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Das Problem des Porträts

1918

Die allgemeine Meinung wird es für die Aufgabe der Malerei erklären, die Sichtbarkeit der Welt im Bilde, das heißt nach den Gesetzen künstlerischer Formung darzustellen. Aber diese Sichtbarkeit der Welt enthält ein Problem, das diese einfache Formulierung nicht ohne weiteres verrät. Was wir nämlich an einem Menschen (auf ihn als Aufgabe der bildenden Kunst beschränken wir uns) wirklich sehen, das bloß Optische, sinnlich Aufgenommene seiner Erscheinung, ist keineswegs dasselbe, was wir in der Gewohnheit des täglichen Lebens als das Sichtbare bezeichnen. Denn dieses angeblich Sichtbare ist ein buntes Gemenge des wirklich Gesehenen mit Ergänzungen äußerer und innerer Art, mit Gefühlsreaktionen, Schätzungen, Verknüpftheiten mit Bewegungen und Umgebungen; dazu kommt der Wechsel in Standpunkt und Anteilnahme des Beobachters, kommen die praktischen Interessen, die sich zwischen Mensch und Mensch knüpfen, – kurz, der Mensch ist dem Menschen ein fluktuierender Komplex von Eindrücken aller Sinne und seelischen Assoziationen, von Sympathien und Antipathien, von Urteilen und Vorurteilen, Erinnerungen und Hoffnungen. Alles dies tritt uns mit der körperlichen Erscheinung des Menschen gegenüber, und aus diesem Knäuel das herauszulösen, was wir wirklich sehen, das rein sinnlich Optische daran, jenseits aller Deutungen und Hinzufügungen, uns zu besonderem Bewußtsein zu bringen, haben wir in der Regel weder Interesse noch Möglichkeit. Andrerseits sehen wir auch zu wenig, wir bemerken unzähliges Sichtbare nicht, weil unsere Aufmerksamkeit sich nicht darauf richtet, weil kein praktischer Wert sich daran knüpft. Was wir populärerweise das Bild des Menschen nennen und auch eigentlich zu sehen glauben, ist sehr viel mehr und sehr viel weniger als seine wirkliche Sichtbarkeit.

Dieses wirklich Sichtbare am Menschen herauszustellen, ist das erste Amt des Porträts; es zeigt das, was wir an dem Menschen mit dem reinen Sinne sehen, das heißt sehen könnten, wenn dieser Sinn hinreichend selbständig wäre. Das Auge des Malers hebt aus dem unabsehlich vielgliedrigen und zugleich fragmentarischen Geflecht, das uns für die Praxis des Tages den bestimmten Menschen bedeutet, das rein optische Sinnenbild heraus. Es vollzieht die Abstraktion des rein Anschaulichen aus der verworrenen Wirklichkeit des Menschen – keine intellektuelle Abstraktion natürlich, sondern eine sinnliche, und selbstverständlich keine wörtliche Reproduktion dieser Erscheinung wie die Photographie. Jedenfalls aber, da der Maler jenes rein augenmäßige, durch Form und Farbe wiederzugebende Phänomen zur Verfügung hat, so kann auch die künstlerische Umbildung, die er mit dem Naturgegebenen vornimmt, sich ausschließlich an diesem sinnlich Gegebenen vollziehen. Dies ist gar nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Immer wieder hört man, der Porträtist offenbare das, was hinter der sinnlichen Erscheinung liegt, er lege das seelische Wesen des Menschen dar, das Bild sei das Symbol für eine Idee oder einen Typus, und ähnliches. Wie das Porträt den damit bezeichneten Ansprüchen genügt, wird sich später zeigen. Unmittelbar jedenfalls sind sie ganz irrig. Nicht das jenseits der Sichtbarkeit Gelegene ist der malerische Gegenstand, sondern er selbst, rein als Erscheinung, wird durch Formung und Beleuchtung, durch Betonen und Zurückstellen, durch Verschieben und Weglassen, durch Aufbau und Wahl des Augenpunktes zu höchster Deutlichkeit gebracht, zur Höhe seines Reizes, zum Gefühl seiner Gesetzmäßigkeit. Ganz allein die sichtbare Oberfläche und das Verhältnis ihrer Teile zueinander trägt diesen Reiz und diese Gesetzmäßigkeit. Den natürlichen Zusammenhängen, die diese Oberfläche mit allem Nicht-Sichtbaren dieses Körpers und dieser Seele, dem gesamten Leben und dem Kosmos in realer Unlöslichkeit verknüpfen, entreißt der Maler allein dieses von außen Sichtbare. Rein nach den malerischen Forderungen der Klarheit, der Charakteristik, der optischen Harmonie ist es notwendig, daß dieser Mund so und so gebildet wird, wenn diese Nase dasteht, daß diese Augen gerade nur zwischen dieser Stirn und diesen Wangen stehen können. Die Struktur und Dynamik des ganzen Körpers unter der Haut, des ganzen Weltverhältnisses des Menschen ist freilich in die Oberflächenbeschaffenheit eingegangen – wie es Goethe sagt: »Es ist nichts in der Haut, was nicht im Knochen ist.