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II

 


 

Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie

1895

Es ist längst die Vermutung ausgesprochen, daß das menschliche Erkennen aus praktischen Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und Lebensfürsorge entsprungen sei. Die allgemeine Voraussetzung dabei ist die, daß eine objektive Wahrheit besteht, deren Inhalt von den praktischen Interessen des Subjekts unbeeinflußt ist; nur daß wir sie ergreifen, daß unser Vorstellen sie verwirklicht, geschieht auf Grund der Nützlichkeit, welche das Vorstellen des Wahren vor dem des Irrtümlichen voraus hat. Diese Vorstellung ist den verschiedensten erkenntnistheoretischen Schulen gemeinsam: dem Realismus, für den das Erkennen ein unmittelbares Aufnehmen und Abspiegeln einer absoluten Realität ist, wie dem Idealismus, der die Erkenntnis durch apriorische Denkformen bestimmen läßt. Denn auch für diesen ist der Inhalt des richtigen Erkennens durch das Verhältnis dieser Formen untereinander bezw. zu einem transzendenten Faktor objektiv präformiert; die Erkenntnis verhält sich zu diesen Elementen wie der Schlußsatz zu den Prämissen, in denen er gewissermaßen latent liegt. Die Wirkung des Nützlichkeitsprinzips oder irgendeines anderen, das uns zum Erkennen treibt, hat demnach auf den Inhalt dieses Erkennens gar keinen gestaltenden Einfluß, sondern bewirkt nur, daß derselbe, der nur so und nicht anders sein kann, psychisch realisiert wird – wie die Nützlichkeit wohl bewirken kann, daß wir eine Rechnung ausführen, aber nicht, daß wir ein anderes Resultat aus ihr gewinnen als es in den objektiven Verhältnissen ihrer Faktoren begründet liegt, mögen wir es nun ziehen oder nicht; wobei diese Faktoren, wie gesagt, ebenso gut als äußerlich empirische, wie als apriorisch-ideale gefaßt werden können. So kann scheinbar das Ziel der psychischen Selektion auf jeder erkenntnistheoretischen Grundlage ausgedrückt werden als Parallelität des Denkens mit der Objektivität, weil dies die einzige Sicherheit sei, daß nicht die auf das Denken gebaute Praxis mit der harten Wirklichkeit der Dinge kollidiere und so eine sehr unliebsame Korrektur erfahre. Von den Gedanken stellt sich der Dichter vor, daß sie leicht bei einander wohnen, während sich die Dinge hart im Raume stoßen; indem wir doch aber selbst zugleich im Praktischen gewissermaßen Dinge im Raum sind, lehrten uns sehr bald die Rückwirkungen, die seitens der anderen Dinge unserem Handeln folgen, jene Leichtigkeit der Gedanken zu beschränken, sobald diese die Grundlage des Handelns werden. Wenn also auch wirklich innere Nützlichkeit und rein psychologische Gesetze die ausschließlichen Faktoren der Ausbildung des Denkens sind, so müssen sie doch im Resultat wenigstens dasselbe vorstellen und leisten, wie eine objektive Abspiegelung der Realität. Weil nur der wahre Gedanke die Grundlage des lebensförderlichen Handelns sein könne, müsse die Wahrheit des Vorstellens ebenso gezüchtet werden, wie etwa die Muskelkraft. Dieser plausiblen Hypothese gegenüber möchte ich nun fragen, ob man für die in ihr enthaltene Zweiheit: einerseits die praktischen vitalen Bedürfnisse, andrerseits die ihnen gegenüberstehende, objektiv erkennbare Welt – ob man für diese nicht ein einheitliches Prinzip finden könnte: ob nicht diese beiden anscheinend gegenseitig unabhängigen Elemente, die äußere Realität und die subjektive Nützlichkeit, die erst auf der Grundlage des Erkennens jener in ein Verhältnis zu setzen seien, sich schon in einer tiefer gelegenen Wurzel begegneten.

