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Die Beschränktheit der menschlichen Kraft und Stellung, der es nicht gegeben ist, in der äußeren Welt eigentlich Neues zu schaffen, sondern nur deren Energien und Stoffe trennend und verbindend umzuformen, setzt sich, zwar nicht gleichen, aber doch annähernden Maßes in die Geschichte des Geistes fort. Denn so sehr diese ihren Stoff durch eigentliches Schöpfertum gewinnt, so scheint sie doch von dem Streben geleitet, aus einem Minimum grundlegender Probleme und Motive ein Maximum von Kombinationen und Formungen zu entwickeln. Wie die Unermeßlichkeit von Sprache und Kunst sich mit Hilfe einer erstaunlich geringen Zahl von Buchstaben, Tönen, Grundfarben entfaltet, wie alle Lyrik und Dramatik von einem ganz schmalen Bezirk unsterblicher Motive gespeist werden, so quillt die ganze Tiefe und Breite, mindestens der europäischen Philosophie aus einem sehr engen Kreis beharrender Probleme. Die wirre Mannigfaltigkeit der Geschichte der Philosophie wird zugängig und sinnvoll, sobald man jene wenigen Grundprobleme des Daseins als ihr immer wiederkehrendes Thema heraushört. Und nicht viel reichlicher als die Fragen selbst vermehren sich die Antworten, die mehr sind als ein bloßes Aneinanderkitten bereitliegender Lösungsfragmente. Die Rangordnung der Philosophen darf deshalb nur durch eines bestimmt sein: ob sie nur kombinieren oder ob sie elementare Kategorien des Weltverständnisses geschaffen haben. Solche besagen, ihrem Sachsinne nach, daß von den vielfachen Erlebnisinhalten, die in der bloßen Erfahrung immer als Bruchstücke auftreten, einer so stark, in so unmittelbarer Verbindung mit den Wurzeln des Lebens empfunden wird, daß er der Grund und Sinn des Ganzen zu sein beansprucht – Geist oder Materie, Sein oder Werden, Gott oder Ich, Einheit oder Vielheit, Aktivität oder Leiden, Absolutheit oder Relativität, Mechanismus oder Leben. Ihrem Menschheitssinne nach spricht sich in ihnen die Art aus, wie die großen seelischen Typen auf die Gesamtheit des Daseins reagieren. Unter welchen geschichtlichen Umständen ein individuelles Genie die eine oder die andere dieser Möglichkeiten verwirklicht hat, ist für diese Bedeutung der Philosopheme gleichgültig. Nur daß diese zeitlose Gültigkeit philosophischer Lehren nicht wie die der mathematischen den Aussagen über die Dinge zukommt, sondern den Verhaltungsweisen des Geistes zum Dasein, die sich in die Sachbehauptungen der Philosophen nur kleiden. Nach ihrem objektiven Gehalt unterliegen all diese Lehren über die Materie und über Gott, über den Wert des Erkennens und die Formen des Geschehens, über das Wesen des Schönen und die Notwendigkeiten des Sittlichen dem geschichtlichen Prozeß geistiger Wandlungen, der die Wahrheit von heute zum Irrtum von morgen macht. Aber daß in diesen Behauptungen eine menschliche Seinsart, eine Möglichkeit des Geistes als ganzen, auf das Ganze von Welt und Leben zu antworten, sich ausdrückt – das kann durch keinerlei historische Evolution abgeändert werden; in dem Maße, in dem dieser Ausdruck einer typischen Geistesrichtung rein als solcher richtig, erschöpfend, überzeugend ist, in dem Maße ist die philosophische Lehre von zeitloser Bedeutung, mag ihr Inhalt als Behauptung über Dinge angenommen oder als irrig verworfen sein. Nun hat natürlich für jede Epoche und jedes Individuum je eine der philosophischen Grundstimmungen eine besondere Anziehung: die Nöte der einen Zeit werden zu der Produktion oder Adoption der einen energischer treiben als zu der anderen. Aber darum bleibt die inhaltliche Mächtigkeit einer jeden Philosophie, der Wert der besonderen Tonart, in der sie das Leben ausdrückt, von den zufälligen Veranlassungen ihrer einzelnen Verwirklichung völlig unabhängig. Ja, von den Bedrängnissen, die uns einer Philosophie zutreiben, erlösen uns, so sehr sie selbst aus der Zeit entsprungen sein mögen, gerade nur Gedanken jener überzeitlichen Art, die gleichsam die Mitgift der Menschheit bilden, obgleich die einzelnen Stücke dieser Mitgift nur allmählich, zufällig, unvollkommen innerhalb geschichtlicher Entwicklung realisiert werden. Was Kant der Gegenwart leisten kann, glaube ich ihm deshalb am besten so abzugewinnen, daß ich gegenüber aller Vergangenheit und Gegenwart, die ihn und seine Wirkung bestimmt, die zeitlosen Elemente hervorhebe, jene Fragen und Antworten, deren Bewußtwerden in einem geschichtlichen Momente nur einem zufällig aufflammenden Lichte gleicht, das einen bereitliegenden Zug und Typus der Menschheit sichtbar macht. Darum muß für unsere Zwecke die Form seiner eigenen Darstellung völlig zerbrochen werden, als das durch seine Zeit und seine Persönlichkeit stilisierte Gefäß eines Inhalts, der nur nach seiner Bedeutung jenseits dieser beiden uns hier angeht.