« Ist diese aber erst einmal zustande gekommen, hat der Künstler erst einmal sozusagen den ganzen Menschen auf die Ebene der Sichtbarkeit projiziert, so hat er ausschließlich die Gesetzlichkeit und ästhetische Bedeutung eben dieses Sichtbaren zum Ausdruck zu bringen: sein Werk ist die Vollendung des Sehens in sich selbst, die Herausarbeitung des Sinnes der bloßen Erscheinung als solcher, ihrer Reize, ihrer inneren Notwendigkeit.

Man empfindet indes ohne weiteres, daß die Forderungen an das Porträt hiermit nicht vollständig ausgedrückt sind. Lionardos Satz: die Malerei habe zwei Dinge darzustellen, den Menschen und die Seele – enthält in vielleicht etwas primitiver Form einen Anspruch, den keine artistische Theorie einfach wegdekretieren kann. Es kann nicht ein durchgängiges Mißverständnis sein, wenn man jederzeit von dem Menschenbildnis verlangt hat, es müsse uns ein Seelisches zugängig machen, das über das unmittelbar Sinnliche, das räumlich Optische hinausreiche, und wenn man dies Verlangen auch in größerem oder geringerem Maße erfüllt findet. Unmittelbar erscheint dies durch den Eindruck gerechtfertigt, den der lebendige Mensch von der Gegenwart des anderen lebendigen Menschen erhält. Es ist nämlich die naheliegende Meinung gänzlich abzuweisen, daß wir auch hier den anderen nur mit dem Auge sehen, daß er unserer Wahrnehmung zunächst nur ein Stück farbige Materie ist, das sich bewegt und Laute von sich gibt, kurz eine Marionette ist, in die wir erst durch die Erfahrung an uns selbst, durch Assoziation und Konstruktion ein seelisches Leben, seelische Wesensart und Inhalte hineinlegen. Ich bin überzeugt, daß der Körper und die Seele nicht zwei »Teile« des Menschen sind, die ihn erst zusammensetzen und von denen der eine unmittelbar sinnlich gegeben ist, der andere erst erschlossen werden muß. Vielmehr, der Mensch ist eine lebendige Einheit, die erst durch eine nachträgliche Abstraktion in jenes beides zertrennt wird, und als diese Einheit nehmen wir ihn auch wahr. Nicht das Auge in seiner anatomischen Einzelbedeutung als ein isoliertes Instrument, sondern unser einheitliches Sein, der ganze Mensch, wird des anderen ganzen Menschen gewahr, und die einzelnen Sinne sind nur die Kanäle, durch die die Gesamtwahrnehmungskraft unseres Wesens fließt. Wie der Wahrnehmende selbst eine Totalexistenz ist, die in jeder ihrer besonderen Funktionen doch ganz lebt, so ist für ihn auch der Wahrgenommene von vornherein der beseelte Leib als eine Einheit, die nicht erst durch eine nachträgliche komplizierte Synthese zustande kommt. Freilich bewirken die Zufälligkeiten, Zersplitterungen, Unvollkommenheiten unseres empirischen Lebens, daß diese Einheit nicht in ihrer ganzen Rundheit, als restlos geschlossene wirksam wird, sie wird einseitig, fragmentarisch, durch die Schwankungen unserer Kräfte und Interessen abgebogen und zersetzt. Allein sie besteht als Grundmotiv, als zuerst und zuletzt Entscheidendes über all den Teilwahrnehmungen und Differenziertheiten, den Trennungen und Wiederzusammensetzungen, in denen der Mensch sich dem Menschen bietet. Schließlich lebt alle Kunst auf dieser Basis: daß anthropologisch Körper und Seele eine Einheit sei, wie metaphysisch Realität und Idee eine Einheit sind. Alle Bemühungen der Denker, den Zusammenhang von Körper und Seele herzustellen, als Wechselwirkung, Parallelismus oder wodurch immer, wollen nur nachträglich die auseinandergeschnittenen Stücke dessen wieder zusammenflicken, was uns tägliches unmittelbares Erlebnis ist: die Lebenseinheit des Menschen, die wir durch alle Verselbständigungen des Körpers und der Seele hindurchfühlen.

