nur der Hintergrund sein soll. Es ist eine Hypertrophie des modernen Individualitätssinnes, wenn man allenthalben die Individualität des Möbels predigen hört. Es ist dieselbe Rangverkennung, wenn man dem Rahmen einen ästhetischen Selbstwert verleihen will: durch figürliche Ornamente, durch den eigenen Reiz der Farbe, durch Formung oder Symbolik, die ihn zum Ausdruck einer selbstgenugsamen Kunstidee machen. Alles dies verschiebt die dienende Stellung des Rahmens gegenüber dem Bilde. Wie der Rahmen einer Seele nur ein Körper sein kann, nicht aber wieder eine Seele – so kann ein Kunstwerk, das etwas für sich ist, nicht als Rahmen das Für-sich-Sein eines anderen betonen und stützen: die Resignation, deren es dazu bedarf, schließt das Kunstsein aus.
Wie das Möbel, soll er keine Individualität, sondern einen Stil haben. Stil ist Entlastung der Persönlichkeit, Ablösung der individuellen Zuspitzung durch ein breiteres Allgemeines; während deshalb ein Gegenstand des Kunstgewerbes es sofort in den Vordergrund des Bewußtseins rückt, in welchem Stil es ist, fragen wir einem Kunstwerk gegenüber viel weniger danach, ja bei den größten Kunstwerken ist uns ihr Stil eigentlich sehr gleichgültig: das Individuelle überragt hier schlechthin das Allgemeine, das wir den Stil nennen und das der einzelne Gegenstand mit unzähligen teilt; in diesem überindividuellen Charakter liegt das Gedämpfte und Beruhigende, das von allen streng stilisierten Gegenständen ausgeht. Am Menschenwerk ist der Stil ein Mittleres zwischen der Einzigkeit der individuellen Seele und der absoluten Allgemeinheit der Natur. Deshalb umgibt sich der Mensch in seinem kulturellen Niveau, das ihn von der bloß natürlichen Welt trennt, mit stilisierten Objekten, und deshalb ist für den Rahmen des Kunstwerks, das in seinem Verhältnis zur Umgebung das der Seele zur Welt wiederholt, der Stil, und nicht die Individualisierung, das rechte Lebensprinzip.
Wenn also die ästhetische Position des Rahmens nicht weniger durch eine gewisse Indifferenz als durch jene Energien seiner Formen bestimmt wird, deren gleichmäßiges Fließen ihn als den bloßen Grenzhüter des Bildes charakterisiert – so scheinen gerade ganz alte Rahmen dem zu widersprechen. Hier sind die Seiten oft als Pilaster oder als Säulen gebildet, die ein Gesims oder einen Giebel tragen: dadurch ist jeder Teil und das Ganze sehr viel differenzierter und bedeutsamer als bei einem modernen Rahmen, dessen vier Seiten ohne weiteres für einander vikariieren können. Durch diese schwere Architektonik, durch das arbeitsteilige Einander-Bedürfen seiner Elemente wird freilich der innere Schluß des Rahmens aufs höchste gesteigert; allein er erhält dadurch ein eigenes organisches Leben und Gewichtigkeit, die mit seiner Funktion als bloßer Rahmen in herabsetzende Konkurrenz treten. Dies mag gerechtfertigt sein, solange die innere künstlerische Einheit des Bildes, die es in sich zusammen- und von der Welt abschließt, noch nicht hinreichend stark empfunden wurde. Wenn das Bild gottesdienstlichen Zwecken diente, wenn es in das religiöse Erlebnis hineingezogen wurde, wenn es durch Spruchbänder oder sonstige Interpretationen sich direkt an die Intelligenz des Beschauers wendete – so bemächtigten damit außerartistische Sphären sich seiner und drohten seine formale künstlerische Einheit zu durchbrechen. Dem begegnet die Dynamik des architektonischen Rahmens, dessen aufeinander hinweisende Teile einen undurchbrechlich starken Zusammenhang – und dadurch Abschluß – bilden. Je mehr das Kunstwerk solche ihm jenseitigen Beziehungen ablehnt, desto mehr kann es der Rahmenkräfte entbehren, die durch ihre eigene organische Lebendigkeit doch ihre dienende Funktion wieder desavouieren.
Daß dem architektonischen Rahmen gegenüber der moderne Rahmen mit dem viel mechanischeren, schematischen Charakter seiner vier gleichen Seiten einen Fortschritt darstellt, ordnet den Rahmen in ein weitgreifendes Prinzip der Kulturentwicklung ein. Diese führt nämlich keineswegs immer das einzelne Element von mechanistisch-äußerlicher zu organisch beseelter, für sich sinnvoller Form. Im Gegenteil: wenn der Geist den Stoff des Daseins immer umfänglicher und zu immer höheren Gestaltungen organisiert, werden unzählige Gebilde, die bis dahin ein in sich geschlossenes, eine eigene Idee repräsentierendes Leben führten, zu bloß mechanisch wirksamen, partikulären Elementen größerer Zusammenhänge degradiert; nur diese sind jetzt die Träger der Idee geworden, jene aber bloße Mittel, deren Eigenexistenz sinnlos ist. So verhält sich der mittelalterliche Ritter zu dem Soldaten der modernen Armee, der selbständige Handwerker zu dem Fabrikarbeiter, die abgeschlossene Gemeinde zu der Stadt im modernen Staate, die hauswirtschaftliche Eigenproduktion zu der Arbeit innerhalb der geld- und weltwirtschaftlichen Organisation des Marktes. Aus den nebeneinander gelegenen, gegeneinander selbständigen, selbstgenugsamen Wesen erwächst ein übergreifendes Gebilde, an das jene gleichsam ihre Seele, ihr Für-sich-Sein abgeben, um erst als dessen mechanisch funktionierende Glieder einen Sinn ihrer Existenz zurückzugewinnen. So zeigt die mechanisch-gleichförmige, an sich bedeutungsleere Gestaltung des Rahmens gegenüber seiner architektonischen oder sonst »organischen«, daß das Verhältnis zwischen Bild und Umgebung nun erst als Ganzes aufgefaßt und adäquat ausgedrückt ist. Die scheinbar höhere Geistigkeit des an sich bedeutsamen Rahmens beweist nur die geringere Geistigkeit in der Auffassung des Ganzen, dem er angehört. Das Kunstwerk ist in der eigentlich widerspruchsvollen Lage, mit seiner Umgebung ein einheitliches Ganzes ergeben zu sollen, während es selbst doch schon ein Ganzes ist; es wiederholt damit die allgemeine Schwierigkeit des Lebens, daß die Elemente von Gesamtheiten dennoch beanspruchen, autonome Ganze für sich selbst zu sein. Es ist ersichtlich, welcher unendlich feinen Abwägung des Vor- und Zurücktretens, der Energien und der Hemmungen der Rahmen bedarf, wenn er im Anschaulichen die Aufgabe lösen soll, zwischen dem Kunstwerk und seinem Milieu, trennend und verbindend, zu vermitteln – die Aufgabe, an deren Analogie im Geschichtlichen das Individuum und die Gesellschaft sich gegenseitig zerreiben.