Es ist ferner ersichtlich, daß wir aus demselben Grunde auf die Erzählung seines äußeren Lebenslaufes zu verzichten haben. Gewiß ist es für Verständnis, Reiz und Fruchtbarkeit einer philosophischen Weltanschauung höchst wichtig, daß ihre Teile nicht einfach nebeneinanderliegen wie die Länder eines Weltteils, sondern vermittels der dahinterstehenden Einheit der schöpferischen Persönlichkeit selbst als eine organische Einheit wirken. Allein diese Persönlichkeit ist nicht der reale historische Mensch, sondern ein ideelles Gebilde, das nur in der Leistung selbst lebt, als Ausdruck oder Symbol für den sachlichen, inneren Zusammenhang ihrer Teile. Die Züge eines Porträts werden trotz ihres bloß räumlichen Nebeneinander zu einer Einheit zusammengehalten durch die Seele, zu deren Ausdruck sie zusammenwirken; ob aber diese Seele, für deren Vorstellung doch schließlich nur jene Züge selbst zur Verfügung stehen, die des wirklichen Modells ist, oder ob dieses eine ganz andere, seinen Zügen gar nicht entsprechende Seele besitzt, – das ist für das Kunstwerk und seinen Genuß völlig gleichgültig. Genug, wenn die Züge, wie sie sich der Anschauung bieten, uns eine Seele nachfühlen lassen, die ihnen den Dienst der Vereinheitlichung leistet. So ist die Seele des Philosophen, die wir zur Vereinheitlichung seiner Äußerungen brauchen, nur eine Funktion dieser Äußerungen selbst, nur das Symbol ihres Zusammenhanges und in einer ganz anderen Sphäre gelegen, als die historisch-psychologische Wirklichkeit des philosophierenden Menschen.
Die Überschätzung des äußeren Lebens verwechselt die Entstehung einer Philosophie mit dieser Philosophie selbst. Daß Kant gerade diese und keine andere Lehre ausgebildet hat, würden wir psychologisch verstehen, wenn die Genesis seines Seelenlebens uns vollständig offenbart wäre, – die noch dazu oft, kläglich genug, mit den Lebens-»Umständen«, d. h. mit dem verwechselt wird, was nur um das Leben herumsteht, ohne sich irgendwie mit seinen innersten Bewegtheiten und dem Fatum seines Charakters zu decken; aber der sachliche Zusammenhang und die Bedeutung dieser Lehre fordert eine ganz andere Art und Richtung des Verstehens, – wie die Beurteilung eines Gerätes nach seiner Brauchbarkeit und Schönheit völlig unabhängig von der Kenntnis der technischen Handgriffe ist, durch die dem Verfertiger seine Herstellung gelang. Gerade nur das Werk Kants ist die »Persönlichkeit« Kants, da er nur in ihm der ganz Einzige und Unverwechselbare ist, keineswegs aber in seinen sogenannten persönlichen Lebensverhältnissen, deren Qualitäten er mit Unzähligen teilt, die also das eigentlich Unpersönliche am Menschen sind.
Indem ich diese also schlechthin übergehe, weil sie zu der sachlichen oder weltgeschichtlichen Bedeutung seiner Lehre, auf die allein es uns hier ankommt, nicht das geringste beitragen, so beginne ich die Darstellung doch mit einem sozusagen persönlichen, – aber eben keineswegs biographischen Momente, das einen Gesamtzug der Lehre ausmacht.
