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Siebente Vorlesung.

Das eigentliche Motiv, aus dem der Vorstellungscharakter der räumlichen Welt diese ihrer Sicherheit zu berauben scheint, ist ihr scheinbarer Unterschied gegen die innere Welt. Unser Ich gebe sich uns unmittelbar durch unsere Vorstellungen zu erkennen, auf die Substanzen außerhalb dieses Ichs aber können wir aus unsren Vorstellungen nur schließen, so daß wir ihrer weder unmittelbar noch unbedingt gewiß seien. Von der Seite des Raumes her ist dies nun widerlegt: indem die Räumlichkeit eine Form des Vorstellens ist, brauchen wir auf sie nicht zu schließen, sondern mit ihrem Vorgestelltwerden ist ihre volle Existenz gegeben. Aber die Wesensdifferenz zwischen der äußeren und der inneren Erfahrung muß nicht weniger auch von der Seite der letzteren her aufgehoben werden. Hatte der noch nicht Kantisch vertiefte Idealismus die Sicherheit der Außenwelt zugunsten des Selbstbewußtseins entwurzelt, so enthüllt sich, was er diesem letzteren zuspricht, ebensosehr als ein Zuviel, wie jenes andere ein Zuwenig war. Die Anschauungsweise, die bisher für die Außenwelt durchgeführt ist, überträgt Kant jetzt auf die Innenwelt, nicht nur, um die formale Einheit des Weltbildes zu gewinnen, sondern weil eine Anzahl der beängstigendsten Probleme, die die gegenseitige Fremdheit von Außen- und Innenwelt aufgibt, durch das gleiche Verhältnis des Erkennens zu beiden ihre Lösung finden.

Kant behauptet: die Seele erkennt auch sich selbst nicht, wie sie an sich ist, sondern wie sie sich erscheint. Anders ausgedrückt: ihr unmittelbares Leben, der schöpferische Prozeß, in dem psychische Tatsachen überhaupt entstehen, muß, um unsrem Erkennen zugängig zu sein, dem Bewußtsein erst in derselben Weise gegeben werden, wie ein Gegenstand äußerer Sinne. Die Vorstellungen also, mit denen die Seele sich selbst erkennt, sind von der Struktur des aufnehmenden Bewußtseins bestimmt, wie die Gesichtsvorstellungen von der des Auges, d. h. sie spielen sich als Erkenntnisse ausschließlich innerhalb eines inneren rezeptiven Sinnes ab, der auf seine Anschauungsformen beschränkt bleibt; sein »Gegenstand« im absoluten, ihm jenseitigen Sinne kann nicht in ihn überwandern oder durch reines, die sinnliche Vermittlung überspringendes Denken ergriffen werden, so wenig, wenn dieser Gegenstand als unser eignes Seelenwesen gefühlt, wie wenn er als das Substrat räumlicher Anschauungen gedacht wird.

Von der gewöhnlichen Auffassung – für deren Standpunkt die Selbsterkenntnis zwar im einzelnen oft irren mag, hiervon abgesehen aber das Wesen des Ich restlos und keineswegs nur als »Erscheinung« ergreift – mag zu der Kantischen Betrachtung überleiten, daß mindestens die Vergangenheit unsrer Seele uns als eine festumschriebene Tatsache gegenübersteht, die wir nur in derselben Weise registrieren und als etwas Gegebenes in unser momentanes Bewußtsein aufnehmen können wie irgendeine räumliche Wirklichkeit. Unsere gedachten Gedanken stehen für uns als Gegenstände einer inneren Anschauung da, wir sind ihnen gegenüber passiv. In welcher Form dieses Frühere weiterexistiert, um uns jetzt zu seiner Reproduktion anzuregen, wissen wir nicht. Aber diese Reproduktion ist doch, so unvermeidlich gegeben ihr Inhalt ist, eine Funktion unsres jetzigen, aufnehmenden Bewußtseins. Jener frühere Inhalt ist als Wirklichkeit unwiederbringlich dahin; was jetzt von ihm lebt, ist nicht er selbst, sondern die Tätigkeit des reproduzierenden Bewußtseins, das zwar zu dieser angeregt und dadurch seinem Inhalte nach bestimmt werden muß, dies aber doch nur in den Formen und Reaktionsweisen kann, zu denen seine Organisation es befähigt. Dieses Hinnehmen des seelischen Inhalts als eines gegebenen bestimmt aber nicht nur den Rückblick auf unsere innere Vergangenheit; nicht weniger kann auch der gegenwärtig aufsteigende Gedanke, Gefühl, Impuls zum Gegenstand einer Wahrnehmung werden. Die Selbstbeobachtung vermerkt die psychischen Inhalte so, wie sie sich entwickeln, sie stellt ein wahrnehmendes Ich einem wahrgenommenen gegenüber, das, obgleich eine und dieselbe Persönlichkeit in beiden lebt, jenem nicht weniger Objekt ist, als eine Raumerscheinung unsrem Auge. Diese Zweiheit unsres Seelenlebens steigt nun aber noch tiefer, in seine primären Elemente hinunter. Die einzelne Vorstellung ist nicht nur als Moment unsrer Lebensgeschichte und Selbstbeobachtung eine gegebene und hinzunehmende Tatsache: sondern als eine solche bietet sie sich auch schon bei ihrem ersten Aufsteigen unmittelbar dar. Wir fühlen sie gleichsam von unserem Bewußtsein Besitz ergreifen. Sie ist, als bloße Vorstellung betrachtet, diesem ebenso ein Gegebenes, nicht mehr zu Änderndes, wie eine äußere Sinnesaffektion – ihr etwaiger Inhalt – es ist. Der spontane Akt unsres Vorstellens ist uns verborgen, wir kennen nur die Resultate, die er in unser Bewußtsein schickt, oder, in der Kantischen Ausdrucksweise, die Arten, wie er unser Bewußtsein affiziert. Was wir Aufmerksamkeit nennen, ist der größere oder geringere Grad des Bewußtseins, das von der Vorstellung erregt wird und durch das, wie Kant sagt, die Vorstellung überhaupt erst zu einem Gedanken gemacht wird. Denn wenn es auch Worte eines anderen oder Vorgänge am Sternenhimmel sind, auf die wir aufmerken, so ist dies letztere doch nichts als die Schärfung des Bewußtseins unsrer eigenen Vorstellungen, ohne daß die objektiven Inhalte desselben dadurch irgend alteriert würden. Irgendein Grad von Aufmerksamkeit aber kommt doch jeder Vorstellung zu: wo die Aufmerksamkeit absolut fehlte, würde kein Gedanke mehr als solcher bestehen. Wenn nun Aufmerksamkeit, d. h. das jeweilige Bewußtsein, eine innere Zweiheit voraussetzt: einen gegebenen Inhalt und mannigfache Grade der seelischen Intensität, mit der er für uns existiert; wenn jener Inhalt doch auch nur die Wirkung eines Vorgangs ist, der den Fundamenten unsres Ich, jenseits des Bewußtseins, angehört – so ist also jede Vorstellung eine Selbstanschauung unser. Sobald wir das Denken nach dem befragen, was es als Entfaltung oder Enthüllung unsres Ich bedeutet, so ist es die im Bewußtsein sich vollziehende Anschauung oder Erscheinung unsres seelischen Wesens, das also an und für sich niemals erkannt werden kann. Freilich ist dies nicht der einzige oder notwendige Standpunkt unsren Vorstellungen gegenüber. Wir können sie rein auf ihren sachlichen Sinn und auf das hin ansehen, was ihr Inhalt uns an Erkenntnissen bietet; steht aber ihre Bedeutung für unsre Subjektivität, ihr Charakter als seelische Prozesse, ihr Geschehen als Szene unsres Lebensdramas in Frage, so sind sie die Affektionen unsres Bewußtseins durch die ihm jenseitige Wesenheit unsrer Seele, welch letztere wir also auch, wie die Realitäten des Raumes, nur erfahren können, ohne den absoluten Gegenstand, der jenseits dieser sinnlichen Beeindrucktheiten des Bewußtseins steht, unmittelbar zu ergreifen. Die eigenartige Vereinigung von Aktivität und Passivität in unsren Sinnesempfindungen: daß wir einerseits ihren Inhalt als einen schlechthin gegebenen hinnehmen müssen, andrerseits aber diesen Inhalt doch, unsrer Organisation entsprechend, selbst erzeugen, so daß ihre transzendente Ursache sich weder in ihnen abspiegelt, noch in sie aufgenommen wird – diesen Charakter zeigen unsere Vorstellungen auch dann, wenn sie als der Stoff unsrer Selbsterkenntnis gelten.