Ist aber diese Zerspaltung des Menschen einmal geschehen, so wird jede der beiden Seiten zum Ausgangspunkt für sein Verständnis; jetzt muß er gedeutet werden, statt in unmittelbarer intuitiver Auffassung ergriffen zu werden. Die Praxis des Lebens und die Kunst versuchen dies auf Wegen, die in eigentümlicher Weise gleichlaufend und entgegenlaufend sind. Das praktische Interesse knüpft sich, mit einigen auf der Hand liegenden Ausnahmen, an das seelische Verhalten der Menschen; wir werden im Fassen und Ausführen unserer Pläne, in Glück und Leiden, in Schicksal und Arbeit eben schließlich dadurch bestimmt, wie andere Menschen, das heißt, andere Seelen zu uns stehen, ob sie klüger oder törichter sind als wir, ob sie uns lieben oder hassen, ob sie unsere Bestrebungen fördern oder hemmen. Nichts anderes ist gemeint, wenn ein so praktisch realistischer Mensch wie Napoleon sagt, der Krieg wäre eine Sache der Psychologie. Im letzten Grunde ist es nächst der eigenen Seele die Seele der anderen Menschen, was unser Schicksal entscheidet. Darum ist innerhalb des praktischen Handelns der Körper des Individuums, sein Aussehen, seine Bewegungen, seine Äußerungen für die anderen Individuen nur eine Art Buchstabenschrift, die ihren uns angehenden Sinn in seinen Gesinnungen und Stimmungen, seinen Absichten und seelischen Energien hat. Auf die reine Körperlichkeit des Menschen konzentrieren wir uns aus ästhetischen oder sensuellen Gründen, aber in der eigentlich lebenbestimmenden Praxis eilen wir über sie hin zu seinen seelischen Beschaffenheiten und Bewegtheiten, für die uns seine Körperlichkeit nur die Brücke, das Symbol, der Interpret ist.

Diese Richtung des Verhältnisses von Leib und Seele dreht sich, wie wir sehen werden, für die Kunst um, und zwar auf Grund davon, daß sie schon in ihrer Voraussetzung ein besonders schwieriges Problem zeigt. Jene Lebenseinheit, jenseits der Scheidung der beiden Parteien stehend, gilt doch nur für den realen gegenwärtigen Menschen; er freilich, wie er ins Zimmer tritt, ist jene Totalexistenz, die der Beschauer auch als solche im Eindruck physisch-psychischer Ungeschiedenheit aufnimmt. Allein das Bild enthält diese Einheit jedenfalls nicht. Der Beschauer steht nicht einem vollen Leben, sondern einem Nebeneinander von Farbenflecken gegenüber, der bloßen Form und Farbe einer Oberfläche. Und nun erhebt sich eben die Frage: wie kann diese Erscheinung auf der Leinwand, diese Abstraktion, dennoch die Vorstellung eines Innenlebens, einer Seelenhaftigkeit und ihres bestimmten Charakters hervorrufen? Eine bloße Assoziation, aus der Gewohnheit heraus, immer einen menschlichen Körper mit einer Seele verbunden zu sehen, wäre eine völlig unzulängliche Erklärung. Selbst wenn wir auf solche Eigenerfahrung hin die Beseeltheit überhaupt erkennen würden, so doch niemals, welche besondere Beseeltheit. Denn dabei wäre vorausgesetzt, daß ein genau gleicher Körper in seiner Verbindung mit einer ganz bestimmten Seele bekannt wäre – was ebenso unannehmbar und phantastisch wäre, wie wenn man die jetzt geforderte Erfahrung aus einzelnen Stücken von ungefähr ähnlichen Erfahrungen zusammenleimen wollte; denn hiermit wäre das Entscheidende: die Einheit der organischen Erscheinung, die das bloße Nebeneinander der Stücke übergreift und sich gar nicht mechanisch aus ihnen zusammensetzen läßt, gerade nicht erklärt. Wir müssen also einen anderen Weg einschlagen, um die Beseeltheit des Porträts zu verstehen, dessen rein äußerlich optischen Charakter ich ja gerade vorangestellt hatte.

Aus dieser letzteren Tatsache folgt zunächst, daß das seelische Element in der bildenden Kunst eine ganz andere Art von Bedeutung hat als in der Poesie. Für diese ist das seelische Leben der Stoff ihrer künstlerischen Umgestaltung, sie organisiert und stilisiert dieses Leben, bis es über alle Wirklichkeit hinweg als geschlossene, rein künstlerische Vision dasteht. Innerhalb der bildenden Kunst aber ist das Seelische kein eigener Gegenstand der Bearbeitung, sondern es kann nur dem körperlichen Phänomen folgen: nur als Seele dieses bestimmten anschaulichen Körpers ist es dem Porträt von Wert, niemals aber für sich allein, wie der Poesie. Dieser Leistungswert seiner besteht nun darin – und das ist das Entscheidende – daß das, was wir die Einheit eines Gesichts nennen: die gleichmäßige Belebtheit der Züge, ihr gefühltes Zusammenwirken, die Bedingtheit eines jeden durch jeden anderen – daß dieses dadurch offenbart oder davon getragen wird, daß sie in ihrer Gemeinsamkeit eine Seele ausdrücken. Wenn mit Mitteln der reinen Anschaulichkeit, über die der Maler allein verfügt, eine gewisse Organisiertheit und gegenseitige Bestimmung der Formelemente erreicht ist, ein rein anschauliches Aufeinander-Hinweisen der Züge, eine Gesetzmäßigkeit in ihren Verhältnissen, so entsteht die Vorstellung der Beseelung dieser Körperlichkeit. Und, in der anderen Richtung gesehen: sobald irgendwie nur die Vorstellung der Beseeltheit von dem Oberflächenbilde ausgeht, bedingt sie in ihm eine außerordentlich verstärkte Einheit, eine Art zusammenhaltenden Lebens, als wäre die unzerlegbare Wurzel jetzt fühlbar, die all die Formen der Oberfläche emporgetrieben hat. Hier liegt in der Tat eine Art Wechselwirkung vor: die körperliche Erscheinung läßt vermöge ihrer künstlerischen Vereinheitlichtheit im Beschauer die Vorstellung einer Seele anklingen und diese wirkt zurück und gibt der Erscheinung gesteigerte Einheit, Halt, gegenseitige Rechtfertigung der Züge. Diese Wechselwirkung ist die künstlerische Form, in die sich die unmittelbare Einheit der Realität von Körper und Seele auseinanderlegt und in der sie sich von neuem beweist. Einheit in genauem Sinne ist Seele, denn alles Körperliche als solches liegt in unüberwindlichem Auseinander. Der Organismus freilich ist schon eine Einheit, aber ganz eng und streng wird sie erst im beseelten Organismus. Erst in der Seele geht eine Verwebung. eine Durchdringung, eine Innigkeit des Ineinander der Dinge vor sich, zu der die Außenwelt überhaupt keine Analogie besitzt und die die Seele eben nur dadurch, daß sie selbst Einheit ist, hervorbringen kann. Wo die Einheit der Züge auseinanderzufallen droht, wie bei weitem Aufreißen der Augen, Aufsperren des Mundes, schlaffem Herabhängen der Wangenmuskeln haben wir deshalb den entschiedenen Eindruck von herabgesetztem seelischem Leben, ja von »Entgeistertheit«. Darum ist im Kunstwerk, das die Lebenseinheit in einem bloßen Oberflächenbild darstellt, jene Einheit der Züge – wir nennen sie hier Notwendigkeit, Harmonie, Gesetzlichkeit – nichts anderes als ihr Getragensein von einer Seele. In der Wirklichkeit haben wir die naive, undifferenzierte, unmittelbar gelebte Einheit; das Kunstwerk, die Elemente auseinanderlegend und einem von ihnen die Führung übertragend, gewinnt damit eine zwar viel gefährdetere, aber auch viel tiefer notwendige, bewußter und energischer wirkende Einheit. Die Seele ist das zusammenhaltende, ordnende Gesetz der Züge, die allein die malerische Realität sind – wie das Naturgesetz weder die Sache selbst ist, noch irgendwo außerhalb der Sache ist, sondern die Ordnung und die verständliche Einheit und das gegenseitige Verhältnis der Sachen ausmacht.