Wenn man sagt: unsere Vorstellungen müssen wahr sein, damit das auf sie gebaute Handeln nützlich sei – so haben wir also insofern für die Wahrheit unserer Vorstellungen keinen anderen Beweis, als eben die wirkliche Förderung, die wir durch das auf sie gebaute Handeln erfahren haben. Ist es also wirklich nur die Nützlichkeit, die das richtige Denken züchtet, so ist dessen Richtigkeit, d.h. Übereinstimmung mit einer ideellen oder materiellen Wirklichkeit, nur durch einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache erkennbar. Ist das Erkennen freilich erst ein selbständiges Gebiet mit ausgebildeten Kriterien geworden, dann entscheidet es nach diesen letzteren unmittelbar und rein theoretisch über Wahrheit oder Falschheit der einzelnen Vorstellung; ob aber diese Kriterien selbst, d.h. das Ganze unseres Erkennens überhaupt wahr oder falsch ist, das ist, unserer Voraussetzung gemäß, nicht wieder theoretisch auszumachen, sondern nur nach der Nützlichkeit oder Schädlichkeit des daraufhin erfolgenden Handelns. Man könnte also vielleicht sagen: es gibt gar keine theoretisch gültige »Wahrheit«, auf Grund deren wir dann zweckdienlich handeln; sondern wir nennen diejenigen Vorstellungen wahr, die sich als Motive des zweckmäßigen, lebenfördernden Handelns erwiesen haben. Damit wäre der oben betonte Dualismus beseitigt; die Wahrheit der Vorstellungen beruhte nicht mehr auf ihrer Übereinstimmung mit irgendeiner Wirklichkeit, sondern sie wäre diejenige Qualität der Vorstellungen, welche dieselben zur Ursache des günstigsten Handelns machte; wobei es ganz unausgemacht bleibt, ob der Inhalt solcher Vorstellungen eine Ähnlichkeits- oder andere stetige Beziehung zu einer objektiven Ordnung der Dinge besitzt. Die Frage hierbei ist nur, ob der Wahrheitsbegriff es verträgt, die dem Vorstellen gegenüberstehende Objektivität abzustreifen, – mag man sich diese im Sinne des transzendentalen Realismus oder des Lotze'schen ideellen »Geltens« oder in der rein empirischen Bedeutung denken, die auch jeder Idealismus bestehen läßt. – Denn damit gibt er allerdings seine Selbständigkeit auf: die Wahrheit ist nicht mehr eine nach theoretischen Kriterien festzustellende Beschaffenheit der Vorstellungen, welche erst als fertige zur Grundlage des zweckmäßigen Handelns dienten; sondern von den unzähligen auftauchenden Vorstellungen werden diejenigen durch natürliche Auslese bezeichnet und erhalten, welche durch ihre weiteren Folgen sich als nützlich erweisen, und das Wort: wahr – zeigt nichts anderes an, als eben diese regelmäßige, praktisch günstige Folge des Denkens.

Wenn die gewöhnliche Vorstellung daran festhält, daß das Denken zunächst eine selbständige Wahrheit haben müsse, damit man den Erfolg des Handelns vorausberechnen könne, so hängt sie dabei von dem allenthalben auftauchenden Vorurteil ab: daß die Ursache eine morphologische Gleichheit mit der Wirkung besitzen müsse. Handelt man auf die Vorstellung einer äußeren Realität hin, die durch dieses Handeln zu zweckmäßigen, bestimmt gewollten Reaktionen auf uns veranlaßt werden soll, so scheint diese Vorstellung doch das adäquate Bild dieses äußeren resultierenden Geschehens und des Weges zu ihm enthalten zu müssen, da sonst nicht, als Folge ihrer, eben dieses, sondern irgend ein anderes äußeres Geschehen realisiert werden würde. Allein hier ist folgendes zunächst für die erste Stufe des Handelns zu erwägen.

Die Vorstellung der Bewegung, die ich beabsichtige, und die auch wirklich schließlich eintritt, erzeugt doch nicht unmittelbar diese Realisierung ihrer, sondern einen ganz anderen Nerven- bzw. Muskelvorgang, der und dessen Form überhaupt nicht ins Bewußtsein fällt und der erst seinerseits durch weitere Kausalprozesse jenes vorgestellte Endziel realisiert. Kein Willensvorgang erzeugt also an und für sich eine Wirkung, die seinem Inhalt morphologisch gleich wäre, sondern eine völlig abweichende: diese wird von einer weiteren mechanischen Verkettung aufgenommen, welche durch mannigfaltige Umsetzungen hindurch dann erst die sichtbar entsprechende Realisierung jenes Willens hervorbringt. Und diese Realisierung des Willens bedeutet doch nur, daß er irgend einen äußeren Vorgang veranlaßt, der seinerseits auf das Subjekt zurückwirkend in diesem die Vorstellung der Verwirklichung des Willensinhaltes bzw. der Befriedigung des Willens auslöst. Wenn wir uns die vielgliedrige Willenshandlung also von einer Vorstellung ausgehend, auf sie gegründet denken, so ist es keineswegs die Wirkung dieser letzteren, ein ihr inhaltlich entsprechendes, morphologisch mit ihr sich deckendes Gebilde zu erzeugen. Daß der Wille seinen Zweck erreicht, daß er die Triebe und Bedürfnisse des Subjekts befriedigt, hängt also nicht daran, daß die Vorstellung, von der er ausgeht, sich inhaltlich mit der Realität deckt, auf die er sich richtet; sie muß vielmehr nur eine Kraft entwickeln, die, durch die mannigfaltigsten Umsetzungen der geistigen, körperlichen und unorganischen Welt hindurch schließlich in ein subjektiv befriedigendes oder objektiv förderliches Resultat ausläuft. Jene fundamentalen Vorstellungen brauchen dabei so wenig in dem gewöhnlichen – und auch vom Idealismus bedingungsweise zugelassenen – Sinne »wahr« zu sein, d.h. eine Ähnlichkeit mit den empirisch äußerlichen Verhältnissen, die sie gestalten, zu haben, wie die Manipulationen am Telegraphenapparat eine Ähnlichkeit mit den Worten haben, deren Niederschrift sie schließlich an der anderen Station veranlassen. Oder anders ausgedrückt: die Vorstellungen, welche unser Handeln bestimmen, üben ihre Wirkungen nicht gemäß ihrem Inhalt, sondern gemäß der realen psychologischen Kraft, die sie einzusetzen haben. Nicht die Vorstellung, so könnte man sagen, wirkt, sondern das Vorstellen. Die Vorstellung, die sich als bestimmter Inhalt dem Bewußtsein kundgibt, ist ein letztes Entwicklungsresultat des inneren Prozesses; in der bestimmten, bewußten Vorstellung erreicht das Vorstellen sein Ende, und was weiter darüber hinaus wirkt, ist nicht dieser Inhalt, sondern die Kraft, die ihn trägt, der dynamische Vorgang, von dem er nur die auf noch unerklärte Weise ihm angeschweißte Bewußtseinsseite ist. Wenn ich z.B. sage, die Vorstellung M habe die Wirkung, die mit ihr assoziierte Vorstellung N ins Bewußtsein zu rufen, so wird damit der gesetzmäßige Verlauf eines inneren Vorgangs bezeichnet, von dem zwei Stationen als M und N in das Bewußtsein emportauchen: der vorgestellte Inhalt M selbst wirkt nicht weiter, sondern nur das Vorstellen seiner. M als fertige, mit ihrem Vorgestelltwerden abgeschlossene Bewußtseinserscheinung, ist vielmehr das Anzeichen dafür, daß demnächst N auftauchen wird, als die wirkende Ursache desselben; es weist nur darauf hin, daß diese letztere vorhanden sei. Damit also, daß das Handeln, das die Wirkung von Vorstellungen ist, praktisch günstige Erfolge hat, ist noch keine bestimmte Qualifikation des Inhalts dieser Vorstellungen präjudiziert. Sie können vielmehr als reale psychologische Kräfte, in physiologischen und physischen Umsetzungen, Wirkungen auf die Außenwelt üben, deren Erfolg absolut keine stetige oder prinzipiell zu fixierende Funktion desjenigen Verhältnisses, ist, das zwischen ihren Inhalten – dem logischen Bewußtsein ihrer – und jener empirischen Außenwelt besteht. Dies Verhältnis mag ein Sich-Decken sein, also dem hergebrachten Begriff der »Wahrheit« entsprechen, oder nicht: in keinem Fall braucht dies über die Richtung zu entscheiden, die das reale Weiterwirken der Vorstellungshandlung als solcher einschlägt; durch jene Scheidung zwischen dem inhaltlichen oder ideellen und dem dynamischen Sinne der »Vorstellung« wird eine Möglichkeit gegeben, ihre Nützlichkeitswirkungen von der Bindung an die inhaltliche Übereinstimmung mit der Objektivität, auch der ganz ideal gedachten, zu lösen.

Ich meine also dies: unter den unzähligen psychologisch auftauchenden Vorstellungen sind einige, die durch ihre Wirkungen für das Handeln des Subjekts sich als nützlich, lebenfördernd für dieses erweisen. Diese fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und bilden in ihrer Gesamtheit die »wahre« Vorstellungswelt. Wenn wir uns durch Kant schon darüber klar waren, daß die richtige Erkenntnis der Dinge nicht durch ihre direkte Abspiegelung im Geiste zustande kömmt; daß also die Wahrheit, auch in ihrer Vollendung, ihr Kriterium nicht an dem metaphysischen Parallelismus mit einer absoluten Objektivität findet; so ist die Frage: welches ist nun ihr Kriterium, was bewirkt es, daß von allen Vorstellungen überhaupt einige wahr, andere falsch, genannt werden? Ein immanentes Verhältnis unter ihnen muß es sein, da sie nicht über sich hinaus können, innere Übereinstimmung, Harmonie der einzelnen Vorstellung mit der Gesamtheit des Weltbildes. Allein auch diese Übereinstimmung der Einzelheiten untereinander ist doch nicht ein mechanisches Sichdecken, wie von zwei kongruenten Figuren, sondern setzt wenigstens Axiome voraus, nach denen Übereinstimmung oder Widerspruch entschieden wird. Daß diese Axiome selbst aber im theoretischen Sinne »wahr« seien, ist offenbar nicht wieder theoretisch erkennbar, da die letzten Fundamente eines Gebietes ja nie innerhalb, sondern, wenn überhaupt, nur außerhalb desselben begründet werden können? die Axiome der Geometrie sind nicht auf geometrischem, die Grundbegriffe des Rechts nicht auf juristischem Wege nachzuweisen, etc. Der einzelne mathematische Satz ist »wahr«, insofern er auf andere zurückführbar ist; die Wahrheit der Axiome, an denen diese Zurückführung mündet und die das Ganze tragen, ist selbst keine mathematische. Daher kann man sagen: mathematische Wahrheit bestehe nur zwischen den einzelnen Sätzen der Wissenschaft, die Wissenschaft als Ganzes aber, insofern sie von ihren Axiomen getragen werde, sei nicht in demselben Sinne wahr, wie ihre einzelnen Bestandteile. So findet überhaupt beweisbare Wahrheit immer nur zwischen einzelnen Erkenntniselementen und nach Annahme gewisser erster Tatsachen und Prinzipien statt; das Ganze der Erkenntnis überhaupt ist deshalb nicht in der gleichen Bedeutung wahr, wie die Einzelheiten innerhalb seiner, da es nichts Theoretisches sich gegenüber hat, woran seine Wahrheit sich erweisen könnte, bezw. im Verhältnis zu dem es »wahr« wäre. Und da nun das eigentümliche Verhältnis besteht, daß die Vorstellungen, welche den Wahrheitskriterien entsprechen, die Grundlagen und Ursachen des nützlichen Handelns sind, so wird man als das Wahrscheinlichste vermuten können, daß aus der Tatsache dieser Nützlichkeit ihrer weiteren psychologischen und physischen Wirkungen sich der Begriff ihrer besonderen Dignität, die wir Wahrheit nennen, gebildet habe. Die Wahrheit, die für die Grundlagen und das Ganze der Vorstellungswelt nicht mehr in theoretischen Qualitäten derselben liegen kann, findet den »Gegenwurf«, der sie legitimiert, oder richtiger, als solche schafft, in der Nützlichkeit, die sie als Ausgangspunkt praktischen Handelns besitzt.

