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Dritte Vorlesung.

Der zuletzt auseinandergesetzte, von Kant geschaffene Begriff der Erfahrung begegnet einer Reihe von Schwierigkeiten, die aber vielleicht gar nicht seiner inneren Bedeutung entspringen, sondern der noch nicht gewonnenen Zuordnung, dem noch nicht geklärten Verhältnis zu älteren, gleichfalls mit Recht weiterlebenden Begriffen und gedanklichen Forderungen. Unter diesem Vorbehalt erwähne ich drei Schwierigkeiten gegen die Aprioritätslehre, die mir nur in abgestuften Graden lösbar, aber für das innerste Wesen der Vernunftkritik höchst aufklärend erscheinen.

Der Gedanke, daß die Beschaffenheit des erkennenden Subjekts selbst die Bedingung des Erkennens ist, daß man also von jedem erfahrbaren Gegenstande von vornherein und ohne ihn zu untersuchen diejenigen Bestimmungen aussagen kann, die die Erkenntniskräfte des Subjekts, der Prozeß des Erkennens selbst ihm aufprägt, – dieser Gedanke ist zwar in seiner Einfachheit, die seine späte Entdeckung eigentlich zu einem Wunder macht, unmittelbar einleuchtend; allein die unbedingte Gültigkeit irgendeines bestimmt formulierten Satzes folgt daraus nicht so unmittelbar, wie Kant meint. Das Apriori, das die Erfahrung in uns tatsächlich gestaltet, ist eine objektive Kraft, eine wirksame Wirklichkeit in uns, die in bewußten Begriffen und Formeln erst nachträglich ausdrückbar ist. Niemand wird behaupten, daß das Kausalgesetz als ein bewußtes Prinzip in uns wirkte, wenn wir unsere Wahrnehmungen ihm gemäß deuten. Es verhält sich mit ihm nicht anders, als wenn wir etwa mit dem Gravitationsgesetz eine Wirklichkeit, die sozusagen von ihm nichts weiß und als solche ganz ungreifbar ist, in die wechselnde und unsichere Sprache unsrer Begriffe überführen. Die Formel, in der das Kausalgesetz uns bewußt wird, ist, analog jedem Naturgesetz, nur die reflektierende Deutung derjenigen seelischen Wirklichkeit in uns, die die Funktion der Erfahrungsbildung real ausübt. Diese letztere also ist das wirkliche Apriori, nicht aber das begriffliche und gewußte Kausalgesetz, das nur den durch unser Bewußtsein gebrochenen Reflex, nur die dem Irrtum unterworfene Wahrnehmung jenes bedeutet. Wir wissen also mit vollkommener Sicherheit, daß es ein allgemein gültiges Apriori geben muß, wenn es ein Erkennen geben soll; allein dies ist ein rein abstraktes und abstrakt bleibendes Wissen, eigentlich nur ein Postulat; denn welches nun im einzelnen die Inhalte dieses Apriori sind, können wir keineswegs mit derselben Sicherheit wissen, sind hier vielmehr auf dieselbe Ungewißheit und Korrigierbarkeit angewiesen, von der das Apriori gerade befreit schien.