Die einzelne Vorstellung aber, ja, eine Vielheit von Vorstellungen bildet noch kein Ich, sie ist der Stoff, der zu einer Innenwelt erst geformt werden muß, wie der Empfindungsinhalt von Gesicht und Getast erst eine Außenwelt ist, wenn er räumlich geformt ist. Diese Form, ohne die unsre Bewußtseinsinhalte nicht zu einem Ich, einem einheitlichen inneren Dasein organisiert werden können, gewinnen sie dadurch, daß der eine früher, der andere später ist. Ein Haufen von Vorstellungen, die keinen zeitlichen Verlauf bildeten, würde kein menschliches Ich ausmachen. So wenig es in einem Raumpunkte eine Welt geben kann, diese vielmehr sich im Nebeneinander entfalten muß, so wenig kann es in einem Zeitpunkt eine Innenwelt geben, sondern eine solche muß für ihre Inhalte ein Nacheinander zur Verfügung haben. In dem Augenblick, in dem ein Bewußtseinsinhalt auftaucht, ist er, auf seine bloße seelische Bedeutung hin angesehn, der subjektive Zustand eben dieses Momentes; daß wir aus ihm und allen seinesgleichen ein objektives Bild, die von allem Momentan-Subjektiven unabhängige Vorstellung eines Ich formen, das dem augenblicklichen Bewußtsein als eine historische Tatsache gegenübersteht: das geschieht durch die Ordnung jener Einzelzustände in eine Zeitreihe. Dadurch stellen wir sie in eine Distanz gegen den Augenblick, der doch in sie eingereiht ist, verbinden sie unter sich zu einem objektiven Ganzen – wie dies alles entsprechend durch die Verräumlichung der subjektiven Empfindungen geschehen muß, um aus diesen eine Welt der Dinge zu gewinnen. Wir erfahren uns – d. h. wir erkennen ein über seinen subjektiven Zustand hinübergreifendes Ich – ausschließlich durch das Bewußtsein, daß unsere einzelnen Vorstellungen eine Folge bilden und vermittels dieses Vorher und Nachher die in ununterbrochener Zeitform verlaufende, objektiv reale Geschichte unsrer Seele sind.