Diese Begründung der Wahrheit auf die Nützlichkeit – nicht nur ihrer Aneignung, sondern ihrem Inhalte und Wesen nach – wird weiterhin durch einen Blick auf untermenschliche physisch-psychische Organisationen wahrscheinlich gemacht. Die Sinnesvorstellungen der Tiere, mit denen sie auf die Einwirkungen der Außenwelt antworten, müssen vielfach von den unseren aufs stärkste abweichen. Zweifellos haben manche Tiere Sinnesempfindungen, die uns völlig fehlen – das beweisen sowohl gewisse ihrer Handlungsweisen, als auch die Auffindung von Nervenapparaten, zu denen wir kein Analogon besitzen; anderen fehlen ebenso zweifellos manche Sinne, die uns eigen sind; bei anderen wieder ist die Schärfe der qualitativ gleichen Empfindungen größer oder geringer als bei uns. Die Ursache dieser Verschiedenheit kann keine andere sein, als daß für die eine Tierart diese, für die andere jene Art der Sinnesausstattung die nützlichste, ihren Lebensbedingungen angepaßteste ist. Nun aber können aus so verschiedenem Material unvermeidlich nur ganz verschiedene Weltbilder hervorgehen. Die Vorstellungen vom Seienden, die die Tiere sich bilden, sind also in ihrer Verschiedenheit durchaus von ihren subjektiven Lebenserfordernissen bedingt. Zweifellos aber gibt es auch für sie, innerhalb ihres Anschauungskreises, einen Unterschied zwischen Wahr und Falsch, wir haben genug Beweise dafür, daß auch Tiere Sinnestäuschungen, korrigierbaren Irrtümern unterliegen. Eine Korrektur kann doch aber für sie nicht bedeuten, daß die falsche Vorstellung in eine absolute Wahrheit, sondern nur, daß sie in die für das betreffende Tier normale Vorstellung verwandelt werde. Für das Tier ist diejenige Vorstellung die wahre, auf die hin es sich in der für seine Umstände günstigsten Weise verhält, weil eben die Forderung dieser Verhaltungsart selbst die Organe gebildet hat, die sein Vorstellen überhaupt formen. Die tiefe Verschiedenheit der tatsächlich vorliegenden Sinneswelten beweist, daß es vielerlei solche Wahrheiten geben muß. Aus dieser Variabilität der Wahrheit gemäß der Variierung der Praxis wird klar, daß wohl auch wir keine selbständige Wahrheit besitzen dürften, die den Forderungen der Praxis gegenüberstände und zu der diese erst nachträglich in irgend ein Verhältnis gesetzt würde – sondern daß auch bei uns jene Forderungen die Kraft besitzen, vermittels der Gestaltung unserer physisch-psychischen Organisation das zu bestimmen, was uns Wahrheit heißen soll. Daß auch Vorstellungen, die wir später als irrtümlich beurteilen, uns nützlich sein, d.h. zu nützlichen Handlungen veranlassen können, hängt einfach so zusammen, daß unsere Interessen angesichts der Kompliziertheit unseres Wesens oft gegeneinander widerspruchsvolle sind. Als Irrtum gilt diejenige, welche nicht auf die Dauer bestehen kann, durch Vorstellungen verdrängt wird, deren Annahme für unsere überwiegenden und dauernden Interessen die zweckmäßigere ist.

Von dem hiermit vorgeschlagenen Standpunkt aus löst sich eine Schwierigkeit, die selbst eine noch als idealistisch zu bezeichnende Theorie in dem Verhältnis zwischen Vorstellen und Handeln finden muß. Wenn nämlich schon zugegeben wird, daß das Vorstellen ganz und gar durch die spezifischen Energien der psychischen Organe bestimmt ist und an die Realität der Dinge an sich nicht heranreicht, so scheint doch das Handeln in einem engeren Verhältnis zu diesen zu stehen. Denn im Handeln gewinnen wir eine bestimmende Beziehung zu derjenigen Realität der Objekte, die uns eben im Erkennen nur durch die subjektiven Vorstellungsformen hindurch erscheint. Mag man dies nun so ausdrücken, daß wir im Wollen und Handeln selbst Dinge an sich sind, oder mag man den fraglichen Unterschied als relativen selbst in das Gebiet der Erscheinung eingliedern – er bleibt jedenfalls insofern bestehen, als wir im Handeln diejenige Wirklichkeit selbst mitbestimmen, deren Rückwirkung auf uns erst wieder zum Gegenstand einer Erscheinung wird; jedenfalls nicht in ganz demselben Sinne ist die Welt uns als Handelnden Erscheinung, wie sie es uns als Vorstellenden ist. Wir haben also einerseits theoretische Vorstellungen, von denen wir wissen, daß sie nicht die reine Objektivität der Dinge, sondern nur ein subjektives Phänomen ihrer geben – und setzen uns andrerseits auf Grund solcher Vorstellungen in ein praktisches, nicht – oder wenigstens nicht in demselben Sinne – phänomenales Verhältnis zur Realität. Und dennoch erfüllt dieses Verhältnis im Ganzen unsere Erwartungen seines Erfolges und ist der Erhaltung und Förderung unserer Existenz günstig. Hierin liegt offenbar eine Übereinstimmung zweier Faktoren ganz verschiedenen Wesens und Ursprungs vor, die ein nicht geringeres Rätsel aufgibt, als der von Descartes entdeckte Dualismus von Denken und Ausdehnung. Wie dieser in eine prästabilierte Harmonie zwischen den Substanzen der Innenwelt und der Außenwelt auslief, so scheint hier eine gleiche zwischen den Funktionen des Vorstellens und des Handelns zu bestehen; denn die letzteren werden auf die ersteren gegründet und bringen, wenn jene Vorstellungen wahre sind, in einer bestimmten förderlichen Richtung liegende Resultate hervor, obgleich auch die wahren Vorstellungen sich innerhalb bloßer Phänomenalität, das Handeln aber und seine Erfolge innerhalb einer – wenigstens relativen – Realität bewegen. Dieses Wunder, das zunächst auf einen Prästabilismus hinzuweisen scheint, reduziert sich nach der hier vorgetragenen Ansicht eben dahin: daß die Vorstellungen nicht ihrem Inhalte nach, sondern als reale psychische Kräfte die Ausgangspunkte des Handelns sind; daß unter den so entsprungenen Handlungen sich einige der Erhaltung der Gattung günstig, andere ungünstig gezeigt haben; daß diejenigen Vorstellungsweisen, auf Grund deren sich Handlungen der ersteren Art erhoben, durch natürliche Zuchtwahl erhalten, gesteigert, fixiert worden sind; und daß die Inhalte derselben mit dem Prädikat Wahr ausgestattet worden sind; welches Prädikat demnach gar keine selbständige theoretische Qualität der Vorstellungen, sondern eine solche bedeutet, die eine praktisch-förderliche Folge derselben anzeigt.

Diese Theorie ist durchaus nicht gleichbedeutend mit der verwandt erscheinenden: der Einsichtige, am meisten logisch Denkende habe im Kampf ums Dasein einen Vorzug vor seinen Mitbewerbern, diese Eigenschaft werde dadurch zu einem Grunde der natürlichen Auslese und steigere sich so lange, bis sie in möglichster Intensität sich über die ganze Gattung verbreitet habe; die Nützlichkeit des Erkennens sei also der Grund seiner Herrschaft. So richtig diese Überlegung auch ist, so ersetzt sie doch, nach zwei Seiten hin, die hier angestellte nicht. Denn zunächst spricht sie die Nützlichkeit des auf das richtige Denken gebauten Handelns als fertige Tatsache aus, während wir hier die Verbindung gerade erst aufsuchen wollten, die zwischen dem wahr genannten Erkennen und der erhöhten Lebenschance bestände. Indem sie die Wahrheit des Erkennens als eine selbständige Qualität seiner, ihrerseits von der Nützlichkeit desselben prinzipiell unabhängig, voraussetzt, bleibt für sie die Schwierigkeit bestehen, wie das nur subjektiv bestimmte Erkennen überhaupt dazu kommt, ein für unsere reale Existenz günstiges Handeln zu begründen. Dies wird erst dann begreiflich, wenn die Nützlichkeit des Handelns als der primäre Faktor erscheint, der gewisse Handlungsweisen und mit ihnen die psychologischen Grundlagen ihrer züchtet, welche Grundlagen eben dann in theoretischer Hinsicht als das »wahre« Erkennen gelten; so daß ursprünglich das Erkennen nicht zuerst wahr und dann nützlich, sondern erst nützlich ist und dann wahr genannt wird. Zweitens: angenommen, es wäre prinzipiell möglich, eine rein theoretische Erkenntnis, unabhängig von aller Rücksicht auf die Praxis zu gewinnen, deren Aneignung dann erst Sache der letzteren wäre: so bedürfte es jedenfalls eben deshalb noch einer besonderen Erfahrung darüber, welche Aktionen man nun auf Grund jenes objektiven Weltbildes vorzunehmen habe; zwischen denen, die das theoretisch Richtige vorstellen, muß eine neue Selektion von dem Gesichtspunkt aus stattfinden, daß die subjektiven Handlungsinnervationen daraufhin in mehr oder weniger günstiger Weise erfolgen können. Denn wenn auch das ganze Bild der Welt vor mir in absoluter empirischer Richtigkeit ausgebreitet liegt, so ist dadurch über mein eigenes Verhalten, insofern ich Willenswesen bin, noch keineswegs von vornherein entschieden; um so weniger, als die Koordination von Vorstellung und Willensimpuls, um die es sich hier handelt, sich meistens unbewußt, gattungsmäßig, instinktiv vollzieht. Der Selektionsprozeß, der den günstigen Handlungsmodus zu fixieren hat, bleibt uns also selbst bei der Annahme einer a priori von der Praxis unabhängigen Wahrheit nicht erspart. Unsere Annahme hingegen beseitigt den Dualismus einer für sich bestehenden Wahrheit und einer für sich bestehenden Erfahrung oder Selektion über die praktische Einwirkung auf die erkannte Welt – weil die Erfahrung über die Wirkung des Handelns zugleich die Wahrheit schafft. Schon aus dem bloß methodischen Gesichtspunkt des Principia praeter necessitatem non sunt augenda ist deshalb eine Theorie vorzuziehen, für die ein einziger Prozeß genügt, um sowohl die Praxis wie die Erkenntnis zu bestimmen: eben derselbe Akt, der gewisse Handlungsmodi fixiert, verleiht notwendigerweise auch ihren psychologisch-intellektuellen Vorbedingungen die Gültigkeit für die Gattung. Ist diese freilich erst festgestellt und hat selbständige Bedeutung gewonnen, dann kann man sagen, daß der besonders mit diesen intellektuellen Qualitäten Ausgestattete die weniger Begünstigten praktisch überwindet und dadurch die Steigerung jener Einsichten, intellektuellen Qualitäten, in der Gattung bewirkt – aber eben nur, weil die Praxis von vornherein darüber entschieden hat, daß gerade diese theoretischen Inhalte die günstigen und erhaltungswürdigen sind. Daß der Handelnde sich jetzt nach der erkannten Wahrheit richtet, und zwar mit gutem Erfolg, wird dadurch verständlich, daß sich ursprünglich die »Wahrheit« nach dem Handeln und seinen Erfolgen gerichtet hat.

Die Schwierigkeit dieser Lehre liegt in demselben Vorurteil, mit dem die Kantische Raumlehre immer zu kämpfen haben wird. Der populären Vorstellung erscheint der Raum als ein außer uns befindliches Gefäß, in dem unser Ich seine Stelle, neben allen anderen Dingen, hat. Liegt diese Vorstellung einmal zum Grunde, so muß es freilich als eine Paradoxie des Idealismus erscheinen, in dieses Ich alle anderen Dinge und den Raum selbst gleichsam hineinzupacken. Hat man die Seele erst einmal in den Raum hineingesetzt, dann kann man freilich nicht mehr den Raum in die Seele setzen. Erst nachdem man sich von dem vulgären Vorurteil losgemacht hat, daß der Raum eine im absoluten Sinne außer uns befindliche objektive Gegebenheit ist, wird die Vorstellung, daß er die Form der Anschauung ist, überhaupt denkbar. Ganz entsprechend liegt unser Fall. Stellt man sich die Wahrheit der Dinge, d.h. ihr Sich-Verhalten in den logischen Formen, erst einmal als etwas im absoluten Sinne Objektives vor, das unser Bewußtsein in sich nachzubilden hätte – was ebenso bei idealistischer wie bei realistischer Erkenntnistheorie möglich ist –, dann ist es freilich sehr wunderlich, die psychologische Entstehung dieser Formen aus den bloß subjektiven Bedürfnissen des bewußten Wesens ableiten zu wollen. Wie es dort nicht möglich war, den schlechthin außer uns befindlichen Raum in das Anschauungsvermögen hinüberwandern zu lassen, so ist es hier nicht angängig, die schlechthin objektive Wahrheit nochmals aus den praktischen Anforderungen des Subjekts herauswachsen zu lassen. Wie vielmehr der Anschauungsprozeß, seinen immanenten Gesetzen folgend – deren wissenschaftlichen Ausdruck die mathematischen Sätze bilden – dasjenige erst erzeugt, was wir Raum nennen, so erzeugen sich für unser Denken, gemäß dem Nützlichkeitsprinzip, gewisse Normen seines Verhaltens, durch welche überhaupt erst das zustande kommt, was wir Wahrheit nennen, und die sich in abstrakter Formulierung als die logischen Gesetze darstellen. – Wenn Kant den Dualismus von Vorstellen und Sein dadurch aufhob, daß er auch das Sein als eine Vorstellung begriff, so greift nun die hier vollzogene Vereinheitlichung noch eine Stufe tiefer: der Dualismus zwischen der Welt als Erscheinung, wie sie logisch-theoretisch für uns existiert, und der Welt als derjenigen Realität, die auf unser praktisches Handeln antwortet, wird dadurch aufgehoben, daß auch die Denkformen, die die Welt als Vorstellung erzeugen, von den praktischen Wirkungen und Gegenwirkungen bestimmt werden, die unsere geistige Konstitution, nicht anders wie unsere körperliche, nach evolutionistischen Notwendigkeiten formen. Und wenn man, im Anschluß an seinen eigenen Ausdruck, Kants Lehre in den Satz zusammenfassen kann: die Möglichkeit des Erkennens erzeuge zugleich für uns die Gegenstände des Erkennens – so bedeutet die hier vorgeschlagene Theorie: die Nützlichkeit des Erkennens erzeugt zugleich für uns die Gegenstände des Erkennens.


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