Die übliche Auffassung der Kantischen Philosophie stellt sie als eine Untersuchung der menschlichen Seelenkräfte dar, deren Ergebnis der Wirksamkeit und Bedeutung des Intellekts nach drei Seiten hin Grenzen setzt. Zuerst nimmt sie ihm sein naiv behauptetes Recht, die Dinge jenseits der Sinnenwelt zu erkennen: die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, die sittliche Freiheit, den Sinn und Zweck des Weltganzen, der hinter seinem Mechanismus steht. Zu diesem Überempirischen schlägt vielmehr nur der moralische Wille des Menschen eine Brücke; denn damit unsere Moral nicht ein fragmentarischer Ansatz, zusammenhangslos mit dem Dasein überhaupt, bleibe, bedarf sie solcher Ergänzungen und Befriedigungen, die aber empirisch, d. h, durch den Verstand, nicht auffindbar sind. Die zweite Entrechtung des Intellekts zugunsten des Willens vollzieht der Wert des Lebens. Aus den Funktionen des Intellekts, die doch nur auf ein Erkennen von Gegebenem gehen, kann unser Dasein keinen Wert gewinnen; sondern nur durch diejenigen Energien, mit denen wir Herr über den Stoff der Dinge sind. Unser Leben kann keinen anderen Wert haben, als den wir selbst ihm geben; und das vermögen wir nur im praktischen Wollen, nicht durch das Erkennen, dessen Inhalte und zu dem die Fähigkeit uns von uns unabhängig zugeteilt ist. Endlich, als Gegenstand des Erkennens gilt ihm ausschließlich die sinnliche Erscheinung der Dinge, nur ihr Bild in uns, niemals ihr inneres, für sich selbst existierendes Sein. Nur an einem Punkte ist uns ein solches zugängig, in unserem Handeln, das nicht aufnehmend, sondern schöpferisch, d. h. frei ist. Nur also wo wir handeln, sind wir wirklich wir selbst, während wir schon da, wo wir uns selbst erkennen wollen, ein bloßes Bild unsres Seins ergreifen. Damit scheint also die entscheidende Geistesrichtung, die in dem Kantischen System lebt, ihr zentrales Interesse nicht dem Denken, sondern dem Wollen zuzuwenden. Und so hat man, radikaler oder zaghafter, Kant diese an sich höchst interessante Grundtendenz zugesprochen: die gedankenmäßige Bearbeitung des Daseins, nicht um der Gedanken willen, sondern weil das praktische Tun, wie er es für die objektive Hauptsache des Lebens erklärt, auch das subjektive Interesse sei, das als letzte Instanz sein Denken dirigiert.
Dies erscheint mir nun völlig irrig. Kant und sein System sind völlig intellektualistisch, sein Interesse, wie es aus dem Inhalt seiner Lehre hervorleuchtet, ist: die für das Denken gültigen Normen als auf allen Lebensgebieten gültig zu erweisen. Seine Philosophie wird ganz und gar dadurch gefärbt, daß ihr keine Leidenschaften oder Gefühle, ich möchte sagen keine Instinkte, zugrunde liegen, wie es bei Plato und Epikur, bei Plotin und Bruno, ja für genaueres Hinhören auch bei Spinoza und Hegel der Fall ist, von Fichte und Schopenhauer zu schweigen.
Es ist eine Philosophie aus dem Verstande heraus, freilich aus einem vollendeteren Verstande, als der des früheren Rationalismus war. Die Macht des logischen Denkens zeigt sich hier um so souveräner, als sie nicht den haltlosen rationalistischen Versuch wiederholt, die anderen Seelenenergien von vornherein zu verdrängen. Die Selbständigkeit des Gefühls, die das Leben beherrschende Macht des Willens wird anerkannt. Und nun erst greifen die vernunftmäßigen Normen der Logik ein und charakterisieren von sich aus Sein und Wert jener. Es ist der äußerste und verfeinertste Triumph der begrifflich-logischen Geistigkeit, daß sie den sittlichen Willen allein über den Wert des Menschen entscheiden läßt, dann aber die Sittlichkeit des Wollens allein durch eine logische Norm bestimmt. Ich muß noch kurz bei dieser allgemeinen Charakteristik verweilen, obgleich sie vorläufig unerwiesen und ein bloßes Schema ist. Sie soll nur den allgemeinen Stimmungsrahmen geben, der die Inhalte, die ihn allmählich erfüllen und erweisen werden, gleich ihren richtigen inneren Platz finden läßt.