Welches aber ist das Verfahren, durch welches die aktuellen Vorstellungen zu solchem Zusammenhang eines inneren Lebens gelangen? Diese Technik unsres Bewußtseins bezeichnen wir als Reproduktion. Die Vorstellung irgendeines Augenblicks ist mit diesem unwiederbringlich verschwunden, die Wirklichkeit des Seelenlebens hat nur den Punkt der Gegenwart in ihrer absoluten Unausgedehntheit zur Verfügung, und zu einer Zeit, d. h. zu der Spannung zwischen einem Vorher und einem Nachher würde es niemals kommen, wenn das Vorher nicht in der ideellen Form der Erinnerung weiterlebte. Wir müssen das Bewußtsein haben, daß das, was wir in diesem Augenblick denken, eben dasselbe sei, was wir schon gedacht haben und was nun neben einem eventuellen Neuen, dem primären Inhalt des gegenwärtigen Momentes, weiterbesteht: dieses eigentümlich qualifizierte Bewußtsein nennen wir die Vergangenheit. So wenig wie die Zukunft – die wir dadurch erzeugen, daß wir in der Phantasie die Gegenwart mit jener Bewußtseinsfärbung der Vergangenheit ausstatten – ist die Vergangenheit irgendwie real. Vor die Frage des Seins gestellt, ist das Vergangene so nichtig, als wäre es niemals gewesen. Es ist schon leicht mißverständlich, wenn man sagt, nur das Gegenwärtige sei wirklich; denn die Gegenwart erscheint hier als der Begriff irgendeiner Zeit; gerade als solcher aber ist er auf das objektiv Reale nicht anzuwenden. Denn dieses existiert nur in dem Zeitpunkte, der so wenig eine Zeit ist, wie der Raumpunkt ein Raum ist. Zeit ist zeitliche Ausdehnung; diese aber kommt nur subjektiv, d. h. vermöge der Erinnerung an das objektiv nicht mehr Seiende zustande. Dem individuellen Belieben ist diese Subjektivität natürlich ebenso entrückt wie die der Raumanschauung. An welche Stelle der Zeit wir irgendeinen Vorstellungsinhalt setzen, steht keineswegs in unsrer Macht; daß wir ihn aber überhaupt, nachdem er die Wirklichkeit verlassen hat, vermöge der seelischen Reproduktion mit andren in das Verhältnis setzen, das wir zeitlich nennen – das ist ein Tun der Seele, eine Bewährung einer, ihrem und nur ihrem Wesen und deshalb nicht ihrer Willkür innewohnenden Energie. Sie stiftet dies Verhältnis, indem sie zwischen ihren Inhalten gleichsam hin und her geht und deren Sein und Nicht-Sein in die diesem selbst fremde Tonart der Zeitlichkeit transponiert. So ist es zu verstehen, daß Kant die Zeit fortwährend als die Form der Selbstwahrnehmung, der Erkenntnis des eignen Ich bezeichnet, während sie uns doch das Schema für die Weltereignisse abgibt, die mit unsrer Selbsterkenntnis nicht das geringste zu tun haben. Der Kantische Gedanke ist hier freilich nicht ganz leicht erfaßbar. Jede Vorstellung, so sehen wir, ist nach ihrer Binnenseite hin als eine Selbstanschauung des Ich anzusehen. Ein empirisches Ich aber entsteht aus solchen Vorstellungen, indem das Gedächtnis das Vergangene wiederholt und dadurch das Vorher und Nachher, d. h. die zeitliche Ordnung der Vorstellungen ermöglicht. Die Zeit ist so wenig eine vorbestehende leere Linie, auf die wir unsere Vorstellungen setzen, wie der Raum ein leeres Gefäß war, in das wir unsre Empfindungen projizieren; sie ist vielmehr die Form, die nur an unsren Vorstellungen selbst realisierbar ist und durch deren Funktionieren das Ich als Gegenstand unsrer eignen Erkenntnis zustande kommt. Nun ist es aber nicht notwendig, daß dieser Prozeß, der sozusagen die Zeit nicht schafft, sondern die Zeit ist, auf seinen Erfolg, das empirische Ich zu konstituieren, hin angesehen wird. Wir können auch, indem er abläuft, auf seine sachlichen Inhalte achten, die nun gleichfalls als zeitlich geordnete erscheinen müssen. So paradox diese Überzeugung scheint: wenn ich einen Sonnenuntergang und darauf einen Mondaufgang beobachte, so geht diese zeitliche Ordnung die Erscheinungen selbst sozusagen nichts an; sie sind einfach da und haben ihre begrifflich ausdrückbare Bedeutung für sich. Die zeitliche Relation des Vergangenen, also objektiv überhaupt nicht mehr Seienden, nur Erinnerten, zum Gegenwärtigen entsteht nur dadurch, daß – modern ausgedrückt – ich sie erlebe, d. h. daß sie die Form meines Erlebens, das sich über Wirkliches und, vermöge der Erinnerung, nicht mehr Wirkliches ausspannt, annehmen; Kantisch ausgedrückt: daß sie »als Bestimmungen des Gemütes zum inneren Zustand gehören«. Der Willkür des Subjekts ist freilich diese innere Formung genau so entzogen wie der Inhalt des Vorstellens, dessen sinnliche Bestimmtheiten doch nicht weniger durch die psychophysische Organisation des Vorstellenden determiniert sind. Richtigkeit und Irrtum unterscheidet sich bei diesen und bei den Formungen durch das Erleben danach, ob sie dem als objektiv vorausgesetzten Zusammenhang der Erfahrungsinhalte nach Naturgesetzen angehören oder ihm widersprechen.

Als den frappierendsten Einwurf dagegen, daß die Zeit keine Wirklichkeit außerhalb unsrer Vorstellungen besitze, bringt Kant selbst vor: daß die Zeit real sein müsse, wenn Veränderungen real seien, da diese doch nur in jener geschehen könnten; da nun aber unsre Vorstellungen unleugbar wechselten, so gingen Veränderungen nicht nur in ihnen, sondern mit ihnen vor sich. Nicht nur ihr Inhalt also enthielte die Zeit – die in diesem Fall allerdings außerhalb der absoluten Realität stände – sondern der Prozeß des Vorstellens, als unbedingt reales Sein und Geschehen und Träger jener Inhalte, unterläge ihr; so daß sie, als Bedingung einer Wirklichkeit, selbst etwas Wirkliches sein muß. Allein: allerdings folgen unsre Vorstellungen einander. Aber das heißt doch nur, daß wir uns ihrer als nacheinander folgend bewußt sind, oder – in der Sprache des obigen, von Kant nicht ebenso formulierten Beweisgrundes – daß das Sein und Nicht-Sein unsrer Vorstellungen nur dadurch zu einer Zeitfolge gestaltet wird, daß wir die als Realität nicht mehr seiende im Bewußtsein reproduzieren und sie mit andern in die Form zusammenordnen, die wir Zeit nennen. Das Wahre an jenem Argument ist nur, daß unsre Vorstellungen, als reale Vorgänge, sind und nicht sind. Daß aber auch die nichtseienden die reproduzierte Existenz gewinnen, durch die wir sie als sich ändernde, also zeitliche bezeichnen können, ist nur innerhalb des Bewußtseins möglich, nur durch die Wahrnehmung der inneren Tatsachen, die als solche nur sein oder nicht sein können, aber der Verbindung entbehren, die mit ihrer Auffassung als zeitlicher identisch ist – gerade wie die Empfindungen äußrer Sinne an sich unverbunden sind und erst durch die Bearbeitung in dem formenden Bewußtsein das gegenseitige Verhältnis gewinnen, das ihre Räumlichkeit heißt.

Darum ist uns die Erkenntnis der »Seele«, die jenseits des Bewußtseins als dessen Träger steht, notwendig versagt. Denn wir kennen »uns« nur in zeitlicher Entwicklung, die Zeit aber ist nur die Ordnung der im Bewußtsein empfangenen Anregungen und Inhalte. Auch dem eignen seelischen Sein gegenüber bleibt die Erkenntnis sozusagen auf sich selbst, d. h. auf die von ihrer Reaktionsform bestimmten Erscheinungen dieses Seins beschränkt. Die Vorstellungen, die, rein als solche angesehen, ebenso ein bloßes Material für die sich zur Einheit formende Innenwelt sind, wie die Sinneseindrücke für die Außenwelt, haben mit dieser Einheit, mit dem Ich nichts zu tun, solange man jede einzelne für sich ansieht. Die Verbundenheit, durch die sie Einheit oder Ichcharakter gewinnen, ist nur die zeitliche, die ihre sich bietenden Inhalte ergreift und ordnet – nicht aber die Einheit einer »Seele«, die unter ihnen läge und als ihre gemeinsame Wurzel sie aus sich hervortriebe. Eine solche Einheit mag vorhanden sein – aber die Erkenntnis hat keine Brücke zu ihr. Sehr deutlich zeichnet sich hiergegen noch einmal der Charakter jenes »erkenntnistheoretischen Ich«, das nur der Name für die Vereinheitlichung war, durch die das Weltmaterial uns zu objektiven Einsichten und zu einem Weltbild wird; dieses ist ein rein ideelles, eine Funktion, die aus der tatsächlichen Welterkenntnis heraus durch einfache Analyse, einfache Beobachtung ihrer allgemeinsten Form konstruiert werden kann. Hier aber würde es sich um eine Realität, um das substanzielle Wesen Ich – wenn auch nicht etwa im materialistischen, sondern im metaphysischen Sinn – handeln. Die Ich-Einheit, die überhaupt eine ergreifbare Beziehung zu unsern Vorstellungsinhalten besitzt, kann, da nur diese Inhalte uns wirklich gegeben sind, ausschließlich sozusagen nach oben zu liegen, in der zeitlichen Verwebung dieses Gegebenen; zu dem, was jenseits der Vorstellungen selbst liegt, können wir nicht dringen, an diesen liegt die untere Grenze aller Erkenntnismöglichkeit. Daraus zieht Kant eine Reihe der wichtigsten Folgerungen, die sich aber, seiner theoretisch-intellektualistischen Grundtendenz zufolge, nur auf Möglichkeit und Sicherheit unsres Erkennens erstrecken und für unser Sein und das Fundament unsres Wesens nur kritische, negative Bedeutung haben.

Zunächst wird die empirische Realität der Außenwelt dadurch nun definitiv gesichert. Denn die Zweifel an dieser basierten schließlich doch darauf, daß sie nur durch Vorstellungen erkennbar sei; der Vorstellungen selbst, d. h. des denkenden Ich, glaubte man unbedingt sicher zu sein, während die Wahrheit des Sachgehaltes nie strikt erweislich wäre. Jetzt ist erwiesen: auch das, was diese Vorstellungen als solche unmittelbar, wie es scheint, zu erkennen geben, das Seelisch-Innerliche, hat nur genau den Realitätsgrad der äußeren Welt. Auch uns selbst kennen wir nur in den Reaktionen, als Reaktionen eines auffassenden Organes, nicht aber nach unsrer an sich seienden Realität, jenseits der Energien und Formen dieses Organes. Die äußere und die seelisch-geschichtliche Welt haben also die gleiche empirische Realität und den gleichen Abstand von dem, was man sich als ihr transzendentes Substrat denken mag. Wenn die eine jenen Abstand zu überwinden und das absolute Sein dieses Substrates auszuschöpfen schien, so ist dies ebenso trüglich wie die Deklassierung und Unsicherheit, in die sie damit die andere herabdrückt, unverdient ist.

Diese Koordination, die die Außen- und die Innenwelt von der Frage nach ihrem Erkanntwerden aus gewinnen, ergibt als weiteres Resultat für Kant die Lösung eines Hauptproblems alles neuzeitlichen Philosophierens: der Wechselwirkung von Geist und Körper.