Daß das überhaupt möglich ist, daß eine durch Farbflecke repräsentierte Oberfläche eine Seele in sich zu tragen scheint, daß diese empfundene Seele jene Oberfläche wieder zu einem sinnvollen, in sich einheitlichen Gebilde macht, das geht natürlich auf jenes Grundgefühl des noch nicht in Parteien auseinandergegangenen Lebens zurück. Die Richtung aber, in der die bildende Kunst diese Einheit wiederherstellt, indem sie sich ihrer für ihre Zwecke bedient, ist diese: sie benutzt sozusagen die Beseeltheit des Menschen, um für sein anschaulich künstlerisches Bild, das sie entwirft, jene Einheit, Zusammengefaßtheit, Gesetzlichkeit zu verstärktem, gesichertstem Eindruck zu bringen. Die Praxis des Lebens war umgekehrt gerichtet gewesen: Art und Bewegtheit des Körpers ist ihr ein Mittel, zur Seele zu dringen und sie zu deuten. Dies aber auch als die Absicht der Porträtkunst anzusehen, ist ein völliger Irrtum – gleichviel ob das theoretische Bewußtsein mancher Künstler ihn teilt. Es muß absolut festgehalten werden, daß dem Maler in erster und letzter Linie nur Farbflecken zur Verfügung stehen, daß sein Endzweck nur die künstlerisch vollkommene Gestaltung der optischen Erscheinung, der Oberfläche des Menschen sein kann. Diese kann für ihn unmöglich zum bloßen Mittel werden, um zu etwas zu gelangen, was nicht sichtbar ist. Malerei ist nicht Psychologie, und wenn ihr Zweck wäre, uns die Seele eines Menschen zu offenbaren, so wäre das Porträt eines Menschen ersichtlich gänzlich überflüssig, falls uns seine Seele etwa durch andere Mittel, durch unmittelbare Beobachtung, durch Zeugnisse und Bekenntnisse bekannt würde. Kunst ist, wie Schopenhauer sagt, »überall am Ziele«, sie ist kein Durchgangspunkt für anderes als sie selbst. Nur das, was außerhalb des spezifischen Sinnes des einzelnen Kunstwerks liegt, kann ihm zum Mittel werden, wie hier die Seele. Will man überhaupt von dem Begriff von Zweck und Mittel innerhalb der Kunst Gebrauch machen, – was immer etwas Bedenkliches hat – so kann alles, was jenseits der künstlerischen Vollendung der Erscheinung, rein als geformter und farbiger Erscheinung steht, nur als Mittel für eben diese Vollendung gelten. Sonst stünde das Porträt nicht über jeder Tendenzkunst, die die künstlerischen Werte zu Zwecken benutzt, die außerhalb dieser künstlerischen Werte selbst liegen.

