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Mit Sensualismus und Rationalismus ist Kant gemeinsam, das gesamte Weltbild von dem Wert und der Bedeutung der Erkenntnismittel abhängen zu lassen, durch die es uns gegeben wird. Während jene beiden aber die Deutung und Rangierung dieser Erkenntnismittel durch irrationale subjektive Grundtendenzen entscheiden lassen (denn Annahme oder Ablehnung auch des Rationalismus erfolgt schließlich aus seelischen Impulsen, die nicht selbst wieder rationell sind), stellt Kant sich sogleich auf einen objektiven Boden: er geht von der Tatsache bestimmter Erkenntnisse, die seinen dauernden Stützpunkt bildet, aus und fragt nun erst: welche Erkenntnismittel müssen in uns bestehen und in welcher Weise und Zusammensetzung müssen sie wirken, damit diese Erkenntnisse, nämlich die Mathematik, die allgemeine, praktisch erprobte Erfahrung, das Kausalgesetz und einige andere Axiome der Naturbetrachtung ihre unbezweifelbare Gültigkeit besitzen können? Kant gehört also nicht zu den revolutionär-radikalen Geistern, die die wissenschaftliche Wahrheit als solche zunächst einmal in Frage stellen, wie religiöse Weltanschauungen und wie Descartes, oder die die Anerkennung des gesamten vorliegenden Wissens verweigern, bis es sich metaphysischen Forderungen gefügt hat, wie es bei Hegel der Fall war, oder die als absolute Skeptiker alles sogenannte Erkennen für ein illusionäres Gebilde in demselben Sinne erklären, in dem der reifer werdende Geist einzelne als »Wahrheiten« geltende Stücke als Illusionen durchschaut. Trotzdem er also mit den metaphysischen Traumwissenschaften von Gott, Welt und Seele aufräumt, nimmt er doch die realeren Wissenschaftsinhalte als so unverrückbare Tatsachen hin, wie er in seiner Ethik das tatsächliche sittliche Bewußtsein der Menschen fraglos akzeptiert, ohne es zu bezweifeln oder umzugestalten. Seine Grundvoraussetzung ist die absolute Gültigkeit der Erfahrung. Die einzelne Erfahrung kann irren, aber das Ganze der Erfahrung, ihr Prinzip, kann es nicht. Gegenüber verbreiteten Meinungen von dem prinzipiellen Wesen dieser Philosophie ist durchaus festzustellen, daß sie nicht nach der Legitimität des Erkennens überhaupt fragt, sondern jene ihr wesentlichen Erkenntnisse für dieser Frage unbedürftig hält. Darum hat auch – so paradox es klingt – das Problem des Irrtums als solchen Kant nicht beschäftigt, sondern nur diese und jene Inhalte bestehender Theorien, die er als irrtümlich kritisierte. Ihn erregte nicht die Problematik, die die Tatsache des Erkennens als solche der Weltstellung des Menschen einträgt, sondern die Widersprüche innerhalb des Erkennens, das er vielmehr prinzipiell fraglos hinnimmt. Erst indem er von ihm, d. h. von den Erkenntnissen, die für ihn axiomatisch in Mathematik und Erfahrung gegeben sind, auf die geistigen Bedingungen, die Erkenntnisfunktionen, zurückschließt, die sie bilden, erhalten diese letzteren ihre fundierende Bedeutung und können nun zu Trägern und Kriterien einer Weltanschauung werden. Man mag die Kantische Lehre, insofern sie, wie Sensualismus und Rationalismus, um die Relation seelischer Kräfte zentriert, einen Subjektivismus nennen; aber einen solchen, der nicht, wie diese, durch eine Gestimmtheit des Subjekts, sondern durch die Konsequenz jener objektiven Erkenntnisse bestimmt wird. So ist die Antwort auf die Frage: wie ist Mathematik und wie ist Erfahrung möglich? – zugleich die gleichsam überpersönliche Lösung des Konflikts zwischen Sensualismus und Rationalismus. Diese Lösung lautet in kurzer Zusammenfassung: die Rationalisten haben ganz recht; es gibt Erkenntnisse so allgemeiner und notwendiger Art, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können; sie sind nicht Erfahrung, aber die Mittel der Erfahrung: sie sind die mit dem Wesen unsres Geistes gegebenen Formen oder Funktionen, durch die wir Erfahrung bilden, die also freilich von jedem Gegenstande der Erfahrung ausnahmslos, und ohne daß man ihn erst geprüft hätte, gelten müssen; denn sie sind ja die Bedingungen, unter denen er überhaupt für uns ein Gegenstand der Erfahrung werden kann: so die Sätze der Mathematik, so das Kausalgesetz. Und die Empiristen haben auch recht: nur die Erfahrung gibt uns wirkliche, zureichende Erkenntnis eines Gegenstandes; allein diese Erfahrung besteht nicht, wie man bis zu Kant fast ausschließlich glaubte, aus Sinneseindrücken, die die Dinge auf die leere, passiv aufnehmende Tafel unsres Bewußtseins schrieben; sondern sie ist selbst schon ein Produkt der Sinne und des Verstandes. Die Sinne geben das rohe Material, den isolierten, sinnlosen, vorüberfliegenden Eindruck, der erst durch jene verstandesmäßigen Kräfte zur gültigen, objektiven Erfahrung geformt werden muß. Wir bringen also schon etwas mit, wenn wir an die Dinge herantreten, um uns von ihnen empirisch belehren zu lassen: die Formen und Funktionen des Geistes selbst, die gestaltenden Kräfte, die die bloße Sinnesaffektion zu einer zuverlässigen Erkenntnis, einer verständlichen Ordnung der Dinge weiterbilden. In ewigem Flusse, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorbei; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleichsam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindung unter ihnen, – es fügt die einzelnen optischen Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung, die zufällige Folge der Bilder zu dauernden Regeln, die wechselnden Vorstellungen zu einem bestimmt charakterisierten Ich zusammen. Die Gesetze, nach denen diese Verbindungen gestiftet werden, sind, wie Kant sich ausdrückt, a priori, d. h. sie entstehen nicht aus der Erfahrung, sondern sie bringen diese zustande, als die Formen des Intellekts, in welche dieser den sinnlichen Stoff faßt.
Nun begriff aber das vom Rationalismus behauptete Rechtsgebiet der Vernunft nicht nur die Allgemeinheit und Notwendigkeit von Sätzen ein, die sich auf solche Weise als die Formen der Erfahrung deuten lassen, sondern auch Behauptungen, die ganz über alle Erfahrung hinausgehen, weil sie entweder das absolute Ganze oder den absoluten Charakter des Daseins angehen, – da doch Erfahrung nur Unvollkommenes und Relatives zeigt, – oder überhaupt hinter die Erscheinung der Dinge greifen. Diese angeblichen Erkenntnisse der Vernunft, wie Kant ihren psychologischen Träger im Gegensatz zu dem Erfahrung-bildenden Verstand nennt, sind eben wegen ihrer Unmöglichkeit, sich mit sinnlichem Inhalt zu füllen, durch Kant als bloßer Schein erwiesen; dennoch werden auch sie in den Organismus des Geistes, dessen Produkt die für uns reale Welt ist, eingefügt. Sie sagen zwar nichts über die Dinge aus, aber sie sind die Richtung-gebenden Zielpunkte, auf die hin sich unser Forschen über die Dinge bewegt, ohne sie freilich je erreichen zu können. Einen Zweck der Natur zum Beispiel können wir weder im einzelnen noch im ganzen erkennen; aber zum Verständnis der Organismen muß unser Forschen verfahren, als ob das vollkommenste Leben der Zweck ihres Baues wäre; zum Verständnis des Daseins überhaupt, als ob das moralische Vernunftwesen den Endzweck der Natur bildete; zum Verständnis der Geschichte, als ob ein Weltstaat mit vollkommener Kultur und Freiheit aller Individuen die Absicht der Vorsehung wäre.
Man hat diese von Kant unter die philosophischen Methoden eingeführte Kategorie des »Als ob« für die, dem menschlichen Erkennen und Handeln notwendige Fiktion erklärt, sozusagen für einen bewußten Selbstbetrug, der eine Station des Weges zum theoretisch und praktisch Richtigen wäre. Ich halte dies für eine falsche Auffassung. Indem ein Gedanke als »heuristisches« oder »regulatives« Prinzip funktioniert; hat er, der eine subjektive Idee ist, freilich die sozusagen praktische Wirkung auf uns, die er als objektive Realität haben würde. Dies kann nur als Fiktion erscheinen, weil wir gewohnt sind, unsre Erkenntniselemente in die harte, äußerliche Alternative: subjektiv oder objektiv – einzustellen. In Wirklichkeit gehört jenes Gebilde einer dritten, in diese beiden nicht aufteilbaren Schicht an, es ist eine selbständige synthetische Einheit beider, und die Kriterien, nach denen seine einzelnen Fälle als richtig oder irrig gelten dürfen, erwachsen aus seinem eigenen, unvergleichlichen Wesen und Zweck, nicht aber aus dem des Subjektiven für sich oder des Objektiven für sich. Nur daraus, daß man den Inhalt der »Als-ob-Prinzipien« der Form und Norm des Objektiven unterstellt, gewinnt man das scheinbare Recht, ihn als »Fiktion« zu bezeichnen. Aber dieser Jurisdiktion der Objektivitätskriterien, die in andern Fällen für ihn gelten mögen, gehört er eben jetzt nicht zu: Unrichtigkeit oder Täuschung ihm zu insinuieren, setzt voraus, daß man deren Gegenteil, die objektive Wahrheit, von ihm verlangt – aber nicht diese, sondern nur sein Dienst für Richtung und Fortschritt der Erkenntnis oder des Handelns wird jetzt beansprucht. Das eigenständige Recht dieser regulativen Begriffe oder Prinzipien zu einer »Fiktion« herabzusetzen, ist etwa so, wie wenn man eine im nur sittlichen Interesse vollbrachte Handlung »unvernünftig« nennt, weil sie dies vom Standpunkt der ökonomischen Interessen des Handelnden aus allerdings wäre, deren Kriterien aber jetzt gar nicht für sie in Frage kommen. –
Mit diesem Gedanken, daß die überempirischen Begriffe, als Erkenntnisse der Realität selbst gegenstandslos und trügerisch, als Wegweiser für unsere Erkenntnisbemühungen eine unentbehrliche Funktion üben, mit diesem unsäglich fruchtbaren Gedanken hat Kant den Fluch der Metaphysik in Segen verwandelt. Ich gebe noch ein Beispiel. Alle philosophische Spekulation meinte die Grundsubstanz oder Grundkraft entdeckt zu haben, in der alle Mannigfaltigkeiten der Dinge ihre Einheit, alle verschiedenen Begriffe ihren höchsten, zusammenfassenden Oberbegriff fänden. Gewiß ist für unsere Erkenntniskräfte diese absolute Einheit des Daseins unauffindbar; allein neben der Illusion ihrer Entdeckung steht ihr ganz unentbehrlicher Gebrauch als Ideal und Regulativ unserer Erfahrung; diese darf sich mit keiner vorliegenden Diskrepanz und Fremdheit der Erscheinungen zufrieden geben, sondern muß zu jeder die tiefere Einheit suchen, als ob sie wirklich auf jenem absoluten Grunde der Dinge münden sollte, der ihr doch verschlossen ist. Unser Erkennen, das in der Vereinigung der auseinanderliegenden Erscheinungen zu immer allgemeineren Gesetzlichkeiten besteht, würde stillstehen, wenn es nicht durch das imaginäre Ziel einer Einheit alles Seienden seinen Weg geführt würde. Nun aber glaubt das Denken, die fragmentarisch gegebene Wirklichkeit gleichsam nach der anderen Seite hin zu einem absolut abgerundeten Bilde ergänzend, daß auch die Unterschiedenheit der Dinge eine unendliche sei. Es gäbe nicht zwei Erscheinungen, ja nicht zwei Bruchstücke zweier Erscheinungen, die einander gleich seien, jeder Punkt des Seins sei absolut individuell und unverwechselbar mit jedem anderen, – so viel Gleichheiten unter den Dingen auch die mangelnde Schärfe unsres Erkennens uns vortäusche. Auch diese Behauptung haben wir ersichtlich kein Recht, über das objektive Sein aufzustellen, denn innerhalb dieses findet, soweit es der Erfahrung, d. h. uns überhaupt, zugängig ist, die Unterschiedlichkeit allenthalben ihre Grenzen und macht der Gleichheit Platz. Ebenso ersichtlich aber hat dies Prinzip volle Geltung als Leitfaden unserer Erkenntnisaktion. Denn so wenig wie wir bei den Differenzen des ersten Anblicks der Dinge Halt machen dürfen, sondern ihre tiefer gelegene Gleichheit und Einheit suchen müssen, – so wenig dürfen wir uns bei dieser letzteren begnügen, sondern müssen unter der entdeckten Gleichheit nach immer tieferer Individualisierung forschen, dürfen jene niemals als das Definitivum behandeln, vielmehr nur als Vorstufe zu noch feineren, dem geschärften Blicke auffindbaren Besonderheiten. Was also als metaphysische Behauptungen unrealisierbar war und sich gegenseitig aufhob: die absolute Einheit der Dinge und die absolute Individualisiertheit eben derselben, – ist völlig miteinander verträglich und beherrscht in Wirklichkeit den menschlichen Erkenntnisprozeß an jeder Stelle, sobald es statt als ein Gesetz der Dinge als ein Gesetz unsres Forschens erkannt ist, statt als Ruhepunkte, die erst mit ihrer Erreichtheit etwas für uns bedeuten, als die Richtungen endlosen Fortschreitens. Wie also der Sensualismus mit seiner Behauptung, daß es keine Erkenntnis ohne Sinneseindrücke gäbe, recht hat, wenn auch in einer ihn überraschenden Bedeutung: daß nämlich Sinneseindrücke der zwar unentbehrliche, für sich aber noch keine Erkenntnis bildende Stoff der Erfahrung sind, – so hat auch der Rationalismus in einem neuen Sinne recht. Denn Begriffe, die ihre Art und ihr Maß nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, gelten zwar; aber auch sie nicht so, daß sie für sich Erkenntnis wären, sondern nur als die Formen, nach denen Sinneseindrücke und Einzelerfahrungen geordnet und geleitet werden, um die tatsächliche Erkenntnis, die Erfahrung ist, zu gestalten.
Dieser Entscheidung zwischen Sensualismus und Rationalismus ist ein Grundprinzip von höchster Bedeutsamkeit erwachsen: das wahre Weltbild entsteht durch das Zusammenwirken sämtlicher geistiger Energien. Die Einseitigkeit aller Lehren, die eine derselben auf Kosten der andren zum Träger der Wahrheit machen, ist überwunden, während die Wertung des bewußten Geistes überhaupt als Quell der Welt, von der wir als einer erkennbaren sprechen können, erhalten bleibt. Wenn Objektivität die Funktion hat, subjektive Ansprüche auszugleichen und sie in eine höhere Einheit jenseits ihrer Einseitigkeiten überzuführen, so spiegelt sich die Objektivität des Ausgangspunktes, den Kant nahm, in der Objektivität dieses schließlichen und entscheidenden Gedankens. Mit dem Nachweis, daß der Gewinn der Wahrheit den Einsatz aller theoretischen Kräfte fordere, hat Kant einen weltanschaulich entscheidenden Weg eingeschlagen, den freilich seine wissenschaftlich intellektualistische Exklusivität begrenzte und den dann erst Goethe bis ans Ende gegangen ist. Für Kant, dem es ausschließlich auf Analyse und Fundierung der als Wissenschaft vorliegenden Erkenntnis ankam, verstand es sich von selbst, daß die zusammenwirksamen Energien diejenigen waren, die von vornherein theoretischer Natur, auf Erkenntnis von Objekten eingestellte waren: die Sinnlichkeit, der Verstand, in gewissem Sinne die Vernunft. Aber dies ist doch nur die Vorstufe zu der Goethischen Überzeugung, daß zu jeder Erkenntnis alle Lebenselemente überhaupt tätig sein müßten: die künstlerische Phantasie wie die Liebe, der Schönheitssinn, wie die gar nicht zu rationalisierende Ahnung, das rein Intellektuelle wie das Menschlich-Allgemeine unserer Anlage nicht weniger als Sinnlichkeit und Verstand. Der ganze Intellekt erkennt – das war die Kantische Überwindung des Sensualismus und Rationalismus. Und nun steigt dies ins Höhere und Weitere: der ganze Mensch erkennt. Damit erst hat unser geistiges Weltverhältnis seine tragfähigste Basis gewonnen, jede differentielle Seelenkraft, die wir für die eine oder die andere Erkenntnisaufgabe einzusetzen haben, ist jetzt nur noch das besonders gestaltete und gerichtete Strombett, in das jeweils die Ganzheit unseres seelischen Lebens kanalisiert ist. Wir aber haben nun zu verfolgen, wie Kant innerhalb der von ihm eingehaltenen Grenzen die Ratlosigkeiten des Erkennens auflöst, für die man vorher in der einseitigen Herrschaft seelischer Impulse Abhilfe gesucht hatte.
Das Grundproblem ist doch dies: wir können auf die unbedingte Sicherheit und Allgemeingültigkeit gewisser Erkenntnisse nicht verzichten, die Mathematik, das Kausalgesetz, die Einstellung der Erscheinungen in die Kategorien von Substanz und Eigenschaft, die Zeitlichkeit alles Daseins, sind uns tatsächlich von einer undurchbrechlichen Gewißheit für unsere sämtlichen Aussagen über die Dinge. Wie aber ist dies möglich, da wir doch von den Dingen nur wissen, was sie uns zeigen, und deshalb nur das bereits Gegebene und den induktiven Schluß aus ihm zur Verfügung haben? Solche Gewißheit gäbe es doch allein in dem logischen Denken, solange es rein formal sich in sich selbst bewegt; die Wirklichkeit aber wäre uns nur in der Erfahrung zugängig, die immer Korrekturen offen bleibt und niemals die absolute Notwendigkeit jener Gesetze ergibt. Kants Leistung ist nun hier, ein drittes, in unsrem Erkennen tatsächlich wirksames Element entdeckt zu haben: die Gesetze, die die Erfahrung aus den Sinneseindrücken zustande bringen; diese sind allgemein und notwendig, aber sie sind es gerade nur für die Gegenstände der Erfahrung. Obgleich, oder: weil sie nicht aus der Erfahrung gewonnen sind, so beherrschen sie diese. Gewiß wissen wir nur von den Dingen, soweit sie sich uns sinnlich geben; aber nicht dadurch allein, sondern nur, wenn die sinnlichen Eindrücke sich in Formen ordnen, die in ihnen selbst nicht liegen und deren Gültigkeit für alle Gegenstände der Erfahrung darum eine ausnahmslose, von vornherein feststehende ist, weil diese eben nur durch sie zu Gegenständen der Erfahrung werden. So war gefragt worden: was bedeutet das Kausalgesetz und die kausale Verknüpfung der Dinge – das Hauptkapitel der »reinen« Naturwissenschaft? Eine logische Notwendigkeit ist dieses Gesetz nicht; wir können uns eine Welt denken, in der es nicht gilt; aus Sinneseindrücken kann es auch nicht stammen, denn diese zeigen uns immer nur ein Nacheinander, niemals ein Auseinander, die kausale Verbindung ist etwas Unanschauliches, hinter den Sinnesbildern der Dinge Gelegenes. Nun beweist Kant: selbst diejenige Aufeinanderfolge sinnlicher Erscheinungen, die wir Erfahrung nennen, wäre unmöglich, wenn nicht das Kausalgesetz vorausgesetzt wird. Die sinnlichen Eindrücke der Dinge nämlich gleiten unter allen Umständen nacheinander durch unser Bewußtsein. Die Vorstellungen derjenigen Dinge, welche dauernd gleichzeitig nebeneinander existieren, erfolgen als Sinneneindrücke genau so nacheinander, wie die Vorstellungen desjenigen, was auch sachlich nacheinander vorgeht. Der Sensualist, der sich wirklich nur an das halten würde, was er sieht, könnte gar nicht sicher sein, ob die Straßen, die er durchschreitet, gleichzeitig und nebeneinander existieren, oder nur nacheinander auftauchende Bilder sind, wie sie im Kinematographen an ihm vorüberziehen. Denn tatsächlich sieht er nur den ihm jeweilig gegenwärtigen Abschnitt, und daß die andern, diesseits und jenseits von diesem gelegenen, auch noch da sind, kann er mit keinem unmittelbar sinnlichen Mittel feststellen. Glaubt er aber dennoch an eine solche unsinnliche Gleichzeitigkeit, so könnte er weiterhin auch nicht mit sinnlichen Mitteln feststellen, ob dem Nacheinander der Kinobilder, das sich als solches gar nicht prinzipiell von dem Nacheinander der Häuser-Wahrnehmungen unterscheidet, nicht etwa sachlich eine ebensolche gleichzeitige Wirklichkeit wie diesem entspricht. Es würde also auf dem streng sensualistischen Standpunkt dasjenige, was wir Erfahrung nennen, ersichtlich gar nicht zustande kommen, sondern nur ein praktisch unzuverlässiges Trugbild, eine irrlichterierende Zufälligkeit des Vorstellens, der wir freilich auch oft genug unterliegen, sie aber doch von der prinzipiell uns zugängigen empirischen Erkenntnis unterscheiden. Damit jene formgleichen Sinnenbilder die formverschiedenen Erfahrungen würden, als die sie tatsächlich für uns bestehen, müssen wir überzeugt sein, daß die Nacheinanderfolge der Wahrnehmungen in dem einen Fall notwendig bestimmt ist, in dem anderen aber gelegentlich auch umgekehrt oder in rhapsodischem Durcheinander erfolgen kann. Auf Grund wovon diese Überzeugung von der notwendigen Ordnung oder Verknüpftheit gewisser Wahrnehmungen sich einstellt, ist Sache einer besonderen Untersuchung. Kausalität aber ist nur der Name für diese Notwendigkeit, für die Sicherheit, jene Folge jederzeit in der Erfahrung anzutreffen. Wenn wir nicht voraussetzten, daß jedes Ereignis, so oft es sich als das identische wiederholt, unweigerlich ein weiteres, immer identisches zur Folge haben wird, – gleichviel ob unsere Sinne, davon abschweifend, irgendein ganz anderes nach jenem ersten wahrnehmen, – so würden wir zwar Sinneseindrücke haben, aber sie würden uns zu keiner Erfahrung verhelfen. Die sinnlich singulären Tatsachen bedürfen also für diejenigen Zwecke, auf die auch der Sensualist nicht verzichten kann, einer übersinnlich allgemeinen Voraussetzung; sie ist notwendig, d. h. die Wahrnehmungen müssen sie stets verifizieren können, auch wenn der tatsächliche Verlauf der Wahrnehmungen im Einzelfall ganz davon abbiegt. Damit ist wohl eine der tiefsten Synthesen der Weltanschauung geschaffen: das notwendig Allgemeine, scheinbar ein bloßes Gedankengebilde gegenüber dem empirisch Tatsächlichen, enthüllt sich als die Bedingung dieses letzteren selbst. Daß so das Empirische durch das Überempirische, alles Zufällige durch ein Notwendiges bedingt ist, hatte bei Plato für das Verhältnis der Einzeldinge zu der metaphysischen »Idee« gegolten, im Christentum für das Verhältnis der Welt zu Gott; jetzt baut sich darauf die Möglichkeit des Erkennens überhaupt auf. Nur freilich daß hier nicht, wie in jenen Weltanschauungen, ein an und für sich selbstgenugsam Notwendiges, der von ihm abhängigen Erfahrungswelt Unbedürftiges in Frage steht, sondern daß es nur im Hinblick auf diese, sozusagen zum Zweck dieser gültig und notwendig ist, nur die Form ist, in der sich die Erfahrung ordnet; es ist nicht denknotwendig, aus der reinen Logik ist es nicht zu beweisen, – und doch notwendig, nämlich für die Erfahrung. Das ist die neue Kategorie, die Kant entdeckt hat: notwendige Begriffe und Sätze, die allgemein gelten, nicht weil sie sich vom wahrnehmbaren Dasein abwenden, sondern weil sie sich ihm zuwenden, die von der Erfahrung unabhängig sind, aber nur deshalb, weil die Erfahrung von ihnen abhängig ist, – eine Art der Verknüpfung, von der Kant mit Stolz und mit Recht sagt, daß seine Vorgänger sie sich »niemals einfallen ließen«.
Dieselbe Geltungsart gewinnt Kant für die geometrischen Sätze. Die Farbenempfindung, die der Sinn allein liefert, ist noch nicht der räumliche Gegenstand, mit dem wir es in der Erfahrung zu tun haben. Vielmehr, um zu diesem zu werden, muß jenes Rohmaterial erst durch eine seelische Energie eine besondere Form gewinnen. Diese Form ist die Räumlichkeit. Wir haben die Bedeutung der letzteren als einen Angelpunkt des Kantischen Denkens nachher eingehend zu behandeln. Sie muß hier nur vorweggenommen werden, um die Stellung der geometrischen Sätze zu verstehen. Daß die Axiome der Geometrie das Wesen unsres Raumes beschreiben, heißt nichts anderes, als daß sie die Regeln formulieren, nach denen unser Geist bei der Formung unsrer Sinneseindrücke zu den Raumgebilden unsrer Erfahrung verfährt. Der Raum, der doch nur an sinnlichen Erscheinungen feststellbar ist, richtet sich nach den Axiomen, weil durch ihre Wirksamkeit in unsrem Geist allein jene Erscheinungen zustande kommen. Die geometrischen Axiome sind so wenig wie das Kausalgesetz logisch notwendig, es lassen sich Räume und Geometrien denken, in denen ganz andere Axiome als die unsrigen gelten, wie die anti-euklidische Geometrie in dem Jahrhundert nach Kant nachgewiesen hat. Aber unbedingt notwendig sind sie für unsere Erfahrung, weil sie diese erst zustande bringen. Darum war es ein völliger Irrtum von Helmholtz, die widerspruchslose Vorstellbarkeit von Räumen, in denen die euklidischen Axiome nicht herrschen, als Widerlegung der von Kant behaupteten Allgemeinheit und Notwendigkeit der letzteren anzusehen. Denn die Kantische Apriorität bedeutet nur Allgemeinheit und Notwendigkeit für die erfahrbare Welt, keine logische, absolute Gültigkeit, sondern eine solche nur für den Kreis empfindbarer Objekte. Unsere Geometrie gehört eben der von Kant aufgefundenen Gattung von Erkenntnissen an, die Allgemeinheit besitzen, nicht als Produkte des reinen Denkens, sondern als Bedingungen der Erfahrung; die darum nicht, wie der Sensualismus will, aus der Sinnlichkeit geschöpft sind, aber allerdings nur in der Anwendung auf Sinnlichkeit ihre Funktion, nämlich Erfahrung zu bilden, üben können. Darum würden die anti-euklidischen Geometrien die Apriorität unsrer Axiome nur dann widerlegen, wenn jemand seine Erfahrungen in einem pseudosphärischen Raume gesammelt oder seine Empfindungen zu einem Raumgebilde zusammengeschlossen hätte, in dem das Parallelenaxiom nicht gälte. Und selbst wenn sich etwa zeigen sollte, daß die euklidische Axiomatik, die Kant allerdings als die absolut gültige hinnimmt, die Art unseres empirischen Anschauungsraumes nicht ganz zutreffend beschriebe, so würde das Kantische Apriori freilich einen inhaltlichen Wechsel erleiden; allein sein Grundmotiv: daß unsere Geometrie das wissenschaftliche Bewußtsein von den Formen ist, durch die wir Sinneseindrücke zu räumlichen Erfahrungsgegenständen gestalten – wird dadurch nicht erschüttert, daß dieses Bewußtsein irren und korrigiert werden kann. Das Prinzip gilt für die richtige Geometrie, gleichviel ob etwa unsere jeweilige, zeitgeschichtlich bedingte, immer nur eine Annäherung an jene darstellt.
Es wird keiner weiteren Beispiele bedürfen, um das Wesen dieser apriorischen Sätze einzusehen, die das Nachdenken über das menschliche Erkennen aus der peinlichen und ungenügenden Alternative zwischen Sinnlichkeit und sinnenfreier Vernunft erlösten; sie sind die Träger der neuen Synthese, in der Kant die Allgemeinheit der Vernunft und die Singularität der Sinneseindrücke zusammenfaßt: in dem neuen Begriff der Erfahrung, die er als das Produkt von Sinnlichkeit und Verstand erkannte. Nun kann alle reale Erkenntnis der Dinge auf Erfahrung beschränkt werden, ohne daß die höheren Erkenntniskräfte des Menschen mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit ihrer Aussagen dadurch deklassiert würden, da diese als die formgebenden Gesetze der Erfahrung durchschaut sind. Gerade wenn man nur Erfahrung gelten läßt, muß man zugeben, daß die Bedingungen der Erfahrung, die jeden ihrer Fälle gestalten, für das ganze Gebiet möglicher Erkenntnis mit ausnahmsloser Gewißheit gelten.
Vermöge des Idealismus – so hört man vielfach Kants Absicht gedeutet – d. h. vermöge der Einsicht, daß alle Gegenstände der Erkenntnis nur Erscheinungen innerhalb des durch seine Gesetze sie bestimmenden Bewußtseins sind, habe er die »reinen« Wissenschaften, die Mathematik, die »reine Naturwissenschaft«, die Regeln des Zeitverlaufs fundamentiert. Nun ist er allerdings durch die Bezweiflung der notwendigen Gültigkeit dieser Erkenntnisse zu seiner Untersuchung bewegt worden. Allein schließlich war das doch nur die psychologische »Gelegenheitsursache«. Denn an der Tatsächlichkeit dieses Geltens hat er im Ernst nie gezweifelt und hat diese Tatsächlichkeit als solche gar nicht zu »retten« brauchen. Was er begreiflich machen wollte, war vielmehr, daß diese unbezweifelten reinen Wissenschaften die Erfahrung begründen. Noch einmal zeigt er sich hier als das Gegenteil des Revolutionärs. Bezeichnet man einmal, jene Faktoren zu ihren höheren Begriffen steigernd, die reine Naturwissenschaft, die apriorischen Formen, als das Ideelle, die Erfahrung als das Reale – so hat sich doch alle Revolution immer an dem Bruch oder der Unverbundenheit zwischen dem Ideellen und dem Realen (in jedem Sinne der Worte) entzündet. Indem Kant zeigt, daß sie in jenen beiden Formen eine oder vielmehr die Einheit des Erkennens bilden, hat er der Revolution gerade den Boden entzogen. Ihn hierin mißzuverstehen entspricht genau dem Irrtum der Gegner des Sokrates. Daß der in der Sophistik sich aussprechende Zeitcharakter nicht mehr gestattete, die sittlichen Werte in den früheren Garantien: Autorität, Pietät, Tradition usw. zu verankern; daß die neu aufgekommenen Geistesmächte der logischen Vernunft und der selbständig freien Prüfung diese Sanktionen entkernt hatten – das sah Sokrates ein. Daß er damit jene sittlichen Werte selbst zerstören wollte – das war das Mißverständnis seiner Feinde. In Wirklichkeit suchte er gerade die Synthese: mit den neuen Denkmitteln die wesentliche, von je bestehende Moral zu fundamentieren. Sokrates war ebenso ethisch konservativ, wie Kant wissenschaftlich konservativ war. Für beide handelte es sich darum, die Wendung zum »Subjekt«, die erkannte Bedingtheit des Seins durch die Formen und Zeugungskräfte des Geistes nicht als die Zerstörung des Objektiv-Gültigen, sondern gerade als dessen völlige, jetzt keinen Feind mehr hinter sich lassende Sicherung zu begreifen.