Dem Bruch zwischen der Äußerlichkeit und der Innerlichkeit des Lebens, der am Ende der klassischen Welt entstanden war, verlieh Descartes seinen Ausdruck auf objektiv-theoretischem Gebiet: der Leib und die denkende Seele sind so völlig verschiednen Wesens, daß ihre Wechselwirkung eigentlich nicht begreiflich ist, obgleich sie als Tatsache vorzuliegen scheint. Der Dualismus in allem Menschlichen, aus dem seinen Provinzen das Spiel zwischen Getrenntheit und Einheit als ihr ganz allgemeines Entwicklungsschema quillt, hat hier die Elemente unsrer Existenz überhaupt ergriffen. Die Philosophie, dies sogleich als die fundamentale Spaltung empfindend, die sich als Riß durch den ganzen Bau unsres Wesens fortsetzt, hat seitdem unablässig an dem Problem gearbeitet: wie die rein intensive, unausgedehnte Substanz der Seele eine wirksame Beziehung zu der rein extensiven, in bloßer Äußerlichkeit bestehenden Substanz unsres Leibes eingehen könne. Kein Mittel der Metaphysik blieb unversucht: die Beihilfe Gottes wie das Enthaltensein unsrer Seele und unsres Körpers in der göttlichen Allumfassung sollten die getrennten Wesenheiten zusammenbinden; ihr Wurzeln in einer einheitlichen Substanz, die sich gleichzeitig als das eine wie als das andre darstellt, wie ein Parallelismus ihrer voneinander unabhängigen Entwicklungen; die Deutung des Seelischen als eines im Grunde Körperlichen wie die des Körperlichen als eines im Grunde Seelischen. Diesen etwas verzweifelten Versuchen, dem erfahrungsmäßigen Zusammenhang von Geist und Körper eine begrifflich erklärende Einheit unterzubauen, begegnet Kant durch eine grundsätzliche Reduktion des Problems. Die Schwierigkeit, für die rein extensive Substanz des Körpers und die rein intensive Substanz der Seele eine Einheit zu finden, bestehe gar nicht, weil weder der Körper noch die Seele uns als solche voneinander unabhängige, für-sich-seiende Substanzen gegeben wären. Wir haben vielmehr von beiden nur Erscheinungen, die vom Bewußtsein nach den ihm eigenen Formen produziert werden. Es ist also ganz willkürlich, wenn man die hinter diesen Erscheinungen stehenden transzendenten Wesen, die unsrer Erkenntnis für immer entzogen sind, mit irgendwelchen Eigenschaften ausstattet. Die Unzulässigkeit davon zeigt sich eben unmittelbar so, daß jene Bestimmungen: Intensität und Extensität, auf die selbständigen Wesenheiten Körper und Seele angewendet, keinen Zusammenhang beider denkbar machen, während sie, als Eigenschaften der Erscheinungen, deren Zusammengehen zu einer Erfahrungswelt nirgends behindern. Die Schwierigkeit der Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele spiele also nicht zwischen zwei Welten, an denen man keinen Berührungspunkt finden könnte, – sondern sei nur eine relative: nach welchen empirischen Gesetzen die Vorstellungen, die wir äußere nennen, mit denen, die bloß innere heißen, in tatsächlichem Zusammenhang stehen, d. h. zusammen eine Erfahrungswelt – diejenige, die wir wirklich haben, – ausmachen.

Der Dualismus, der das Weltbild zu zerspalten drohte, hat damit eine übergreifende, einschließende Einheit gewonnen: die Erfahrung, in der psychische und körperhafte Elemente sich zusammenfinden, beide aber nur als Vorstellungen, so daß die Gesetze ihres Zusammenhangs prinzipiell nicht anders geartet sind, als die, die für die Beziehungen der physischen Ereignisse unter sich oder der seelischen Ereignisse unter sich auffindbar sind. Die Schwierigkeit, unter der das Problem bis zu Kant gelitten hatte, stammte daher, daß man hinter die Erscheinungen, wie sie sich empirisch geben, gegriffen hatte und für die Inhalte des einen, erfahrenden Bewußtseins zwei wesensverschiedene, voneinander unabhängige Träger gesucht hatte – verführt durch die qualitative Differenz, die unleugbar zwischen jenen beiden Provinzen der Erfahrungswelt besteht, aber doch immer nur die inhaltliche Verschiedenheit zweier Vorstellungsarten in einem und demselben Bewußtsein bleibt.

Was die Metaphysik für die der Erklärung bedürftige Tatsache gehalten hatte: die unausgedehnte Substanz der Seele, die von dem Geistigen unabhängige Raumeswelt und irgendeine Art Vereinheitlichung zwischen ihnen, – eben dies erklärt Kant für eine naive und willkürliche Annahme. Denn gerade jene Substanzen sind nicht gegeben, sondern nur körperliche und seelische Erscheinungen, deren Einheit darin liegt, daß sie eine einheitliche, d. h. allenthalben die gleichen Regelmäßigkeiten aufweisende Erfahrung bilden. Es ist auch hier nur der radikale Intellektualismus Kants, der das Wort führt: damit die Welt bis auf den Grund im Erkennen aufgehe, muß sie in eine Funktion des Erkenntnisträgers verwandelt werden, gerade wie Plato, weil er in den Begriffen das einzig zuverlässige Erkenntnismittel erblickte, die Ideen als die eigentliche Realität der Welt konstruierte, die Ideen, die doch nichts sind als die verselbständigten Gegenbilder unsrer Begriffe. In beiden Fällen wird eine Erkenntnisart – dort die begrifflich-dialektische, hier die naturwissenschaftliche (mathematisch – empirische) – als die souveräne, unbezweifelt wertvolle, als der Drehpunkt des Weltbildes empfunden; und nun wird der Gegenstand des Erkennens, das objektive Dasein, als ein solches konstruiert, das eben dieser Erkenntnisart sich restlos darbiete, ihr gänzlich durchdringbar sei. An dem Dualismus von Seele und körperlicher Materialität fand Kant das Problem vor, das die Einheit des naturwissenschaftlichen Erkennens am schwersten bedrohte, weil hier die Gesetzgebungen zweier, der Substanz nach verschiednen Welten nebeneinander zu liegen schienen; weshalb man denn auch zur Lösung des Widerspruchs nur metaphysische Mittel versucht hatte. Statt dessen bildet Kant die dualistischen Elemente so lange um, bis sie sich gemeinsam der wissenschaftlichen Intellektualität beugen: die Wirklichkeit wird nur so weit als solche anerkannt, wie sie Wissenschaftsinhalt sein kann, wie das Bewußtsein sie nach eben denselben Gesetzen erkennt, nach denen es sie schon produziert hat, nach den intellektuellen Funktionen, die sich gleichmäßig über die äußere wie über die innere Welt, mit nur sekundären Unterschieden, erstrecken.

Dies ist natürlich nur eine prinzipielle Lösung und hat mit den empirischen, durch die moderne Physik hervorgetretenen Schwierigkeiten nichts zu tun, die das Verhältnis von Leib und Seele auch dann noch findet, wenn beides die aus einer Wurzel, d. h. aus einem Bewußtsein entspringenden Elemente einer Erscheinungswelt sind.

Was aber durch Kant in jedem Fall gewonnen ist, das ist eben die Verwandlung der metaphysischen Schwierigkeit in eine empirische und damit unter andrem das höchst Wichtige: daß aller Materialismus als eine in sich widerspruchsvolle Metaphysik erwiesen ist. Denn gerade er geht ja hinter die gegebenen Erscheinungen zurück, gerade er begnügt sich nicht mit der empirischen Welt, die das Körperliche und das Geistige als letzte, heterogene Tatsachen vorfindet, gerade seine Behauptung: die seelischen Tatsachen seien physische Wirklichkeiten oder Ereignisse – setzt an die Stelle des erfahrungsmäßigen Zusammenhanges der einzelnen Realitäten die Begründung der einen Reihe auf etwas, was hinter ihr und insoweit jenseits aller Wahrnehmbarkeit und Anschaulichkeit liegt. Er ist in genau demselben Sinne Metaphysik wie der Spiritualismus, für den umgekehrt alles körperliche Dasein seinem Wesen nach ein geistiges ist. Gerade an dem Gegensatz auch zu diesem letzteren wird die Eigentümlichkeit des Kantischen Standpunktes höchst deutlich. Gewiß ist für Kant die erkennbare Welt, also auch die materielle, eine Summe von Bewußtseinserscheinungen; aber auch das, was wir Geist nennen, ist nichts anderes, auch er ist nur ein Inhalt der Erfahrung bildenden Funktion, auch er besteht, wie die Materie, nur in seinem Vorgestelltwerden. Dieses Vorstellen aber ist nicht in demselben Sinne Geist, in dem wir ihn der Materie als das andere Weltelement gegenüberstellen, sondern ist der gleichsam freischwebende Grundprozeß des Bewußtseins überhaupt, der an sich jenseits jenes Gegensatzes steht, weil er ihn erst erzeugt und einschließt. Materialismus und Spiritualismus begehen also den gleichen Fehler: dasjenige, was nur als ein partielles Erfahrungsgebiet, als Erscheinung vermittels bestimmter Wahrnehmungsfunktionen existiert, zu dem Dinge-an-sich der je anderen Erscheinungsqualität zu machen. Daß im 19. Jahrhundert der Materialismus noch einmal, trotz Kant, Schule machen konnte, beweist, wie sehr er Metaphysik ist, d. h. von Gefühlen und Willenstendenzen, von allgemeinen kulturellen und personalen Motiven abhängig ist, die jenseits der wissenschaftlichen Intellektualität stehen und alle Belehrung durch diese ausschlagen.

Die Einheit des Weltbildes aber, auf die Materialismus und Spiritualismus ausgingen, ist jetzt aus dem Körper und der Seele in diejenigen Funktionen zurückverlegt, in denen sie beide gleichmäßig entstehen: in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Und dieser Gegensatz gibt noch einmal Gelegenheit, die ungeheure Originalität der von Kant gewonnenen Wendung des Denkens zu betonen. Alle sonstige Philosophie hatte die Begriffe der Dinge so lange umgestaltet, bis ihre Fremdheiten und Gegensätze in eine Einheit aufgehoben waren. Denn wenn es doch schließlich jeder Philosophie darauf ankommt, die Vielspältigkeit der unmittelbaren Erscheinungen zu überwinden, ihre Widersprüche zu versöhnen, aus den Fragmenten, als die sie sich darbieten, ein einheitliches Ganzes zu gestalten, so suchte man eben in den Qualitäten der gegebenen oder einer konstruierten Wirklichkeit nach dem Punkte, der diese Vereinheitlichung leistete. Und man pflegte ihn so zu gewinnen, daß man eine einzelne Bestimmtheit der Erscheinungen ins Absolute, Metaphysische steigerte: den Geist oder die Materie, die Einheit oder die Vielheit, die Substanz oder die Bewegung – und dadurch an ihr die übergreifende Potenz gewann, die alles andere und Relative aus ihrer Einheit hervorgehen ließ und in dieser zusammenschloß. In Kant nun hat der philosophische Einheitstrieb zum ersten Male auf solche Formung der Dinge selbst verzichtet; er sucht seine Befriedigung nicht mehr an den Qualitäten des Gegebenen. Vielmehr: die Erkenntnisse der Dinge hängen nach wissenschaftlichen, überall anwendbaren Prinzipien zusammen und bilden dadurch einen einheitlichen, intellektuell zugängigen Kosmos. In ihren Inhalten, in den Eigenschaften ihrer für-sich-seienden Wirklichkeit wird man vergebens nach einer Einheit suchen; sie liegen gleichgültig nebeneinander, oft nicht einmal durch vermittelnde Glieder kontinuierlich verbunden, nur durch die Künstlichkeiten der Metaphysik einem, höchsten Begriffe einzuordnen. Sobald man aber die Einheit nicht mehr in den Dingen selbst, ihrem unmittelbaren Dasein nach, sondern in dem Bilde ihrer sucht, mit dem sie sich in die wissenschaftlichen Ordnungen einstellen, in dem Zusammenhang, den sie durch ihren gemeinsamen Anteil an der gültigen Erfahrung gewinnen – so stellt sie sich sogleich ein, vielleicht noch nicht als vollendete Tatsache, aber als eine sichere Form und Schema, die unsere wachsende Erkenntnis immer mehr erfüllt, als ein ideelles Ganzes, durch seine Prinzipien selbst da zusammengehalten, wo das reale Wissen von den Dingen noch Lücken und Irrtümer zeigt. Um die Kantische Intellektualisierung des Weltbildes wirklich zu begreifen, ist ihre jetzt fragliche Funktion: die Einheit eben dieses Weltbildes zu gewährleisten, von größter Bedeutung. Was man sonst »den Gegenstand« nennt, ersetzt er durch die wissenschaftlich haltbare Erfahrung von dem Gegenstand; denn nur als diese ist er uns gegeben, außerhalb ihrer ist nur das Chaos der Sinneseindrücke. Wie Plato über die unmittelbare oder scheinbare Realität des Seins die allein wirkliche Welt der Ideen setzte, der reinen Begriffe, in deren logischer Anordnung und Verknüpfung wir die Wahrheit des Seins ergriffen – so läßt Kant die reine Wirklichkeit der Dinge durch den Komplex der wissenschaftlichen Erfahrungen vertreten; nur daß die Geistigkeit, die bei Plato doch wieder zu einer festen, metaphysischen Substanz gerinnt, jenseits des unwillig anerkannten Weiterlebens der sinnlichen Existenzen, sich hier als der Zusammenhang der Naturgesetze und der durch sie begreiflichen Erscheinungen offenbart. Nur diese Bedeutung festhaltend, kann man ohne Mißverständnis die Kantische Lehre so ausdrücken; daß sie an die Stelle der Dinge die Vorstellungen über die Dinge setzt. Denn damit ist die Welt zwar intellektualisiert, aber nicht subjektiviert. Es fehlt diesem Weltbild völlig die Mitwirkung des Gefühls und jener geheimnisvollen, unmittelbaren Beziehungen der Seele zum Kern des Seins, die sich dem Richterstuhl des Verstandes mit seiner Alternative von Wahr und Falsch, überhaupt nicht stellen. Vielmehr, die Wirklichkeit ist mit der Summe der intellektuellen Begreiflichkeiten abgeschlossen. Von Subjektivität, d. h. von einer willkürlichen, von Person zu Person wechselnden Auffassung im Gegensatz zu dem echten, gültigen, sachlich begründeten Erkennen ist hier also nicht die Rede. Es gibt gar kein objektiveres, d. h. den Zufälligkeiten des Subjekts mehr entzogenes Bild des Seins als dieses, das die Wirklichkeit mit den wissenschaftlichen Begriffen von ihr identisch setzt. Es ist also nicht die Vorstellung überhaupt, nicht der seelische Prozeß bloß als solcher, der für Kant das Sein in seinem naiven oder metaphysischen Aufgefaßtwerden verdrängt, sondern das Vorstellen der Erfahrung und Wissenschaft; nicht einfach das Bewußtseinsbild des Gegenstandes tritt an die Stelle des Gegenstandes, sondern ein intellektuell geprüftes Bild, das theoretisch gültige Bewußtsein, das jede Einzelheit erst akzeptiert, wenn es sie als notwendig begreift.