Wenn das eigentliche Problem des Porträts: welche Bedeutung denn der Ausdruck des Seelischen für die Wiedergabe der rein körperlichen Oberfläche habe, diese Antwort findet, so ist sie natürlich eine nur prinzipielle, die in der tatsächlichen Porträtkunst in einer Unzahl von Modifikationen und Abbiegungen auftritt. Die künstlerische Umbildung fordert, daß gegenüber der empirischen Erscheinung der Eindruck der Einheit der Gesichtszüge außerordentlich verstärkt und vertieft werde. Denn von dem realen Menschen haben wir ohne weiteres, aus dem vorhin angeführten Grunde, an seinen Bewegungen und Äußerungen das Wissen um seine einheitliche Wesenheit. Das Porträt aber muß dieses Wissen durch den bloßen Anblick von stabilen Formen und Farben, insbesondere der Gesichtszüge erst erzeugen, muß jenes Gefühl des vollen Ganzen durch diesen eigentlich abstrakten Teileindruck ersetzen. Man könnte nun daran denken, statt des Eindrucks von der Seele, die diese Aufgabe löste, andere Mittel zu gebrauchen. Es ließe sich der Zusammenhalt, die Einheit, durch eine formale Gestaltung erreichen, die sich in genauerem Sinne an die bloße Oberfläche hielte. Wir nennen doch eine Arabeske auf ihre genaue Symmetrie, auf eine gewisse Harmonie und Gleichmäßigkeit ihrer Kurven und Winkel hin einheitlich, während andere mit wirren, zufälligen, voneinander unabhängigen Elementen als uneinheitlich empfunden werden. Die artistische Aufgabe der Vereinheitlichung auch der menschlichen Erscheinung wäre vielleicht auf diese ornamentale Weise und ohne die Einheitsleistung der Seele herbeizurufen lösbar. Dies Experiment ist tatsächlich in gewissem Umfang gemacht. Die Geschichte des Menschenbildnisses zeigt, daß die Erscheinung um so strenger stilisiert, um so formalsymmetrischer, bis zum Geometrischen hin, um so mehr im ornamentalen Sinne ausgeglichen und geschlossen ist, je weniger der Ausdruck der Seele gesucht wird oder gelingt. In einem großen Teil der primitiven wie der hieratisch ägyptischen Kunst wird die Erscheinung in eine Form eingestellt, die an und für sich, auch jenseits der menschlichen Gestalt, einen in sich geschlossenen Sinn hat und dadurch die Einheit des in sie Hineingestalteten von vornherein anschaulich garantiert: der Kreis, das Dreieck oder Viereck, die genaue Symmetrie der Hälften um die Mittelachse herum. Die Einheit kommt hier nicht aus dem Gegenstand selbst, wächst nicht organisch in und aus ihm, sondern es besteht ein für sich allein schon sinnvolles rationales Schema, in das die Erscheinung eingestellt wird und das ihr seine eigene Einheitlichkeit mitteilt. In der klassischen Kunst der Griechen und der Renaissance ist diese Gestaltungsart noch keineswegs ganz verschwunden, sie ist nur sehr viel biegsamer, lebendiger, komplizierter geworden und zum großen Teil schon durch die andere Form oder Kraft der Einheit ersetzt: durch den Ausdruck der Beseeltheit. Man kann genau verfolgen, daß das eine Prinzip gerade in dem Maße dominiert, in dem das andere zurücktritt. Zu vollkommener Herrschaft aber kommt die Seelenhaftigkeit als zusammenhaltende Funktion der Erscheinung, erst bei Rembrandt. Wir verstehen daraus vor allem den unendlichen Reichtum an Elementen und Nuancen, mit dem Rembrandt die frühere Kunst übertrifft. Denn soweit es noch an der Seele als allein zusammenhaltender Kraft fehlt, soweit noch ein geometrisierendes Schema sie vertritt, müssen die Elemente reduziert, vereinfacht werden, um in diesem unterzukommen. Die Seele ist ein soviel weiter ausgreifendes, tiefer erfassendes, bewegter schwingendes Gestaltungsprinzip, daß sie ihre Macht über ganz frei spielende, unendlich differenzierte, mit der Berechnung gar nicht festzulegende Elemente üben kann. Den äußersten Pol dieser Reihe stellen gewisse Porträtbüsten von Rodin dar, die mit offenbarer Absichtlichkeit noch die letzte Schematik: die Symmetrie der beiden Gesichtshälften zerstören, deren Ungleichheit