Die unnachläßliche Strenge seiner Moral stammt aus seinem logischen Fanatismus, der dem gesamten Leben die Form mathematischer Exaktheit aufdrängen möchte. Andre große Morallehrer, bei denen indes der Quellpunkt der Lehre jenseits der logisch arbeitenden »Vernunft« lag, waren durchaus nicht von der gleichen Rigorosität: weder Buddha noch Jesus, weder Mark Aurel noch der heilige Franziskus. Es ist erst später zu untersuchen, ob Kant nicht etwa zu dieser Intoleranz der sittlichen Forderung berechtigt ist; und hier nur zu betonen, daß sie diesen Charakter nicht von einer auf das Praktische, sondern auf das Logisch-Begriffliche gestellten geistigen Lebenstendenz zu Lehen trägt.
Damit stimmt durchaus zusammen, daß Kant, in dem das ethische Interesse angeblich das theoretische so weit überragt, nur die alltäglichsten und sozusagen gröbsten Vorkommnisse des sittlichen Lebens sich zum Problem macht. Was an den Tatsachen des Sittlichen den allgemeinsten Begriffen zugänglich ist, behandelt er mit unerhörter Größe und Schärfe. Aber alle tieferen und feineren Fragen der Ethik, die Zuspitzungen der Konflikte, die Komplikationen des Empfindens, die dunklen Mächte in uns, deren sittlicher Bewertung wir so oft ratlos gegenüberstehen, – alles das scheint er nicht zu kennen: ebenderselbe, der in der Beobachtung der Denktätigkeit des Menschen zu den tiefsten, feinsten, raffiniertesten Funktionen hinabdrang. Die Phantasielosigkeit und Primitivität in den sittlichen Problemstellungen und die Verfeinerung und Schwingungsweite in den theoretischen beweisen, daß nur die Durchdringbarkeit durch das logische Denken für ihn entscheidet, was in sein philosophisches Denken eintreten darf.
An den Inhalten des Lebens, soweit sie methodisch-systematisch und mit in sich ruhender Gültigkeit zur Wissenschaft aufgebaut werden – im Gegensatz zu dem ewig fluktuierenden, ewig variierenden Prozeß des Lebens – findet die intellektualistische Logik ihren eigentlichen Gegenstand. Ob aus einem letzten Wurzelgrunde vielleicht gerade diese Lebens-Jenseitigkeit der Wissenschaft als eine besondere Ausformung der Lebensimpulse aufsteige – dies kann für die Beschreibung des Phänomens in seiner jetzt fraglichen Schicht außer Ansatz bleiben. Mit der Wissenschaft haben die – sich nun allein tragenden – Inhalte oder Resultate des Lebensprozesses diesen selbst am unzweideutigsten von sich ferngestellt. Innerhalb der Wissenschaft ist Kant das erlesenste Beispiel dieser Getrenntheit, indem sie, in den andern Wissenschaften ohne weiteres und als stillschweigende Voraussetzung wirksam, hier zum Gegenstand und prinzipiellen Ziel der Bestrebung wird, um so bezeichnender, weil gerade die Philosophie, im Unterschied gegen die andern Wissenschaften, dazu disponiert, an ihren Inhalten den Prozeß des Lebens fühlbar werden zu lassen. Es ist die Frage, ob nicht die ganze Kantische Philosophie von diesem Dualismus und seiner Entscheidung her eine weiteste und tiefste Bedeutung bekommen kann.
Wenn man es neuerdings vielfach abzustreiten sucht, daß Kants Philosophie rein aus dem intellektuellen Zentrum herausgewachsen ist, so liegt das an der gegenwärtig aufkommenden Reaktion gegen den Intellektualismus, der das europäische Leben seit dreihundert Jahren beherrscht. Er zeigte sich einerseits an der neuzeitlichen Bedeutung der Wissenschaft, und zwar nicht nur an ihrer tatsächlichen Entwicklung, sondern noch mehr an dem Glauben an sie, an die Vollkommenheit des Lebens, sobald vollkommene Wissenschaft es beherrschen könnte, – ein Glaube, der unter den Entgegengesetztheiten des Liberalismus und des Sozialismus gleichmäßig wächst. Andrerseits, in der Praxis, bezeugt die durchgedrungene Geldwirtschaft die Herrschaft des intellektuellen Prinzips: die rücksichtslose Folgerichtigkeit, die Ablehnung aller gefühlsmäßigen Subjektivität, die prinzipielle Zugängigkeit für einen jeden, – dies sind ebenso Charakterzüge der Geldwirtschaft der Neuzeit wie ihrer Intellektualität. Und eben dieser Intellektualismus hat in Kant seinen Gipfel gefunden, – so sehr der allmählich wachsende Überdruß an jenem dies leugnen möchte. Man könnte sagen, der unvergleichlich persönliche Zug der Kantischen Philosophie wäre ihre unvergleichliche Unpersönlichkeit. Analog der unparteiischen Stellung der Logik über allen einseitigen Inhalten des Vorstellens erhebt sich seine Philosophie mit der unberührbaren Kühle des Richters (ein von ihm selbst dauernd gebrauchtes Gleichnis), für den nur das Gesetz und die Logik existiert, über all denjenigen Philosophien, in denen sich die partikularen menschlichen Triebe ausgestalten. Freilich ist die Unparteiischkeit selbst wieder ein, wenn man will, einseitiger Trieb, wie die Intellektualität, die mit ihrer ausgeglichenen Ruhe über die anderen Seelenenergien sich erhebt und schließlich doch nur eine neben diesen ist. Ich zeige dies nun an der historisch-sachlichen Stellung der Kantischen Philosophie gegenüber andren philosophischen Hauptrichtungen.
Die beiden Weltanschauungen, denen sich die Kantische ausdrücklich entgegenstellt, werden als Rationalismus und Sensualismus bezeichnet. Beiden ist eigentümlich, daß sie die Wertung einer unsrer Erkenntniskräfte in ihren Mittelpunkt stellen und von hier aus die Beschaffenheit der objektiven Welt festlegen. Damit unterscheiden sie sich, wenn auch mit mancherlei Übergängen, von den von vornherein metaphysischen, die in umgekehrter Richtung bestimmen: die Welt ist so und so, also kann nur dieses und dieses Erkenntnismittel, das gerade eine solche Beschaffenheit auffaßt, das allein gültige sein.
Das Wesen des Rationalismus ist die ausschließliche Wertung des logisch-begrifflichen Denkens gegenüber der Erfahrung durch Sinneseindrücke. Diese Verabsolutierung einer unsrer Wesenskräfte hat eine dreifache, die Weltanschauung bestimmende Folge. Erstens. Unsere Erkenntnis der Dinge hängt nicht von unsrer Beziehung zu den Dingen ab, sondern wird durch die Denkbewegungen innerhalb unsres Geistes erzeugt. Aus den Begriffen der Dinge, die das Denken selbst erst gebildet hat, entwickelt es selbst weiterhin alle Wahrheit über die Dinge, – eine Souveränität des Geistes, die damit bezahlt werden muß, daß die sinnlich gegebenen Erkenntniselemente entweder zu rein gedanklichen umgedeutet oder als täuschende und wertlose ausgeschaltet werden. Zweitens. Wenn unsere Erkenntnisse wahr sind, auch ohne von sinnlicher Erfahrung erzeugt oder bestätigt zu sein, so können sie sich ohne weiteres auf solche Gegenstände erstrecken, die sich aller sinnlichen Wahrnehmbarkeit prinzipiell entziehen, auf Gott und die Unsterblichkeit, die Struktur des Weltganzen und das metaphysische Wesen der Dinge. Und nicht nur die Gegenstände, sondern auch der Sicherheitsgrad des Erkennens muß über das, was Erfahrung leistet, hinausgehen können: entwickelt sich jedes oder wenigstens das wertvolle Erkennen aus dem bloß logischen Denken, so muß ihm die unbedingte Sicherheit und Notwendigkeit der logischen Normen eigen sein, während alle Erfahrung nur eine relative und korrigierbare Wahrheit gewährt. Drittens. Der Rationalismus muß metaphysisch voraussetzen, daß die Objektivität unserer Logik entsprechend konstruiert sei. Das Dasein außerhalb unser wird von einer Vernunft bestimmt, die ihrem Wesen und ihren Gesetzen nach dieselbe ist, wie die in uns wirkende. Von ihr aber ist die Logik nur eine Seite oder Äußerungsform. Unter der Vernünftigkeit eines Seins oder Geschehens verstehen wir doch auch, daß es einen Sinn habe, den wir wertmäßig billigen, einen Zweck, der uns gefühlsmäßig befriedigt. Ist die Vernunft das Prinzip der Welt, weil sie das Prinzip der Welterkenntnis ist, und umgekehrt, so bedeutet dies weiterhin, daß die Welt in demselben Sinne vernünftig, wertvoll, zweckvoll ist, wie das Leben eines »vernünftigen« Menschen.