Die hier gebrauchten Formulierungen halten sich, wie alle bisherigen, hinsichtlich der Kantischen Motive innerhalb einer gewissen Deutung und Akzentlage, die zwar, wo es sich um deren geistesgeschichtliche und weltanschauliche Wirkung handelt, gerechtfertigt ist, aber dieses Recht doch erst in dem geklärten Verhältnis zu den eigensten Kantischen Intentionen begründen muß. Der deutlichste Weg zu dem hier Gemeinten führt vielleicht über die Konfrontierung des Apriori mit den »angeborenen Ideen«, einem in der Epoche vor Kant verbreiteten Glaubensartikel: die Vorstellungen von Gott, die Hauptsätze der Moral, die logischen Grundgesetze und einiges andre glaubte man vielfach mit der seelischen »Natur« so unmittelbar gegeben, wie unsre typische Körperlichkeit, so daß sie in einem gewissen Entwicklungsstadium des Individuums notwendig und allgemein hervortreten müßten. Nun ist das Apriori die innere Bedingung der einzelnen Erkenntnisse, nicht etwa eine zeitlich vorangehende Ursache. Eine »angeborene Vorstellung« aber, z. B. des Kausalgesetzes, würde eine solche zeitliche Präexistenz eines seelischen Elementes bedeuten, die dann mit später hinzutretenden die Gesamterkenntnis zustande bringt. Der zeitliche Vorgang indes, so oder anders verlaufend, in dem die Erkenntnis psychologisch entsteht, ist gar nicht Kants Problem; dieses ist vielmehr die innere Struktur der sachlichen, definitiven Erkenntnis. Indem er in dieser Elemente von verschiedener Wertigkeit findet: stabile, notwendige, begründende – und flüchtigere, auf Zufälle angewiesene, formale und materiale, allgemein gültige und auf den Einzelfall beschränkte – so bedient sich der Ausdruck dieser rein sachlichen Verhältnisse, schwer vermeidlich, des Symbols zeitlicher oder sogar räumlicher Anordnungen: als gingen die einen Elemente vorher und die andern folgten, als lägen die einen »zugrunde« und die andern wären darüber gebaut usw. Aber dies sind nur Bilder, von deren zeit-räumlicher Sinnlichkeit die gemeinten Relationen so wenig getroffen werden, wie die Wahrheit der Gleichung 2x2=4 dadurch, daß ein erstes Glied zuvor gegeben und das Resultat dann erst aus jenem entwickelt scheint. Würde das Apriori nur als Angeborenheit gelten, so hätte die vorhin berührte Schwierigkeit volles Gewicht: ob etwas wirklich allen Menschen angeboren ist, wäre doch nur durch eine induktive psychologische Untersuchung festzustellen, deren nur graduelle Sicherheit von dem, jeder Grad-Frage fremden Apriori sehr abstäche; die Erkenntnis des absolut Gewissen wäre eine absolut ungewisse. – Damit soll der metaphysische Tiefsinn der »angeborenen Ideen« nicht geleugnet werden. Ihre Annahme ruht auf dem Gedanken, daß die sachlich-innere Notwendigkeit eines Urteils und die Notwendigkeit, dies Urteil zu fällen, nicht auseinanderfallen können. Der leidenschaftliche Glaube an die naturhafte Harmonie alles Seienden, der die Aufklärungszeit erfüllte, ließ sie diese Brücke zwischen dem Objektiv-Gültigen und dem Psychologischen schlagen: fundamentale Wahrheiten seien so eingerichtet, daß jeder Geist ihrer bewußt sein müßte. Diese Brücke brach Kant ab, aber statt daß die Wahrheiten nun in den Abgrund unter ihr versanken, wie es in der Konsequenz jener Voraussetzung gelegen hätte, gab er ihnen in ihrer Bedeutung als Apriori eine feste Wohnstätte, und zwar gerade dadurch, daß er diese gegen alles Psychologische abgrenzte. Die »Allgemeinheit und Notwendigkeit« des Apriori, die psychologisch angesehen etwas Quantitatives ist, zeigt sich erst so als der Ausdruck für eine bestimmte qualitative Wertigkeit von Erkenntniselementen, und die Feststellung, daß dies und jenes eben ein Apriori des Wissens wäre, kann damit eine klare, sachliche, logisch zugänglichere werden. Allein, was den – im Sinne ihrer Anhänger akzeptierten – angeborenen Ideen gegenüber durch das Apriori gewonnen ist, ist nur die fraglose Gültigkeit seines Prinzips, seines abstrakten Allgemeinbegriffs. Während die Unsicherheit der Feststellung für die angeborenen Ideen ganz und gar besteht, ergreift sie hier nur die einzelnen Behauptungen, daß dieses und jenes Element unseres Wissens apriori sei. Das Apriori kann, sozusagen als Subjekt, nicht irren, weil es ja die Erkenntnis bedingt, also seinerseits bestimmt, was wahr sein soll; das Erkennen aber, das irgendein spezielles Apriori zum Objekt oder Problem hat, kann, als Erkennen, wahr oder irrig sein. Für unser Wissen um das, was nun wirklich apriori ist, besteht die Allgemeinheit und Notwendigkeit nur so, wie man von Gott gesagt hat: man wisse zwar, daß er sei, aber nicht was er sei. Die angeborenen Ideen sollten sich im Bewußtsein des normalen Erwachsenen dauernd kundtun, so daß über ihren Inhalt kein Zweifel sein kann. Das Apriori aber liegt tief versponnen in dem ganz unregelmäßigen, sich auflösenden, sich weiterspinnenden Gewebe unsres Wissens vor und kann nur durch Beobachtung, Analyse, Induktion, die der Korrektur und Fortentwicklung unterworfen bleiben, herauserkannt werden. Neben der Allgemeinheit und Notwendigkeit seines Prinzips, gegenüber der nur graduellen Sicherheit alles Psychologischen, steht eine ebenso nur graduelle seiner Einzelfeststellung.

Im übrigen haben die Wertakzente auf diesen Begriffen seit Kant und seiner Zeit eine unleugbare Verschiebung erfahren. Die Beseitigung des sensualistischen Empirismus durch den neuen Begriff der Erfahrung, als eines durch unsinnlich-geistige Formung des Sinnenmaterials bedingten Gebildes, ist auch für heute noch eine unsäglich wirksame Entdeckung und darf, soweit man überhaupt von Ewigkeitswerten in der Geistesgeschichte sprechen kann, zu diesen gerechnet werden. Daß diese Formen nun aber Allgemeinheit und Notwendigkeit besitzen, bleibt zwar ideell gültig, ist aber dem modernen Menschen nicht mehr so wichtig und entscheidend, wie es für Kant war. Wir sind bescheidner geworden, die induktiv erreichbaren Sicherheiten scheinen uns im allgemeinen zu leisten, was wir von unserm Erkennen verlangen können, und unsrer Stellung im Kosmos angemessen zu sein. Es entspricht dem jetzigen Lebensgefühl, statt an ein starres Ein-für-Allemal, vielmehr an eine unabschließbare Entwicklung auch in den tiefsten Schichten unseres Geistes zu glauben – welche Entwicklung keineswegs einfach als »Fortschritt« zu rühmen ist (auch dies wäre eine beengende Festlegung auf eine allzumenschliche Teleologie), sondern sich nach der noch geheimnisvollen Rhythmik des Organischen vollzieht: die Entwicklung, deren Begriff wir für das Leben gelten lassen müssen, ist eine aus innerem Trieb heraus wachsende, nicht, wie bei praktischen oder singulären, sachbestimmten Entwicklungsreihen, von einem vorgeschauten Endwerte gelenkte. Auch erscheint mir die Forderung absolut inkorrigibler Erkenntnisse als ein philiströses Verkennen davon, daß der Mensch, seiner ganzen Weltstellung nach, das wagende Wesen ist, daß er es in jeder, auch der theoretischen Hinsicht, »darauf ankommen lassen« muß. Und im letzten Grunde hat der Mensch, der mit einer Unsicherheit des Theoretischen und Praktischen, mit der Unumgehbarkeit der Chance rechnet, eine viel größere Gewißheit, ein viel tieferes Zutrauen zum Leben, als der, der eine hundertprozentige Garantie verlangt, ehe er den ersten Schritt unternimmt. Im Fundament des Apriori, wenn sein Akzent nach dieser Seite hin liegt, lauert ein geheimer Skeptizismus gegen das Leben. Darum konnte Goethe, mit seinem unbedingten Zutrauen zum Leben, nichts Rechtes mit dem Apriori anfangen.

Diese Zusammenhänge sind für die klare Einsicht in die Kantischen Tendenzen so bedeutsam, daß ich sie noch von einem andern Blickpunkt her darstellen will. – Wäre das Apriori angeboren, so müßte es immer wirken; wollte man aber auch davon absehn (wovon nachher zu sprechen ist und wie ja auch der angeborne individuelle Charakter sich nicht immer geltend macht), so würde seine Wirksamkeit doch jedenfalls vom Subjekt her bestimmt sein, da die Angeborenheit eben nur diesem einwohnt; es stünde dann auf einem Niveau mit dem Bau unserer Netzhaut, der von sich aus festlegt, daß wir die Welt in bestimmter Farbe sehn. Dies aber ist nicht Kants Meinung. Nicht das Subjekt, sondern die vorliegende Wissenschaft ist der primäre Gegenstand seiner Analyse. Sie untersucht er auf die Bedingungen hin, unter denen sie überhaupt möglich sei – möglich ihrem Inhalt und ihren sachlichen Prinzipien, nicht ihrem psychologischen Zustandekommen nach. Und wenn er dabei findet: diese Wissenschaft besteht nicht in einer Summe sinnlicher Bilder, sondern in der Geformtheit dieser durch gewisse Synthesen und Einheitsprinzipien, Weiterführungen und Vergeistigungen – so können diese zwar nur durch einen lebendig tätigen Geist verwirklicht werden und müssen also Funktionen sein, die dieser aus seinem eignen Wesen heraus vollzieht; allein dies ist sozusagen eine technische, mit einer gewissen Zufälligkeit behaftete Angelegenheit. Die Grundfrage geht nur auf den objektiven Bau des autonomen Gebildes Wissenschaft, die ihrem Wesen, wenn auch nicht ihrer Geschichte nach, mit der Dynamik ihres seelischen Zustandekommens nichts zu tun hat. Kants scheinbare Paradoxe, daß der Verstand der Natur (ihre allgemeinsten, formgebenden) Gesetze vorschreibt, meint damit nicht das im Menschen gelegene, mit psychologischen Chancen wirkende Seelenvermögen, sondern einen systematischen Komplex von Prinzipien, der, weil er dem Sinnesmaterial formend, erfahrunggestaltend gegenübersteht, Verstand heißen kann – aber Verstand im objektiven Sinne, wie man auch von der »Vernunft« im geschichtlichen Weltlauf spricht, womit man doch nicht die in individuellen Seelen lebendig wirksame Vernunft meint.

So hat das Apriori gewissermaßen zwei Seiten: es steht einerseits in dem idealen Raum der reinen Wissenschaft, ein geistiger Gehalt, gelöst von allem Prozeß, aller Bewegtheit des Lebens, gleichgültig gegen seine seelische Verwirklichung und ihre Träger; andrerseits aber, um überhaupt dazusein, um zustande gebracht zu werden und Erkenntnis zustande zu bringen, bedarf es doch der Dynamik des Lebens, jetzt ist es ein seelisches Ereignis, das nun tiefer in die Innerlichkeit des Subjekts hineinverfolgt werden kann, bis zu dem letzten Quellpunkt, der letzten Entscheidung des Ich, von wo dann seine Verflechtung mit dem allgemein menschlichen oder dem spezifisch modernen Lebensgefühl geschehn und es in das metaphysisch gedeutete Verhältnis unsrer seelischen Potenzen zu dem Weltbild überhaupt eintreten kann. Die geschichtliche Entwicklung hat diese weltanschauliche und eben doch in gewissem Sinne subjektive Innenseite der Kantischen Lehre die tiefste und breiteste Wirksamkeit gewinnen lassen, während sie in seiner eignen Darstellung vor der rein wissenschaftstheoretischen zurücktritt. Der »Schulbegriff« seiner Philosophie ist vor den Siegeswagen ihres »Weltbegriffs« gespannt worden. Eben diesem gilt schließlich auch die hier gebotene Darstellung; aber um so mehr muß sie für die Momente des Schulbegriffs, die den Weltbegriff tragen, volle und kritische Klarheit suchen. –

Der Schwierigkeit nun, die uns innerhalb jener begegnete: daß aller prinzipiellen Absolutheit und Notwendigkeit des Apriori zum Trotz, die Feststellung der einzelnen, tatsächlich wirksamen Aprioritäten immer einem mehr oder weniger zufälligen Auffinden, einer induktiven, gegen Irrungen und Unvollständigkeiten niemals gesicherten Beobachtung überlassen bleibt; daß also die sozusagen praktisch-konkrete Bedeutung der Theorie grade nach der Seite der für Kant wesentlichen Allgemeinheit und Notwendigkeit ihr Versprechen nicht halten kann – dieser Schwierigkeit wird Kant für sich dadurch Herr, daß er ein Kriterium für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Formen des Erkennens zu besitzen glaubt: die systematische Abrundung. Er findet auf Wegen, die an vielen Stellen wunderlich und abstrus, an wenigen überzeugend sind, daß jene Normen, die die Erfahrung bilden, den Urteilsformen der Logik entsprechen, und konstruiert diesen analog 12 apriorische Begriffe, denen dann wieder die Grundsätze des Verstandes entsprechen. Jene 12 Kategorien zerfallen in 4 Abteilungen mit je 3 Nummern. Diese Einzelheiten interessieren uns hier nicht, sondern nur das Prinzip, daß, wenn für ein symmetrisches, in sich geschlossenes Schema die hinreichenden Ausfüllungen gefunden sind, damit der Beweis für die Richtigkeit und Zulänglichkeit dieser Ausfüllungen geführt wäre. Die Schwäche dieser Methode liegt heute auf der Hand. Ganz abgesehen von aller Gequältheit und Schiefheit im einzelnen, wissen wir, daß die Abrundung eines Gedankenkomplexes nach unseren Ideen von Symmetrie und Architektonik nicht die geringste Garantie für die sachliche Wahrheit oder Vollständigkeit jener Gedanken einschließt, – wobei es gleichgültig ist, ob die Wirklichkeit, die das System einfassen und nachzeichnen soll, eine äußerliche oder eine seelische ist. Wichtiger aber als diese sehr naheliegende Widerlegung scheint es mir, die tiefere Bedeutung und Tendenz jener barocken Systematik zu verstehen.

Über den Entwicklungsgang und die definitiv befriedigende Form unseres Erkennens entscheiden zwei sich gegenseitig ausschließende Motive, die in den mannigfaltigsten Kämpfen, Verdrängungen, Kompromissen die Geistesgeschichte durchziehen, und zwischen denen die Wahl, wie bei allen letzten Entscheidungen der Intellektualität, von den jenseits der Intellektualität gelegenen Instinkten der Gesamtpersönlichkeit ausgeht. Man kann sie als den systematischen und den progressiven Trieb bezeichnen. Der eine läßt uns nur soweit mit unsrem Weltbild zufrieden sein und an seine Wahrheit glauben, wie alle Einzelheiten desselben sich in einen lückenlosen Zusammenhang fügen, der nach einheitlichen Prinzipien aufgebaut ist. Erst wenn, wie in einem Organismus, jeder Teil auf jeden hinweist und dadurch ein in sich ausbalanciertes Ganzes aus den Teilen entstehen kann, darf die Erkenntnis als vollendet gelten, weil sie erst so die harmonische Einheit und die architektonische Struktur der Welt nachzeichnet. Dies ist die metaphysische Grundidee: die systematische Vollständigkeit nach den Einheits- und Ordnungsbegriffen des Geistes beweist die sachliche Richtigkeit des Erkenntnisbildes. Natürlich ist dies ein unerreichbares Ideal, das nur in den allergrößten Zügen oder in einzelnen Provinzen des Erkennens annähernd durchführbar ist; entscheidend ist aber eben, daß dies das Ideal ist, daß als die definitive Form des Erkennens, gleichviel ob sie ihre Ausfüllung findet oder nicht, die systematische, fertige Abrundung gilt. Ist hier das Bild des vollkommenen Erkennens ein Kreis, so läßt die andere Tendenz es einer ins Unendliche verlaufenden Linie gleichen. Sein Abschluß ist hier nicht nur tatsächlich, wegen der menschlichen Unzulänglichkeit, sondern auch prinzipiell unmöglich. Sei es, daß die Erscheinungen selbst endlos neue Kombinationen entwickeln und bisher unerhörte Kräfte entbinden, sei es, daß das Verhältnis unseres Geistes zur Wirklichkeit nur in der Vermehrung und Korrektur seiner Vorstellungen ins Unendliche sich adäquat ausdrücke, – jedenfalls ist es das innere Wesen des Erkennens, niemals und nirgends abzuschließen, und die symmetrische Vollendung seines Baues ist ein Widerspruch in sich selbst. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die erstere Gesinnung sich besonders mit dem Rationalismus, die zweite mit dem Sensualismus vertragen wird. Die Kantische Vorstellung der von apriorischen Begriffen geformten Erfahrung bringt auch diese beiden Bedürfnisse zu einer überraschenden Synthese. Die Welt, die sich unseren sinnlichen Erfahrungen darbietet, ist freilich kein System, sie ist unübersehbar und ihre Erkenntnis geht ins Unendliche. Aber der Geist, dessen innere Struktur übersehbar vorliegt, ist eine abgeschlossene, systematische Einheit. Die Welt bekommt Zusammenhalt und durchgängigen Sinn dadurch, daß die allgemeinsten Prinzipien, mit denen unser Verstand ihre Eindrücke und Erfahrungen formt – die Gesetze, die er ihr vorschreibt –, ein innerlich ausgeglichenes architektonisches System, das System unseres Geistes, – insoweit er Wahrheit und Wissenschaft trägt – bilden. Die Wirklichkeitserkenntnis selbst aber gleicht jener ins Unendliche zu verlängernden Linie, weil sie nicht der in sich zusammengehaltenen Innerlichkeit des Geistes allein entstammt, sondern das Produkt dieser mit den unendlich wechselnden und vermehrbaren Eindrücken der Wirklichkeit ist. Das Produkt eines konstanten und eines variabeln Faktors aber muß ersichtlich selbst variabel sein. Damit ist der Natur und der Erfahrung ihre ganze Grenzenlosigkeit gewahrt, die Gesamtheit der Wirklichkeit ist von jeder einschränkenden Systematik befreit. Und doch ist das Ganze von dem System der Erkenntniskräfte getragen, dessen Struktur alle Unermeßlichkeit der Einzelerscheinungen umschreibt, weil es erst die Erfahrung über diese gestaltet. Der systematische Trieb, der sonst an der objektiven Wirklichkeit eine täuschende Selbstbefriedigung gewann, hat sich auf den Geist zurückgezogen und überläßt jene Wirklichkeit dem Trieb des Fortschreitens.

Die Genialität dieser Lösung zeigt Kant ganz auf der Höhe seiner geistesgeschichtlichen Stellung: sein Fußpunkt ist die objektiv vorliegende Erkenntnis, die er zergliedert, bis er für ihre konstituierenden Elemente diejenige Gleichberechtigung gefunden hat, durch die er die Einseitigkeit der von bloß subjektiven Trieben erzeugten Weltbilder aufhebt. Dennoch werden wir heute diese Lösung nicht annehmen. Die systematische Geschlossenheit ist uns selbst in der Beschränkung auf den Geist noch zuviel; auch ihn glauben wir in den Fluß der Entwicklung ziehen zu sollen. Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherrschen, – warum sollen nicht auch sie, die doch, unsere Naturerkenntnis bildend, von der anderen Seite gesehen selbst natürliche Wirklichkeiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen läßt? Und wenn es ein Zirkel ist, die Entwicklung als das dauernde Schicksal der Dinge erkennen zu wollen, während die Erkenntnis selbst sich dauernd entwickelt, – so ist es einer jener unvermeidlichen fundamentalen Zirkel, in denen sich der Relativitätscharakter unserer geistigen Existenz offenbart.

Mit der Hinfälligkeit des systematischen Zusammenhanges, in dem jeder Teil seine Wahrheit dadurch beweist, daß er die andren zu einem einheitlichen Ganzen ergänzt, – fällt zugleich der einzige Beweis dahin, daß die apriorischen Kräfte mit der Sicherheit und Vollständigkeit, die ihrer realen Wirksamkeit eigen ist, in das wissenschaftliche Bewußtsein gelangt seien. Es bleibt dabei, daß Kant die Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit der die Struktur unsres Geistes unsere Erfahrungen bedingt, mit Unrecht auf die wissenschaftlichen Prinzipien übertragen hat, mit denen wir nachträglich, und sicher oft unvollständig und irrend, jene Bedingungen formulieren, und die sich der Gültigkeit dieser nur ins Unendliche annähern können. Trotz dieser fundamentalen Abweichung des modernen Denkens von dem Kantischen besitzt seine Entdeckung, daß unsere Erfahrungen von übersinnlichen, von unsrem Geist gleichsam mitgebrachten Voraussetzungen bedingt sind, eine noch keineswegs erschöpfte Fruchtbarkeit. Kant selbst hat sie nur auf das naturwissenschaftliche Gebiet angewandt; denn sein originales Denken galt einerseits der Natur, das seelische Leben als solches und alles Geschichtliche andrerseits interessierte ihn nur vom Standpunkte seines sittlichen Wertes aus und war ihm an und für sich kein Gegenstand eignen Forschens. Und doch sollte die ganze psychologische und historische Welt nicht weniger auf ihre apriorischen Voraussetzungen geprüft werden. Man würde dann erkennen, daß, was wir geschichtliche Tatsachen nennen, so wenig das unmittelbare Erleben abspiegelt, wie die naturwissenschaftliche Tatsache den reinen Sinneneindruck enthält, daß der Bericht des Augenzeugen ebenso wie die reproduzierende Darstellung eine Formung eines gegebenen Stoffes nach gefühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien darstellt. Und dies ist kein zu behebender Mangel und Entstellung, sondern die unerläßliche Bedingung, unter der der Rohstoff des geschichtlichen Daseins zu einer verständlichen und sinnvollen Gestaltung in unsrem Geiste, kurz: das Geschehen zur Geschichte werden kann. Nicht anders ist es mit dem Recht, mit dem Kunstverständnis, mit der Psychologie, mit der Religion. Die Erfahrung auf all diesen Gebieten ist keineswegs, was sie ohne die Besinnung auf Kant zu sein scheint: ein Hinnehmen des Gegebenen, ein treuer Reflex dessen, was die Wirklichkeit unsrem Bewußtsein zuführt; sondern, was Erkenntnis sein soll, muß von uns dazu gestaltet werden, was ein Gegenstand der Erfahrung sein soll, ist von den Formen der Erfahrung abhängig, mit denen unser Geist als mit seinem ursprünglichen Besitztum an die Wirklichkeit herantritt. Oder genauer: unser Geist hat nicht diese Formen, sondern er ist sie.

In der Kantischen Fassung begegnet dieser Begriff nun einer weiteren, tiefgreifenden Schwierigkeit. Die Sätze der Geometrie sind die abstrakten Formeln für diejenigen Energien, die regelmäßig unsere Sinneseindrücke zu Raumgestalten bilden. Aber Unsicherheiten, Alterationen, Täuschungen gehen doch auch hier vor sich, bei Kindern, unter ungewöhnlichen äußeren oder physiologischen Umständen. Ganz unzweideutig sind bei einer andren apriorischen Form, der Kausalität, die Fälle, in denen sie eben nicht herrscht, in denen wir, unfreiwillig, aber gelegentlich auch freiwillig, keineswegs dem Kausalgesetz gemäß denken. Wie vereinigt sich dies nun mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit dieser Denkformen, und damit, daß unser Geist sie a priori in sich trägt und sie dadurch seinen Einzelinhalten unvermeidlich aufprägt? Kant würde darauf sehr einfach antworten: das Apriori ist eben nur ein Apriori des Erkennens, wo wir es nicht anwenden, erkennen wir nicht, sondern vollziehen nur irgendwelche subjektive seelische Prozesse, die aber nicht Erfahrungen sind. Nur als »angeborene Ideen« würden sie die seelische Wirklichkeit durchgängig beherrschen können; als bloße Bedingungen der Wahrheit können und dürfen sie da nicht bestehn, wo der Geist seine Fähigkeit, zu irren, realisiert. Ob sie herrschen, hängt nicht von ihrem zeitlosen Sinn ab, der Wahrheit ist, sondern von dem Spiel unseres Vorstellungslebens, das sie bald aufnimmt, bald vernachlässigt. Das Apriori wird durch die Mängel seiner Anwendung so wenig seiner gesetzlichen Gültigkeit beraubt, wie durch die anti-euklidischen Geometrien, denn es ist nur ein Gesetz für die Erfahrung, aber nicht für jedes beliebige seelische Gebilde.

Dies entspricht zwar durchaus der früheren Ausmachung über die angeborenen Ideen und die Scheidung des Apriori vom Psychologischen, aber es führt, wie mir scheint, zu einem Zirkel. Jene Normen beherrschen nur die gültige Erfahrung. Aber woher wissen wir denn, was gültige Erfahrung ist, außer dadurch, daß wir diese Normen in ihr geltend finden? Hätten wir irgendein andres Mittel, die Wahrheit unsrer Vorstellungen festzustellen, so wäre uns geholfen; wir könnten dann etwa beweisen, daß diese bestimmte Beschaffenheit ihrer nur durch die Anwendung jener Grundsätze für uns erreichbar ist, und wären nun berechtigt, diese als Bedingung der Erkenntnis zu proklamieren. Für die populäre Meinung besteht freilich eine solche Doppelheit der Wege zur Wahrheit: das Nachdenken und der sinnliche Augenschein; beide, unabhängig voneinander verlaufend, bestätigen sich gegenseitig und legen jeden Punkt, an dem sie zusammentreffen, eben dadurch als gültige Wahrheit fest. Aber diese Zweiheit, die für die Praxis und einzelne Erkenntnisprozesse durchaus legitim ist, hat Kant prinzipiell und für die Gesamtheit des Erkennens ja grade beseitigt. Er hat ja grade gezeigt, daß nur durch das Zusammenwirken von Verstand und Sinnlichkeit Erkenntnis zustande kommt, daß unser verständiges Denken deshalb eine Wahrheit über die Dinge in sich erzeugen kann, weil die Kategorien unsres Verstandes die für uns objektive Welt mit produziert haben und deshalb von vornherein in ihr enthalten sind, daß andrerseits diese Kategorien nur als Formen sinnlicher Inhalte eine Bedeutung haben; daß es also nicht zwei Wahrheiten, die sinnliche und die rationale gibt, die sich untereinander legitimieren könnten, sondern – von vorläufigen und technischen Trennungen abgesehn – nur eine einzige, die sinnlich-rationale. Grade durch die notwendige Kooperation unserer Erkenntniskräfte sind wir jenes – präsumtiven – Kriteriums für die Wahrheit beraubt, das in ihrer unabhängigen Zweiheit gelegen hatte. Wir wissen jetzt nur: die apriorischen Normen werden in einigen Fällen angewandt, in anderen nicht; daß die ersteren einen besonderen Wert haben, eine Wahrheitsbedeutung über die bloß psychologische hinaus, das können wir nach gar nichts anderem entscheiden, als daß in ihnen eben jene Normen gültig sind. Diese sind also sozusagen in eigner Sache Richter und der Wahrheitsbegriff dreht sich im Kreise.

Dem zu entgehen macht Kant noch einen Versuch. Die Einheit der Vorstellungen sei es, durch die sie, sich gegenseitig und ihrem Zusammen, Wahrheit garantierten; insoweit die mannigfaltigsten Vorstellungen zu einem einheitlichen Gegenstand, Satz, Weltbild zusammengehn, seien sie eben objektive Erkenntnisse. Aber ich frage: wonach entscheiden wir denn, ob Einheit, d. h. doch, Verträglichkeit, Zueinanderpassen der Vorstellungen besteht? Doch nur dadurch, daß sie sich nach den Axiomen des Raumes, dem Kausalgesetz, dem Verhältnis der dauernden Substanz und ihrer wechselnden Bestimmungen usw. richten, kurz: nach eben jenen formenden Kategorien, für die wir erst nach einer Bestätigung suchten. Den Vorstellungselementen ist ihre Einheit nicht ohne weiteres anzusehen. Daß sie sich logisch nicht widersprechen, genügt nicht; denn viele Gedanken sind logisch verträglich, die sachlich absolut nicht zusammengehen. Sehen wir genau zu, was wir unter der Einheit eines Gegenstandes, einer Seele, eines Gedankenkreises verstehen, so ist sie immer der Zusammenhang zwischen einzelnen Anschauungs- oder Gedankenelementen, der durch beherrschende Prinzipien vermittelt wird. Die Gesetzlichkeit eines Naturgeschehens, die Nachfühlbarkeit eines Charakters, die Kenntnis räumlicher Anordnungsmöglichkeiten entscheiden darüber, ob Erscheinungen zeitlich, seelisch, räumlich zusammengehen, ob sie eine Einheit bilden oder nicht. In diesem Zusammenhange besteht die Einheit, sie ist nicht ein Etwas jenseits seiner, das erst durch ihn erwiesen würde. Daß die apriorischen Normen die Einheit der Erkenntnis zustande bringen, beweist für sie also keinerlei ihnen zuwachsende Bedeutsamkeit oder Bestätigung ihrer Gültigkeit, da Einheit nichts anderes ist als der Name für die Zusammenhänge, die die Wirksamkeit jener unter den Vorstellungselementen stiftet.

Der letzte Grund dieser Schwierigkeiten, für die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis eine Legitimierung zu finden, die nicht wieder aus ihnen selbst geschöpft wäre, liegt in der völligen Fraglosigkeit, mit der Kant die bestehende mathematische und empirische Erkenntnis als Fundament jeder Untersuchung über das Wesen des Erkennens hinnimmt. Die Analyse des Erkennens hat ihm ihre Aufgabe restlos und zweifellos erfüllt, wenn sie die Bedingungen der vorliegenden Wissenschaft ausreichend demonstriert hat. Irgendwo muß freilich für jedes Forschen ein letzter Punkt liegen, über den nicht hinausgefragt wird, sondern dessen nicht bezweifelte Festigkeit den ganzen Bau trägt; und es ist die ganze Aufgabe der grundlegenden Wissenschaften, diesen Punkt immer weiter hinauszurücken, jede momentane dogmatische Sicherheit durch immer tiefer gelegene abzulösen. Um also die ersten Prinzipien des Erkenntnisgebietes zu begründen, müßte man über dies Gebiet selbst hinausgreifen, vielleicht auf ein praktisches, vielleicht biologisches, vielleicht religiöses. Schließt man dies aus und sucht man nun mit Kant alle Fundamente des Erkennens im Erkennen selbst, so scheint es unvermeidlich, daß die Beweise sich schließlich im Kreise drehen, weil sie keinen Stützpunkt außerhalb ihres eignen Kreises haben. Mit diesem Kantischen Zirkel: unsere Erkenntnisse sind wahr, weil und insoweit sie von apriorischen Normen bestimmt sind – und diese sind gültig, weil jene von ihnen normierte Wissenschaft unbezweifelt gilt, stehen wir in einer letzten Tiefe weltanschaulicher und geistesgeschichtlicher Problematik. Jener Zirkel ist innerhalb des Kantischen Denkens kein fehlerhafter. Jeder Forscher ist berechtigt, nicht nur seine einzelne Aufgabe, sondern auch den Gesamtbezirk, in dem sie liegt, zu umgrenzen, d. h. gewisse Begriffe, die diese Umgrenzung vollziehen, als letzte, keine Begründung und Herleitung beanspruchende, zu statuieren. Wie das Seinsganze nichts außer sich hat, von dem es getragen ist und von dem es abgeleitet werden könnte, irgendeiner seiner Teile vielmehr nur auf irgendeinen andern hin begründet und bewiesen werden kann, so daß, bei völliger Durchführung, ein ungeheurer, sich selbst tragender Zirkel das Ganze schließen würde – so geschieht dies in relativer, gewollt begrenzter Art an jenen einzelnen Forschungsbezirken, die als selbstgenugsame, sich in sich abschließende, gelten sollen. Kant nun hat dem seinigen durch den Begriff der wissenschaftlichen, bzw. empirischen Wahrheitserkenntnis Fundament und endgültigen Kontur gegeben. Da ist es also unvermeidlich, daß die Elemente, die diesen Begriff, diesen Bezirk konstituieren, keine andere Legitimierung ihrer Leistung finden, als die sie sich gegenseitig gewähren. Dieser Zirkel ist nur der Ausdruck für die geschlossne Einheit, als die Kant den Wissenschaftsbezirk behandelt und mit der er ihn jedes Appells an eine Instanz außerhalb seiner selbst enthebt, zugleich aber ersichtlich des absolut theoretischen Charakters seines Philosophierens. Daraus wird verständlich, daß die Kritik der reinen Vernunft, die ausschließlich Grundfragen des Erkennens behandelt, doch das Problem: Was ist Wahrheit überhaupt? garnicht aufwirft. Denn dieses kann ersichtlich nicht wieder aus dem Begriff der Wahrheit heraus beantwortet werden, sondern fordert ein Herausgehn aus dem durch diesen Begriff umschlossnen Kreis und eine Begründung auf einen prinzipiell andern: vielleicht, wie gesagt, einen praktischen, vielleicht biologischen, vielleicht religiösen, vielleicht einen, dessen differenziellen Charakter erst die Zukunft feststellen wird. Und zugleich wird damit klar, daß Kant gegen die Behauptungen von radikal skeptischer oder mystischer oder irgendwelcher Seite: Wahrheit ist als ganze eine Illusion, und: Erfahrung gilt nicht – schlechthin wehrlos ist. Den relativen Skeptizismus, der aus gewissen Widersprüchen und Widersinnigkeiten in unsern Erkenntnissen schloß, daß es keine notwendig allgemeine Wahrheit, sondern nur korrigierbare Erfahrung gäbe, konnte er widerlegen, indem er die Aprioritäten als notwendige Bedingungen aller Erfahrung aufwies. Aber dies war eine innere, den Wissensbestand als solchen noch nicht alterierende Angelegenheit. Sobald aber behauptet wird: Erfahrung gilt nicht – ist der ganzen Kantischen Theorie der Boden unter den Füßen weggezogen. Der moderne Pragmatismus – mag man im übrigen über ihn denken wie man will – hat jedenfalls gesehen, daß hier die Begrenztheit der Vernunftkritik und des ganzen Intellektualismus liegt: daß das Erkennen, selbst als Kantische Inthronisierung der Empirie, sich aus sich selbst heraus nicht schützen kann, wenn man der Erfahrung die Legitimitätsfrage stellt – und daß daher erst innerhalb des Gesamtzusammenhanges des Lebens die weiteren Elemente aufzusuchen sind, die diese Legitimierung leisten. Kant freilich liegt die moderne Tendenz, das Wissen selbst andren Herrschermächten des Lebens ein- oder unterzuordnen, völlig fern, wir werden sehen, wie wenig der berühmte Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen in dieser Hinsicht zu bedeuten hat. Sein Blick bleibt so in das wissenschaftliche Erkennen gebannt, daß er die Gültigkeit seiner Bedingungen nur von dem durch sie zustande gebrachten Ganzen, die des Ganzen aber nur von den Bedingungen zu entlehnen weiß.

Endlich erzeugt der neue Erfahrungsbegriff in sich eine dritte Schwierigkeit, die mir indes völlig lösbar scheint und auf dem Wege zu ihrer Lösung diesem Begriffe noch einmal ein volles Licht zuwenden wird. Aus den Sinneseindrücken entwickelt sich Erfahrung, indem sie nach den Formen und Gesetzen geordnet werden, deren Komplex wir, insoweit wir sie als wirkende seelische Energien betrachten, unsren Verstand nennen. Die Formung, die der sinnliche Stoff auf diesem Wege erwirbt, drückt Kant auf zweierlei Weisen aus: das Sinnliche gewinnt einerseits Allgemeingültigkeit, andrerseits Objektivität. Spricht man das rein und unmittelbar Sinnliche in Satzform aus, so ist es z. B. dies: ich sehe die Sonne scheinen, darauf fühle ich die Erwärmung eines Steines. Dies ist nichts als das Bewußtsein von Vorgängen in den Sinnesorganen des Subjektes, die mit ihrem einmaligen und persönlichen Vorkommen schlechthin abgeschlossen sind. Weder über das Bewußtsein andrer Subjekte, noch über die Sache jenseits der Subjekte wird damit das geringste ausgesagt, – es ist also noch nicht, was wir Erfahrung nennen. Diese wird es erst durch die Metamorphose in den Satz: der Sonnenschein erwärmt den Stein. Hiermit ist jenes Doppelte gegeben: 1. Der Folge meiner Eindrücke entspricht ein Verhältnis von Dingen, ich nehme nicht nur wahr, sondern in dieser Wahrnehmung offenbart sich ein Sein. 2. Wenn dieses Objektive wirklich ist, so ist auch die ihm parallel gehende Wahrnehmung nicht auf das Subjekt und den Augenblick beschränkt, sondern ich bin nun sicher, daß ich diese Wahrnehmung notwendig bzw. unter den gleichen Umständen immer haben muß, und daß nicht nur ich, sondern alle Subjekte die gleiche haben werden. Den Erfahrung bildenden Prozeß kann man also so ausdrücken, daß er aus subjektiven Wahrnehmungen eine Aussage über das objektive Verhalten der Dinge schafft. Daß beide Stadien des Erkenntnisprozesses völlig verschiedenen Sinn haben, ist die festeste Voraussetzung Kants, mit der er allen Sensualismus abweist; denn für diesen ist Erfahrung oder Erkenntnis nichts andres als die Konstatierung jener unmittelbaren Eindrücke, höchstens ihre Verfestigung zu Eindrucksgewohnheiten; seiner Bedeutung nach bleibt das ganze Erkennen impressionistisch auf die Sinneswahrnehmung beschränkt. Da nun Kant zugibt, daß wir aus dieser letzteren allein den Stoff unsrer Erkenntnisse gewinnen und alle Wirksamkeit der Verstandeskategorien ihr nur eine besondere Form gibt, – worin besteht denn der ungeheure Umschwung einer bloß subjektiven Sinnesempfindung in die Aussage über ein Objekt? Um gleich vorwegzunehmen, was mir als die einzig widerspruchslose Lösung dieses schwierigen Kant-Problems erscheint: dem einzelnen Sinnesvorgang gegenüber besteht dieses Neue ausschließlich in der Garantie darüber, daß eben dieser Sinnesvorgang sich für mich und für jeden andren unter den gleichen Bedingungen jederzeit wiederholen wird. Der Satz: die Sonne erwärmt den Stein, fügt zwar noch die Kategorie der Kausalität zu seinem subjektiven Gegenstück: ich sehe Sonnenschein – ich fühle nachher den erwärmten Stein. Aber für die Praxis des Erkennens leistet dies nichts andres als die Sicherheit, daß ich jederzeit, und daß jedermann eben die gleiche Wahrnehmung machen werde. Durch die Kausalität wird die Wahrnehmung gleichsam nur in einen neuen, festeren, oder richtiger: in den festen Aggregatzustand übergeführt. So scharf Kant den Satz: A ist die Ursache von B, von dem unterscheidet: B folgt zeitlich auf A, so weiß ich doch nicht, worin sich diese objektive Kausalfolge noch von der Bestimmung unterschiede, daß in jedem überhaupt je vorkommenden Fall B auf A zeitlich-wahrnehmbar folgen wird.

Was ich hier unter »Garantie« verstehe, ist etwas völlig andres als die seelische Gewöhnung an die tatsächlich regelmäßige Folge der Phänomene, worin Hume die Kausalität auflösen wollte; es ist ein Begriff, der seiner Struktur nach nicht nur jede Anzahl von Einzelfällen übersteigt, wie die unendliche Größe jede endliche, er hat vielmehr mit Quantität nicht das Geringste zu tun. Er ist auch nicht ohne weiteres mit der Gesetzlichkeit des Geschehens identisch, sondern ist sozusagen die logische Vermittlung zwischen der Gesetzlichkeit und dem singulären Geschehen. Daß die Sonne den Stein erwärmt, drückt freilich das Gesetz aus, nach dem die Einzelbeobachtung des Sonnenscheins und des Steins verläuft. Aber der Begriff der Garantie besagt, daß das Gesetz nicht nur etwas in sich Gültiges ist, daß es sich vielmehr sozusagen der Tatsache vermählt hat; so daß, sobald die Kausalität überhaupt auf diesen Fall zu Recht angewendet wurde, schon der erstmalige und überhaupt jeder einzelne Fall alle überhaupt je möglichen vertritt. Dies ist das »Mehr«, das bei der Umwandlung des sensuell-subjektiven Urteils in das objektive Erfahrungsurteil zu jenem hinzukommt, ohne dessen Inhalt irgendwie zu ändern. Mit diesem Garantiebegriff, durch den mir Kants Objektivierung des Subjektiven allein interpretierbar erscheint, ist wohl der Rationalismus erst wirklich überwunden. Denn solange die Objektivität etwas für sich Bestehendes war, das sich um seine sinnlich-einzelnen Gegenbilder sozusagen nicht kümmerte, schien sie eine Erkenntnisquelle zu verraten, für deren Anwendungsbeschränktheit auf Erfahrung kein rechter innerer Grund vorlag. Erst wenn sie nichts ist, als die Form, in der der Erfahrungsinhalt sich als ein zuverlässiger weiß, d. h. als ein solcher, der in jedem einzelnen Erfahrungsfall über diesen selbst hinaus gilt – erst dann können die Erkenntniselemente, die im Sinnlichen als solchem nicht liegen, nicht mehr von der Richtung auf die Gesamterkenntnis, die am Sinnlichen ihren Inhalt gewinnt, abbiegen. Ebenso schließt diese Deutung der Objektivität den Sensualismus aus, der in dem einzelnen Sinnesinhalt – oder, was hier dasselbe ist, der bloßen Summe solcher Inhalte – das suchen wollte, was logischerweise in ihm eben nicht liegen kann: die Sicherheit darüber, daß der einzelne seine Bedeutung nicht in der inselhaften Einzelheit seines jeweiligen Vorkommens erschöpft, sondern an seinem Teile, in bezug auf seine besondere Bestimmtheit, die Totalität der Erkenntnis repräsentiert.

Man kann diese Kantische Transformation des Sinnenurteils in das objektive Erfahrungsurteil mit modernen Begriffen auch so ausdrücken: daß der Inhalt des Erlebnisses, ohne sich zu ändern, die Erlebnisform verläßt und sich als reiner Inhalt konstituiert. Indem die sachlichen oder logischen Bedeutungen der Erlebnisse durch die Kausalform untereinander verbunden werden oder sich als verbundene offenbaren, ist die Garantie dafür gegeben, daß sie dieses Verbundensein zeigen müssen, wann auch immer die Erlebensform sie aufnimmt, die Welterfahrung des Subjekts sie realisiert.



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