Ich habe früher auf den Tiefsinn hingewiesen, mit dem Kant die innerlichste Einheitsform des Ich und die Gegenständlichkeit der Dinge in einen Begriff faßt. Liegt hierin jene tausendfach bewährte Korrelation zwischen dem Subjektivsten und dem Objektivsten, die Entwicklungsformel des Geisteslebens, die von allen mittleren Zuständen aus pari passu diesen beiden Polen zustrebt – so bewährt sich eben dieselbe nun auch in einem negativen Sinne. Das Ich ist nur noch der Punkt, in dem alle Elemente der Erkenntniswelt sich treffen, der Träger oder das Gegenbild des theoretisch erfaßbaren Daseins; eigentlich existiert nur der gleichsam freischwebende Komplex unsrer Erkenntnisse, und das Ich wie das Objekt sind nur Ausdrücke für die einheitliche Form, in der diese sich darbieten. Das Ich als Persönlichkeit, die dem erfaßbaren Dasein gegenübersteht, die subjektive Innerlichkeit, die von sich aus erst ein Verhältnis zur Wirklichkeit sucht – ist dieser theoretischen Philosophie fremd. Aber ebenso fehlt in ihr, so sehr sie eine Philosophie der Objektivität ist, das eigentliche Problem des Daseins überhaupt, das lyrischer gestimmte Philosophen im tiefsten erregt. In Spinoza, der alle Dinge in die Substanz, d. h. in das absolute Sein auflösen will, ist ein unstillbarer Durst nach Sein, er perhorresziert alle qualitative, singulare Bestimmtheit, weil sie Verneinung des absoluten Seins ist. Für Schopenhauer umgekehrt ist das Sein als solches das Böse und Unerträgliche. Beiden ist das Sein ein Wertbegriff. Kant aber kennt weder eine Leidenschaft dafür, noch ein Leiden an ihm und läßt es ganz jenseits seiner Problemstellung. Denn diese wird ihm durch die Naturwissenschaft gegeben, die nur eine Bestimmung des Seins durch eine andere, nur die Entstehung seiner einzelnen Formungen durch andere einzelne Formungen gesetzlich festgelegt. Die Tatsache des Daseins überhaupt ist einerseits so abstrakt, andererseits so sehr nur durch ein sozusagen metaphysisches Gefühl zu ergreifen, durch eine unmittelbare und eigentlich unmitteilbare Beziehung unsres Wesensgrundes zu jener Tatsache – daß die exakte Wissenschaft mit ihr nichts anzufangen weiß und sich vielmehr nur an die einzelnen Inhalte des Daseins und deren gegenseitige Verhältnisse hält. Für die Wissenschaft ist nichts an und für sich notwendig; es ist ohne weiteres vorstellbar, daß überhaupt keine Welt sei, oder daß, weil irgendein Punkt anders sei als er ist, auch alle andren variiert wären. Notwendig ist ein Ding – dies ist ein Hauptprinzip Kants – nur durch seinen gesetzlichen Zusammenhang mit einem andren, das als wirklich gilt; dieses ist wieder nur durch jenes oder durch ein drittes notwendig, mit dem es nach Gesetzen verbunden ist, u. s. f. ins Unendliche. Dies also ist nun schließlich die Einheit des Kantischen Weltbildes: das Aufeinanderhinweisen, Auseinanderfolgen, Miteinanderverbundensein aller Elemente der Wirklichkeit – weil sie eben nur dann der Wirklichkeit angehören, wenn der Verstand sie als der Erfahrung notwendig zugehörend begreift, d. h. in gesetzlichen Verbindungen, die schließlich jedes mit jedem in Beziehung setzen. Alle Erfahrung ist, wie Kant sich ausdrückt, »ein Inbegriff«; es gibt nur eine, d. h. eine in sich zusammenhängende Erfahrung, und darum ist die Welt, die nur in ihr oder als sie gültig existiert, eine einheitliche. Der Riß zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit, der die Welt durchzog und unversöhnlich zu sein schien, solange man in den unmittelbaren Eigenschaften, dem substanziellen Wesen beider einen Einheitspunkt oder eine Reduzierbarkeit suchte – ist nun mindestens keine prinzipielle Spaltung mehr. Denn ihre einzelnen Erscheinungen zeigen Regelmäßigkeiten, die sich allmählich induktiven Gesetzen ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge nähern; beide Reihen, den gleichen Grundsätzen der Beobachtung, Anordnung und Verknüpfung folgend, fügen sich so dem Zusammenhange der Erfahrung ein. Jedes einzelne Stadium dieser mag fragmentarisch und von Irrtümern durchzogen sein; aber ihrer Idee, ihrem Zielpunkte nach haben wir an ihr die sozusagen in den Dingen selbst vergebens gesuchte Einheit: die Gesetzlichkeit und den Zusammenhang des Erfahrens, durch das unser Intellekt jene zu einem geistigen Weltbilde gestaltet.

So also schließt sich dies Bild der Erkenntnis weit, das ich nun, im Übergange zu dem Kantischen Bilde von der Welt des Handelns, noch einmal in Kürze so charakterisieren möchte. Die Probleme Kants sind ihm nicht aus den Dingen, sondern aus den Meinungen über die Dinge gekommen. Auf der einen Seite treiben ihn die Widersprüche und Wirrnisse der Behauptungen über die Ganzheit des Daseins und dessen übersinnliches Wesen, auf der andern findet er, als die Erlösung aus diesen Unzulänglichkeiten der Meinungen die tatsächliche Wissenschaft, die Mathematik und die Erfahrung. Indem Bedrängnis und Befreiung so aus dem Verhältnis zu den Dingen in ihre intellektuelle Spiegelung transponiert wird, ersteht ihm als das entscheidende Interesse, das sein Denken zu begründen hat, nicht irgendein Sinn oder Wert des Daseins, sondern die Gültigkeit und Sicherheit der Erkenntnis. Und diese, in unsrem realen Wissen von der Natur unbezweifelbar enthalten, baut er auf, indem er die innere Organisation des Erkenntnisbestandes nachzeichnet. Aus dieser nämlich ergibt sich, daß alles Erkennen in der Formung sinnlich gegebenen Materials durch die Energien, die wir den Verstand (entweder im transvital-ideellen oder im psychologischen Sinne) nennen, besteht; und dies ist möglich, weil durch eben diese Formung überhaupt der Gegenstand der Erkenntnis zustande kommt. Aus den gegebenen Sinneseindrücken bilden wir erst diesen Gegenstand, und dies heißt, ihn erkennen; beides sind nur zwei verschiedene Ausdrücke für eine und dieselbe Sache, und eben deshalb müssen die Gesetze, nach denen unser Intellekt verfährt, die notwendigen Gesetze der erfaßbaren Dinge sein. Der potenziert theoretische Charakter seines Denkens: daß nicht die Gegenstände, sondern unser Wissen von den Gegenständen sein Problem bildet – drückt sich abschließend darin aus, daß das Objekt des Erkennens mit dem Erkennen des Objekts zusammenfällt. Aus dieser Grundüberzeugung erwächst, als ihr konsequenter und reinster Ausdruck, das Verhältnis zwischen dem innerlichsten Punkte der Erkenntnistätigkeit, dem Bewußtsein des mit sich immer identischen Ich, und der Tatsache des Objekts überhaupt: daß es für uns ein Objekt gibt, d. h. Zusammenhang und Einheit der Einzelqualitäten des Daseins, indem alle Einzelheiten in dem beharrenden Ich-Bewußtsein zusammengehen. Die Souveränität des Erkenntnisinteresses, als eine sachliche Souveränität des Erkennens auftretend, weiß gerade das Äußerste und Festeste des Objekts nur als eine Ausdrucksform der innerlichsten und unmittelbarsten Funktion des Vorstellens überhaupt zu deuten. Und über diese Leistung an den einzelnen Punkten der Welt hinaus gewährleistet ihre Intellektualisierung, genauer: ihre Verwissenschaftlichung, auch noch die Einheit ihres Gesamtbildes. Daß jeder Punkt des Daseins mit jedem verständlich zusammenhängt, bedeutet nun nichts andres, als daß eine Wissenschaft – denn die Gleichheit der Prinzipien in allen Provinzen der Wissenschaft macht sie schließlich zu einer einheitlichen – die Gesamtheit der Erscheinungen umfaßt. In der Beschaffenheit der Dinge selbst sucht Kant keinen metaphysischen Treffpunkt oder übergreifende Einheit; aber indem die Intellektualität sie aufnimmt und zu den Zusammenhangen der Erfahrung verarbeitet, werden nun ihre wissenschaftlichen Bilder von dem Zentrum der Erkenntnis aus organisiert und formen einen Kosmos – nicht einen Kosmos des Daseins, sondern des Wissens. Und dieser schließt die Tatsachen der körperhaften ebenso wie die der seelischen Existenz, insoweit sie eben erkannt wird, gleichmäßig ein; denn durch ihr Erkanntwerden sind sie gleichmäßig Teile der einen, in sich kohärenten und von denselben Normen bestimmten Erfahrung. Dies ist der höchste Triumph der Intellektualität: daß sie, die eine geistige Funktion ist, den Geist selbst sich untertänig macht. Die wissenschaftliche Erfahrung ist damit der Drehpunkt der Welt überhaupt geworden, da sie nun auch das seelische Dasein, dessen Zusammenhang mit dem physischen kein auf den Inhalt dieser Existenzen gerichtetes Denken ergründen konnte, in seine einzelnen erfahrbaren Erscheinungen aufgelöst und sie und die physischen in die gleiche Beobachtbarkeit und in die Gleichheit der wissenschaftlichen Regeln hineingezogen hat. Für den Standpunkt der Intellektualität ist die wissenschaftliche Erfahrung von den Dunkelheiten und Verwirrungen der unmittelbar oder metaphysisch erfaßten Welt frei; und da es nun undenkbar ist, daß die Welt an dieser Freiheit nicht teil habe, so ist sie selbst nichts andres, als eine Summe vom Verstande geformter Vorstellungen. Der Kantische »Idealismus«, für den die Dinge die Produkte des Verstandes aus dem Material der Sinne sind, erscheint so als die letzte, keinen Rest mehr lassende Konsequenz der wissenschaftlich-intellektualistischen Wesensrichtung.



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