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Der Grundmangel der Freiheitslehre Kants liegt in dem bereits hervorgehobnen, daß jenes transzendente Wesen unser selbst, das der Erscheinung und deshalb der Kausalität enthoben ist, in einem Mittelzustand zwischen Unerkennbarkeit und Erkennbarkeit schweben bleibt. Denn ohne irgendein Maß der letzteren wäre gar kein Urteil über den sittlichen Wert eines Tuns, nicht einmal ein unsicheres und hypothetisches, möglich. Es gibt aber auch nicht den kleinsten Schritt in die Erkennbarkeit hinein, der nicht sofort die Freiheit aufhöbe. Es ist deshalb für sie äußerst bedrohlich, daß unser empirisch erscheinendes Handeln der Ausdruck, das Symbol, das Erkennungszeichen unsres nicht erscheinenden freien Wesens-an-sich sein soll; »ein andrer intelligibler Charakter« – so nennt Kant eben dieses Transzendente in uns – »würde einen andren empirischen Charakter ergeben haben«. