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Die prinzipiellen Lebensprobleme der Neuzeit bewegen sich im wesentlichen um den Begriff der Individualität; wie sich ihre Selbständigkeit gegenüber der Macht oder dem Rechte der Natur und der Gesellschaft gewährleisten läßt oder wie sie sich diesen beiden unterzuordnen hat, wird in allen denkbaren Kombinationen und Maßverhältnissen durchprobiert. Einer der umfassendsten Lösungsversuche dieses Problems ist die spezifische Leistung des 18. Jahrhunderts, das auch nach dieser Seite hin in Kant gipfelt; denn sein gesamtes Denken ist von dem Individualitätsbegriffe seines Jahrhunderts getragen; und der Beweis dafür wird nun zu guter Letzt die Gesamtform, in die die Kantische Philosophie das Leben bringt, als einen der großen Menschheitsgedanken erkennen lassen, deren Auftreten in einer Einzelepoche nur wie das zeitliche Bewußtwerden eines überzeitlichen Besitzes unsres Geistes erscheint.
Das Ideal der Freiheit und Gleichheit, von dem das 18. Jahrhundert entflammt war und das uns heute zwei einander ausschließende Ansprüche zusammenzukitten scheint, drückt auf das zutreffendste die unvermeidliche Reaktion auf die herrschende Gesellschaftsverfassung aus. Es war eine Zeit, in der die individuellen Kräfte im unerträglichsten Gegensatz gegen ihre sozialen und historischen Bindungen und Formungen empfunden wurden. Als überständig und verrottet, als Sklavenfesseln, unter denen man nicht mehr atmen konnte, erschienen die Vorrechte der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel; die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassung wie der unduldsame Zwang des Kirchentums; die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der Stadtverfassungen. In der Bedrücktheit durch solche Institutionen, die jedes innere Recht verloren hatten, entstand das Ideal der bloßen Freiheit des Individuums; wenn nur jene Bindungen fielen, die die Kräfte der Persönlichkeit in ihr unnatürliche Bahnen zwangen, so würden alle inneren und äußeren Werte, zu denen die Energien vorhanden, aber politisch, religiös, wirtschaftlich lahmgelegt waren, sich entfalten und die Gesellschaft aus der Epoche der historischen Unvernunft in die der natürlichen Vernünftigkeit überführen.
Hierbei aber ging nun eine höchst verhängnisvolle Täuschung vor sich. Jene ständischen, zünftigen, kirchlichen Bindungen hatten unzählige Ungleichheiten zwischen den Menschen geschaffen, deren Ungerechtigkeit aufs schärfste empfunden wurde; und so schloß man, daß die Beseitigung jener Institutionen, weil mit ihr diese Ungleichmäßigkeiten fallen mußten, alle Ungleichheiten überhaupt aus der Welt schaffen würde. Man verwechselte die bestehenden sinnlosen Unterschiedenheiten mit der Ungleichheit überhaupt und hielt die Freiheit, die die ersteren vernichten sollte, für den Träger der allgemeinen und dauernden Gleichheit. Und dies traf nun mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts zusammen, für den nicht der besondere, in seiner Eigenheit unvergleichliche Mensch der Gegenstand des Interesses war, sondern der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt. Wie die Literatur der Revolutionszeit fortwährend von dem Volke, dem Tyrannen, der Freiheit ganz im allgemeinen spricht, wie die »natürliche Religion« eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt hat, wie das »Naturrecht« auf der Fiktion isolierter und gleichartiger Individuen beruht, so ist es allenthalben das Abstraktum Mensch, dem alle Begeisterung gilt, der immer und überall der gleiche ist, weil von allem abgesehen ist, was die Menschen voneinander unterscheidet. Das Grundmotiv ist, daß in jedem Individuum ein Kern enthalten ist, der das Wesentliche an ihm und der zugleich in allen Menschen derselbe ist. Und nun versteht man, daß Freiheit und Gleichheit so unbefangen als einheitliches Ideal empfunden wurden: wenn der Mensch nur in Freiheit gesetzt würde, so würde sein bloß menschliches Wesen, das die historischen Verbindungen und Verbildungen überdeckt und entstellt hätten, wieder als sein eigentliches Ich hervortreten, und dieses müßte also, weil es eben den allgemeinen Menschen in uns darstellte, bei allen das gleiche sein.
So hat sich hier ein ganz neuer Begriff der Individualität – als Wirklichkeit und als Forderung, beides nicht immer in reinlicher Sonderung – aufgearbeitet: der allgemeine Mensch, der doch zugleich Individuum ist. Der Mensch soll schlechthin auf sich stehen, für sich allein verantwortlich sein, im schärfsten Gegensatz gegen alle Normen, die den Menschen nur als Glied einer Einung, Element einer Kollektivität, Subjekt einer überindividuellen Allmacht kannten – aber dieser Mensch ist seinem Kerne und seinem Rechte nach immer nur einer und derselbe, der Fürst selbst ist, wie Friedrich der Große schreibt, »ein Mensch, wie der geringste seiner Untertanen«. Es ist, als ob die Isolierung des Menschen gegen den Menschen, die die Freiheitsfunktion dieses Individualitätsbegriffs mit sich brachte, in der qualitativen Gleichsetzung der Individuen ihre Ausgleichung und Erträglichkeit gefunden hätte.
Von dieser Vorstellung der Individualität bildet das Kantische Ich, das als die Einheit unsres Denkens wie seines Objekts auftrat, die philosophische Sublimierung. Es ist, zuerst, der höchste Punkt, zu dem sich die Unabhängigkeit der Person von allem Historischen, von allen Bestimmungen und Bindungen außerhalb ihrer erheben kann. Indem das Ich alle bewußten Daseinsinhalte formt, kann es nicht selbst wieder von irgendwelchen unter ihnen geformt werden. Aus allen seinen Verflechtungen mit der Natur, mit einem Du, mit der Gesellschaft, hat das Ich hier seine absolute Souveränität herausgewonnen, es steht so sehr auf sich selbst, daß sogar seine ganze Welt noch auf ihm stehen kann; das laissez faire, ersichtlich der konsequente ökonomische Ausdruck jenes Individualismus, ist zur Signatur des Wesentlichsten und Tiefsten in unsrem geistigen Dasein geworden: dieses Ich müssen alle geschichtlichen Mächte schon gewähren lassen, da es überhaupt nichts über sich, ja, nichts neben sich hat, und seinem Begriffe nach keinen andren Weg gehen kann, als den seine eigne Wesensform ihm vorzeichnet. Nicht weniger gipfelt sich eine zweite Qualität jenes unhistorischen, durch keine individuelle Eigenheit bestimmten Menschen, der doch als das Entscheidende innerhalb jedes Individuums lebt, in dem reinen Ich auf: oder richtiger: seine Qualitätlosigkeit. Das Fundamentalbewußtsein, in dem das Ich besteht, bedeutet überhaupt keine bestimmte Vorstellung; da es erst der Träger jeder solchen ist, ist es als Bewußtsein nur ein ganz allgemeines Gefühl, daß ich überhaupt existiere. Diese Entleerung des bloßen Ich von allem individuellen und tatsächlich gegebnen Inhalt ist die geeignete Grundlage für die Gleichheit aller Ichs, denn nur durch sie läßt sich der »allgemeine Mensch« herstellen; jede bestimmte Qualität würde unvermeidlich die Allgemeinheit aufheben. Den Vorwurf, daß das atomistische Subjekt des Naturrechts, der Naturreligion, der Menschenrechte nichts Bestimmtes und also überhaupt nichts mehr sei, wandelt nun gerade seine Kantische Steigerung in Recht und Notwendigkeit: das Allgemein-Menschliche enthüllt sich als die wirkende Form, durch die alle Bestimmtheiten bedingt sind. Die Tatsache, daß wir überhaupt denken, ist freilich noch kein einzelner Inhalt des Denkens, aber darum doch keineswegs Nichts. Dieses Ich ist der geniale Ausweg, durch den dem schlechthin Allgemeinen, das sich völlig zu verflüchtigen schien, doch eine Bedeutung, ja eine Notwendigkeit der Existenz zukommt, die einzige wirkliche Notwendigkeit, weil ihm gegenüber alles Einzelne und Bestimmte als etwas Zufälliges und von jener Abhängiges erscheint. Wie sich für die Vorstellung jener Zeit der historische, variable und qualitativ individualisierte Mensch zu dem Menschen überhaupt, zu dem reinen, immer gleichen, wesentlichen Menschen in uns verhält – dafür ist es der abstrakte Typus, wie sich der psychologische, subjektive, zufällige Mensch, den Kant als unser empirisches Ich bezeichnet, zu dem reinen Ich in uns verhält – eine Analogie, die nicht nur die Tatsächlichkeit, sondern auch den Wert beider Vergleichspaare einschließt. Wie in der damaligen praktisch-sozialen Idealbildung, ist hier erkenntnistheoretisch die Welt auf das Ich gestellt, aber auf das schlechthin allgemeingültige Ich.
Aus diesem Begriff der Individualität verstehen wir nun die eigentümliche Tatsache, daß jener aufgeklärte Liberalismus, der dem Einzelnen die absolute Bewegungsfreiheit, die uneingeschränkten Persönlichkeitsrechte zusprach, doch so oft intolerant, rechthaberisch, für individuelle Überzeugungen verständnislos war. Denn diese Freiheit hatte die Voraussetzung, die Freiheit wesentlich gleichgearteter Individuen zu sein, sie durfte, ohne ihr eignes System zu zerstören, nicht zugeben, daß die theoretisch-praktische Anlage der Menschen in ihrem letzten, absoluten Grunde eine verschiedene sein könnte. Mit vollkommener Prägnanz drückt dies ein religionsphilosophischer Klassiker dieser Epoche aus: wer mit sich selbst übereinstimme, müsse es auch mit ihm – ein Anspruch, der ersichtlich nur bei völliger Gleichheit der inneren Struktur aller Individuen nicht sinnlos ist. Anders formuliert: die objektiv wahre, sachlich notwendige Erkenntnis ist die subjektiv allgemeine, an der Übereinstimmung aller möglichen Subjekte erkennbare; damit aber wird sie zum Produkte dessen, was eben allein allen gemeinsam ist, des Allgemein-Menschlichen in uns, des überhistorischen, überindividuellen »Menschen überhaupt«, der sich zu allen einzelnen verhält wie der Allgemeinbegriff zu seinen Exemplaren. Wo man überzeugt ist, daß diese letzte Instanz in uns gesprochen hat, ist die einzige mögliche Wahrheit gewonnen, die Widerspruchslosigkeit des Menschen mit sich selbst, zugleich also die Unmöglichkeit, daß ein andrer widerspreche: da es nur ein Ich gibt, kann es auch nur eine Wahrheit für alle geben. Das reine Ich Kants ist der umfassendste Ausdruck dieses Verhaltens: insoweit seine Form absolut zutreffend wirksam geworden ist – was freilich nur in unendlicher Annäherung geschehen kann –, ist die Wahrheit gewonnen, die die unbedingt allgemeine sein muß. Damit kann das Objekt, in dem alten, realistischen Sinne, fortfallen, da die Wahrheit nicht mehr die Orientierung an diesem, sondern an den für Alle gleichen, inneren Kriterien fordert. So enthüllt sich der Idealismus, die Herleitung, aller Objektivität aus den Bedingungen der Geistigkeit, als die konsequente Zusammenfassung des Individualitätsbegriffs des 18. Jahrhunderts: wenn die Souveränität des Ich, die dieses lehrte, das Objekt überhaupt zum Produkt des Subjekts macht, so bürgt die prinzipielle Gleichheit des Wesenskernes in allen Subjekten dafür, daß das von diesem legitimierte, weil aus ihm geschaffene Objekt auch wirklich objektiv, das heißt für Alle notwendig und gültig sei.
Dieser Individualismus ist das Korrelat des mechanistisch-verstandesmäßigen Weltbegriffs. Denn dieser hatte es zuerst axiomatisch festgelegt, daß die Welt für alle Menschen eine und dieselbe ist – was überall da zweifelhaft ist, wo die variablen Instanzen des Gemüts, der Religiosität, des Willens über den letzten Auffassungsgrund entscheiden. Der Idealismus drehte die Ordnung des Gedankens nur um: die Welt ist für alle, d. h. objektiv, dieselbe, weil alle Subjekte als weltauffassende gleich sind. Darum wäre für Kant die Idee, daß ein jeder seine besondere Wahrheit hat, ein Widerspruch und ein Greuel, wäre die Sünde gegen die Ethik der Intellektualität. Denn alle die Unterschiedenheiten der Wesen, die der modernen Welt diese Möglichkeit nahelegen, sind für ihn von dem reinen Ich getragen, in dessen Immergleichheit alle Mannigfaltigkeiten der empirischen Welt aufgehn, sobald es sich um die Bildung des Objekts, d. h. um Wahrheit handelt. Die besondere Form, in der das Persönlichkeitsgefühl im 18. Jahrhundert auftrat, duldete nicht, daß die Verschiedenheit der Personen ihre Produktion der Welt, ihr theoretisches Verhältnis zum Dasein individuell färbte. Denn nach dieser Form, so könnte man sie ausdrücken, sind wir nicht eigentlich Individualitäten, sondern wir haben nur Individualität: das letzte, entscheidende Sein in uns trägt zwar an seiner erscheinenden Oberfläche genug persönliche Unterschiedenheiten, aber diese reichen nicht in jenes selbst hinunter und deshalb auch nicht in das Sein hinauf, das eben durch jene äußerste synthetische Energie unsres Wesens, unser Ich, zum Objekte gebildet wird. Kant faßt einmal das rechtlich-sittliche Verhalten in eine Formel zusammen, die das Ideal der freien, aber gleichberechtigten, weil gleichartigen Individualitäten unvergleichlich charakterisiert: jeder solle so viel Freiheit haben, wie mit der Freiheit jedes andren verträglich ist. In Dingen des Erkennens kann es deshalb keine »Freiheit« geben, auch nicht in dem Sinne, daß die Besonderheit der Individualität sich in eine Besonderheit des theoretischen Daseins fortsetze. Denn diese Freiheit würde sich nicht mit der Freiheit aller andren vertragen, sie würde für Kant, dem Wahrheit nur objektive, d. h. für alle gültige Wahrheit sein kann, einen Kampf aller gegen alle bedeuten; der Begriff der objektiven Erkenntnis schließt jeden Versuch des Subjekts aus, die Freiheit andrer zu vergewaltigen, weil er dieses unmittelbar auffordert, den Anspruch der Allgemeingültigkeit zu realisieren, den der Ursprung dieser Erkenntnis aus dem Überindividuellen in uns mit sich bringt.
Es ist unmittelbarer einleuchtend, wie sehr diese Form des Individualismus auch die Moralphilosophie Kants beherrscht. Denn deren Grundmotiv: daß die absolute Freiheit und Selbständigkeit des Willens ein Handeln produziere, das für alle andren gleichmäßig Gesetz sein könne – ist eben nur die philosophische Wendung des Ideals der Freiheit und Gleichheit, der tiefsinnige Versuch, das mechanische Nebeneinander dieser beiden Forderungen in die organische Entwicklung einer Lebenstendenz überzuführen. Indem hier das normative Individuum hingestellt wird, das seine Freiheit nicht zu individueller Besonderung, sondern gerade zu gesetzhafter Vergleichmäßigung mit allen benutzt; indem Kant sogar unternimmt, dies letztere mit der Freiheit logisch-notwendig zu verknüpfen – hat er das aus der historischen Situation des 18. Jahrhunderts entsprungene Lebensgefühl formuliert, in dem die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit der Einzelnen ihre Begründung ebenso wie ihre Folge in der Gleichheit ihres Wesenskernes fand; dieser Gleichheit bedurfte es einerseits als einer inneren Wirklichkeit, andrerseits als eines herauszuarbeitenden Ideals, damit die Gedankenkreise des Naturrechts, der Naturreligion, der Politik der Revolution, zum Teil auch die der liberalen Ökonomie, nicht weniger aber, damit der kategorische Imperativ Kants möglich wurde.