Ganz entgegengesetzt nun sieht Subjekt und Objekt des Erkennens für den aus, dessen geistiges Wesen sich um die Sinnlichkeit als Achse bewegt. Das Lebensgefühl, das allem philosophischen Sensualismus zugrunde liegt, ist die Abhängigkeit des Subjekts von der gegebenen Welt, sein Bestimmtsein durch die Elemente, in die es verflochten ist. Er enthält in seinen Fundamenten eine Resignation, zu der das praktische Genießen und Einschlürfen der Dinge, wie er es gelegentlich lehrt, keinen Widerspruch, sondern gerade eine Ergänzung und seelische Balancierung darstellt. Der Sensualismus glaubt die Unmittelbarkeit des Daseins in der Reaktion zu ergreifen, mit der die Sinne auf dieses Dasein antworten. Damit ist zunächst die Erkenntnis durch bloßes Nachdenken und logische Entwicklung der Begriffe abgelehnt und die Erfahrung als das einzige Erkenntnismittel proklamiert. Dies legt dem Erkennen zwei Beschränkungen auf: einmal den Verzicht auf alles Metaphysische; weder von Gott noch von dem verborgenen Wesen der Dinge noch von dem Sinn und Zweck des Weltganzen gibt es eine Erkenntnis. Und die der andren Objekte besitzt keine unbedingte Sicherheit und Notwendigkeit, denn sie ist auf die einzelnen Darbietungen der Wirklichkeit angewiesen und kann niemals über sie hinausgehen zu Begriffen und Gesetzen, welche auch die künftigen Erfahrungen festlegten. Da wir vielmehr auf diese warten müssen, so ist nicht die geringste Garantie dafür gegeben, daß nicht die morgige Erfahrung von der heutigen völlig abweicht; alle allgemeinen und gesetzlichen Zusammenhänge gelten nur mit Vorbehalt und auf Widerruf. Aus diesem Verhalten des Geistes folgt für das der Objekte, daß der Sensualismus geneigt sein wird, die Existenz alles Transzendenten in Abrede zu stellen. Das absolut Unerkennbare ist für uns so viel wie Nichts. Die gegenseitigen Widersprüche der metaphysischen und religiösen Behauptungen sind ihm ein willkommener Beweis, daß die Existenz ihrer Gegenstände in sich widerspruchsvoll ist und nur die Gegenstände der Erfahrung existieren. Damit entfällt zugleich der vernunftmäßige Sinn und Wert, den auch die erfahrbaren Dinge nach der Ansicht des Rationalismus über das an ihnen Erfahrbare hinaus haben.
Während ersichtlich die ganze seelische Eigenart des Individuums es für die eine oder die andere dieser philosophischen Gesinnungen bestimmt, sucht das Kantische Prinzip sich von vornherein jenseits all solcher Lehren zu stellen, mit denen sich partielle Charakterzüge ausleben. Er hat eine entscheidende Voraussetzung des Welterkennens als tatsächlich bestehende entdeckt, eine im Geiste selbst, aber nicht mehr in seiner subjektiven Einseitigkeit gelegene. Sie hebt den Gegensatz jener beiden in eine höhere Einheit auf und schränkt mit voller Unparteilichkeit den Rechtsanspruch einer jeden so weit ein, daß er mit dem der andern zusammenbestehen kann. Sie ist nicht aus Mischung und Kompromiß hervorgegangen, womit sie in der Ebene dieser Gegensätze und von ihnen abhängig bliebe. Sondern ein einheitliches Neues ist gefunden, das von sich aus Abweichung und Zustimmung jenen gegenüber entscheidet.