fast übertreibend betonen: die Seele zeigt vielleicht erst hier das Unbegrenzte ihrer Möglichkeiten. Natürlich kann auch jene frühere Kunst des Elementes der Seele für den Zusammenhalt der menschlichen Erscheinung nicht ganz entbehren, ebensowenig wie Rembrandt dasjenige, was ich das ornamentale Prinzip nannte, gänzlich ausschaltet: das rein formale Aufeinander-Angewiesensein der Oberflächenteile, den Zusammenhalt durch ihr dekoratives Verhältnis. Es kommt nur darauf an, welches der beiden diametral entgegengesetzten Prinzipien den entscheidenden und gewollten Dienst für die Vereinheitlichung der menschlichen Erscheinung leistet.–

Das Verhältnis aller Kunst zum Leben wird man so bezeichnen können, daß gegenüber der bunten, unruhig flutenden, aus unzähligen heterogenen Elementen durcheinandergemischten Ganzheit des realen Lebens jede Kunst ein Element, die Welt eines Sinnes, eine Möglichkeit des Fühlens und Formens heraushebt und damit einen umfriedeten Bezirk schafft, der vielerlei Inhalte der Welt aufnimmt und nach seinen besonderen Gesetzen gestaltet. Aber immerhin ist jede etwas Einseitiges, auf einen Ton Abgestimmtes, während die Wirklichkeit all ihre Inhalte ineinander webt und sie für jedes Individuum in die große Einheit seines Lebens einstellt. Innerhalb aber dieser Einheit zeigt das Leben Zerreißungen, Fremdheiten, unversöhnliche Gegensätze seiner Elemente und Richtungen, von denen die Selbstbeschränkung der Kunst nichts weiß. Die Kunst als ganze ist viel einseitiger, die Summe ihrer Leistungen untereinander viel unberührsamer, fremdsprachiger als das Leben ist, dagegen aber die einzelne Kunst in sich unendlich einheitlicher und in ihren Inhalten inniger verwandt. In der erlebten Welt ist zugleich mehr Nähe und mehr Ferne der Elemente, als in der künstlerisch gestalteten. In dieses Bild von der Weltstellung der Kunst ordnet sich die Auslegung der Porträtkunst ein. Deren Bedeutung mußte erst, in genauer Beschränkung, auf den Gesichtssinn eingestellt werden, auf den der Maler allein angewiesen ist. Erst wenn dies gesichert ist, darf die Theorie fragen: wo aber bleibt die Seele, das unanschaulich innere Moment, das doch das Porträt in seiner Wirklichkeit unzweifelhaft darbietet? Nun erst konnte diesem die enge, künstlerisch klare Beziehung zu dem körperlichen Phänomen zugewiesen werden. Gewiß, in der Lebenswirklichkeit ist prinzipiell Körperliches und Seelisches unmittelbarer als Eines empfunden, als Eines wirksam. Allein dennoch, in der einzelnen Erfahrung bricht beides oft auseinander, ist beides gegeneinander zufällig, oft fremd, gegensätzlich, ohne feste Beziehung. In dem Begriffe der Kunst scheint sich beides weiter gegeneinander zu spannen, um sich dadurch, daß die Beseeltheit als das vereinheitlichende Moment der Anschauung selbst erkannt wird, um so wirkungskräftiger, sinnvoller, als zusammengehörig zu erweisen. So hat zwar die Lebenswirklichkeit eine innere Kraft, ein mächtiges Ineinanderwachsen ihrer Elemente, vor dem die Kunst als dürftig einseitige Spiegelung erscheinen könnte. Aber das Leben muß dies mit dem Chaos, mit tausend Brüchen und unbegreiflichen Zufälligkeiten und Feindseligkeiten seiner Elemente bezahlen. In der Umschränktheit des Kunstbezirkes dagegen sind die Elemente zu einem festen durchsichtigen Sinne, einer überzufälligen Harmonie verbunden. Und dies ist das Erlösende, Beglückende, das die Kunst uns gibt. Denn da schließlich doch auch sie aus dem Leben kommt, aus seinem Pulsschlag die Kräfte ihrer Entwicklung zieht, so ist die Harmonie, die die Dinge in ihrem Spiegel finden, so partiell sie sein mag, uns eine Ahnung und ein Pfand dafür, daß die Elemente des Lebens im allertiefsten Grunde auch ihrer Wirklichkeit doch vielleicht nicht so hoffnungslos gleichgültig und gegensätzlich auseinanderliegen, wie das Leben selbst uns so oft glauben machen will.


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