An diesem Punkt zeigt nun freilich das ethische Lebensbild Kants denjenigen Mangel, den erst der moderne, im wesentlichen dem 19. Jahrhundert angehörige Begriff der Individualität ergänzen sollte. Das autonome Ich, in dem alle theoretischen und praktischen Fäden zusammenlaufen, ist wegen seiner apriorischen Gleichheit mit jedem andren Ich völlig farblos. Es hat zwar eine absolute formale Einheit jenseits seiner Einzeläußerungen, aber das, was man die charakterologische Einheit der Persönlichkeit nennen kann, findet in diesem Lebenssystem überhaupt keine Berücksichtigung: der besondere Ton und Rhythmus des Wesens, der jede Persönlichkeit zu etwas ganz Unvertauschbarem macht, die qualitative Unverkennbarkeit gerade all ihres Tuns und Lassens. Indem man diese Besonderheit des Einzelnen nicht nur als Tatsache, sondern auch als Bedeutsamkeit und Wert anerkennt, entsteht ein ganz neues Ideal der Individualität, das aber den hier in Frage stehenden Gedankenkreisen des 18. Jahrhunderts (zu denen Herder und Goethe teils gar nicht, teils in besonderen Modifikationen zu rechnen sind) noch fern lag und ihnen durchaus widersprochen hätte. In praktischer Hinsicht kennt Kant einerseits nur die gleichsam punktuelle »Persönlichkeit«, die für sich nur dem Gut und Böse zugängig ist, einer ganz generellen und jeweils nur quantitative Unterschiede zeigenden Bestimmung, andrerseits die einzelne Tat, die nur mechanisch mit andren zum »empirischen Charakter« zusammengefaßt, ihrem Wesen nach aus der Werteinheit des inneren Lebens ganz gelöst ist und an der sich der Individualismus der Persönlichkeit wiederholt; ihr einziger Wert liegt in dem Maß von Sittlichkeit, das sie als ganz isolierte darstellt, während ihre Bedeutung als Äußerung dieser bestimmten Persönlichkeit, ihr Sinn innerhalb des Bildes einer qualitativ bestimmten Seele, der auf der moralischen Skala nicht auszudrücken ist, gar nicht in Ansatz kommt; was schließlich nicht viel anders ist, als, auf ökonomischem Gebiet, wenn ein Objekt ausschließlich auf seinen Geldwert angesehen wird, ohne Interesse für seinen spezifischen Inhalt, der ganz jenseits dieses bloß generellen, für alle mannigfaltigsten Qualitäten gleichmäßig gültigen Maßstabes steht. Wie es für den Deismus nur einen abstrakten Gott, für das Naturrecht nur ein abstraktes Recht gab, so für Kant nur eine abstrakte Tugend und ein abstraktes Glück, die sich in uns treffen, wie sie ja schließlich auch sein Gott nur äußerlich an uns zusammenbringen kann. Nirgends fühlt man die innere Lebenseinheit des ich, aus der das eine wie das andre quillt, beides sind rein für sich bestehende Welten, deren zufälligen Schnittpunkt der Einzelne bildet. Und dies ist begreiflich, weil ihm die Individualität, die an die Stelle jenes nur äußerlich einzigen Treffpunktes eine produktive Besonderheit von innen her setzt, außer Blickweite steht. Das Eigene im Menschen tritt eben dann erst hervor, wenn er seine eigene Tugend und sein eigenes Glück besitzt, erst dann wird sein Unverwechselbares als das Gemeinsame dieser einzelnen Einzigkeiten ihm bewußt werden. Für Kant fällt zwischen dem formalen Ich, dem die allgemeine »Menschheit in jedem Menschen« entspricht, und der einzelnen Tat die differenzierte, durch ihre Eigenschaften besonderte Persönlichkeit völlig aus. Ihm kommt noch nicht in den Sinn, daß unsre Taten und Eigenschaften eine Bedeutung gerade darin haben könnten, daß sie ihre Träger von andern unterschieden, daß dies eine andre und gleichfalls tiefe Selbstverantwortlichkeit einschlösse, daß diese herrliche Mannigfaltigkeit des seelischen Daseins einen Wert und Reichtum des Lebens jenseits der quantitativ graduierten Sittlichkeit begründe. Aber zwischen jenen Menschen, in denen nur die Menschheit, der allgemeine Mensch, einen Wert hatte, konnte es höchstens Unterschiede des Willens geben, während die angedeutete qualitative Verschiedenheit vielmehr das naturgegebene Sein betrifft und dessen Differenzen nicht so tief in die letzten Werte der Personen hinabreichen durften, ohne die wesentliche und gerechte Gleichheit aller zu zerstören. Man kann von den Menschen allenfalls ein gleiches Tun, aber nicht ein gleiches Sein verlangen; deshalb mußte das durch den Willen nicht oder nur indirekt beeinflußbare Sein aus dem Wertinventar ausscheiden, indem es höchstens als die in sich unterschiedslose Basis alles Menschlichen überhaupt galt. Allenthalben neigen die Gläubigen der wesentlich gleichen Menschennatur zum Moralismus; denn an jener Gleichheit des Seins haben sie die geeignete Voraussetzung für allgemeingültige und deshalb radikale Imperative. Übrigens will es mir auch scheinen, als habe Kant durch die Verlegung des menschlichen Wertes aus dem Sein heraus in das Wollen und Tun, also in jene gleichsam zentrifugalen Richtungen, in denen die Seele nicht mehr rein bei sich selbst ist – als habe er sich damit ein Gegengewicht gegen die ausschließliche Zentrierung der Vorstellungswelt im Ich geschaffen.
Der Begriff der Individualität, den die geschichtliche Situation des 18. Jahrhunderts hervorgerufen hat, offenbart sich so als das Grundmotiv, das sich einerseits in die theoretische, andrerseits in die praktische Philosophie Kants verzweigt. Aber diese Deutung des menschlichen Daseins, die von der Idee von Freiheit und Gleichheit getragen ist, ist nicht in dem Sinne historisch, daß die Veränderung der Umstände sie einfach antiquierte. Ich glaube vielmehr, daß sie, ähnlich gewissen Gedanken des Griechentums und des Christentums, als dauerndes Element der Lebensdeutung und der Idealbildung die Zeit ihrer Alleinherrschaft überleben wird. Die neue Vorstellung vom Sinn der Individualität, die, von Goethe, von Schleiermacher, von der Romantik her, im 19. Jahrhundert aufgekommen ist, hat deshalb jene nicht schlechthin verdrängt, sondern sich als ergänzende oder konkurrierende neben sie gestellt. Die entscheidende Differenz liegt in dem Fortfall des Gleichheitsideales. Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den kollektiven, dogmatischen, bloß traditionellen Bindungen vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch voneinander unterscheiden wollen, steigt auf zu der sittlichen Forderung, daß jeder gleichsam ein Idealbild seiner selbst, das keinem andren gleich ist, verwirkliche. Freilich hat sich hiermit auch die Freiheit gelegentlich modifiziert. Denn dieser neue Individualismus ist der Ausdruck der Arbeitsteilung, wie jener erste der der freien Konkurrenz ist. Je differenzierter und einzigartiger die Individuen sind, desto enger sind sie doch wiederum aufeinander angewiesen. Damit wird eine Organisation der mannigfaltigen Einseitigkeiten nahegelegt, die ein Ganzes, dem Einzelnen erst seinen Platz anweisend, zum Herrn über ihn macht. Daher hat dieser Individualismus leicht anti-liberale Neigungen, und so ist er in allen seinen spezifischen Zügen das Gegenbild der Kantischen Auffassung; so aber, daß innerhalb seiner die ganz differenten Lebensbilder sich noch immer als Ergänzung des Kantischen darstellen. So bei Nietzsche, in dem der Individualismus des 19. Jahrhunderts am radikalsten und mit der entschiedensten Wendung gegen die praktisch-ethische Wertungsweise Kants auftritt. Nicht in Taten und Wirkungen offenbart sich für ihn die höhere Natur eines Menschen, sondern gerade »in der Unmittelbarkeit, im Anders sein, in der Rangdistanz«. Aber bei ihm führt nun diese Individualisierung durchaus nicht zu dem Ideal einer Kooperation; er lehnt jede reale und innerliche Abhängigkeit von der Gesellschaft ebenso wie die ideale ab, die für Kant aus der Gleichheit der Menschennatur hervorgegangen war. Dennoch ist damit die Entwicklung der individuellen Freiheit, die in Kant einen ihrer Höhepunkte erreicht hat, nur eine Station weitergeführt. Kant hat durch den Begriff des überempirischen Ich eine der großen Lösungen der Persönlichkeit vollbracht, die das Lebensproblem der Neuzeit bilden: soweit jener Begriff gilt, ist der Mensch von der Befangenheit in der bloßen Natur erlöst; indem er dieser den empirischen Menschen preisgibt, gewinnt er für das Wesentliche und Absolute unsres Wesens die volle Unabhängigkeit von allem, womit die ursächlichen Verknüpfungen der Dinge uns sonst zu vergewaltigen schienen. Dadurch indes, daß der Sinn und Inhalt dieser Freiheit mit der Pflichterfüllung innerhalb der Gesellschaft identisch gesetzt wurde, verblieb das Ich in der Fesselung durch die Gesellschaft – eine Konsequenz, die bei Kant ideell und zum Teil naiv-unbewußt bleibend, dann vom Historismus und Sozialismus aufgenommen wurde und hier nun das Individuum rettungslos in die materielle und sittliche Abhängigkeit von den sozialen Mächten verstrickte. Demgegenüber hat nun Nietzsche die zweite Erlösung versucht. Ihm erscheint nicht das gesellschaftliche Dasein als der Sinn des individuellen, sondern umgekehrt, die ganze geschichtliche Gesellschaft nur als Mittel, die höchsten Werte der Persönlichkeit zu erzeugen. Statt der Zusammenhänge und des Füreinander innerhalb der Menschheit ist ihm die Souveränität ihrer höchsten Exemplare der definitive Sinn des Lebens unsrer Gattung. Mag dieser Versuch gelungen sein oder nicht, es ist damit, der Absicht nach, das Individuum für seine innerlichsten Werte von der zweiten großen Potenz, gegen die seine Selbsterhaltung sich wehrt, von der Gesellschaft, losgebunden, wie es durch Kant von der andren, der Natur, geschehen war. So enthüllt sich diejenige Lehre, die als der schärfste Gegensatz der Kantischen auftrat, schließlich als die Fortsetzung eben derselben geistesgeschichtlichen Lebenstendenz, deren erste Aufgabe in Kant ihr prinzipielles Bewußtsein gewonnen hatte.
Ich habe schon erwähnt, daß die Form, die der Individualismus im 18. Jahrhundert und mit Kant gefunden hat, durch die neue des 19. Jahrhunderts – man könnte beide als den Individualismus der Einzelheit und den der Einzigkeit, oder als den quantitativen und den qualitativen bezeichnen – keineswegs einfach abgelöst ist, daß beide vielmehr nun nebeneinander weiterleben. Jede von ihnen zeichnet ein besonderes Ideal vor, wie es besonderen Seelen und besonderen Problemen entspricht, und es scheint fast, als sollte das neue Jahrhundert in einer Synthese beider seine tiefste Lebensaufgabe finden – oder in einem Dritten, das den Dualismus jener beiden zur Basis hat. Wenn ein solcher Vorblick auf die Zukunft Sache der persönlichen Einstellung des geistigen Auges ist, so kann die gesamte Deutung des Kantischen Werks, die ich hier vorlegte, nur eine wenig größere Erhobenheit über die bloß individuelle Art des Sehens beanspruchen – weder diese noch eine der andren, die von der jetzt gegebenen nicht verdrängt werden sollen. Denn die Interpretationen Kants stehen nebeneinander, jede den Ansprüchen besonderer Geistesarten genügend und mit ihrem Kampfe nicht dem definitiven Siege der einen zustrebend, sondern das lebendige Wechselspiel differenzierter Weisen des Auffassens und Wertens verkündend, das mit dem Reichtum des seelischen Seins solidarisch verbunden ist und darum seinen Frieden nicht nur nicht finden kann, sondern auch nicht finden soll. Kant gehört zu den ganz großen Geistern, deren Bild sich mit den Wandlungen der Geschichte selbst wandelt, weil sie der Entwicklung dauernd eingefügt bleiben und darum sozusagen immer verschiedene Rollen spielen. Und mehr als aus objektiver Eindeutigkeit erhebt sich ihre weltgeschichtliche Wirkung aus solcher Variabilität, aus der Vielheit, der Weite, der Heftigkeit der um sie gespannten Gegensätze. Denn in dem Maße ihrer Größe nähern sie sich der Natur selbst, die uns auch nicht eindeutig sagt, wie sie verstanden sein will, sondern jeden Geist berechtigt und auffordert, sein eignes Sein und Können an ihrer Deutung zu bewähren.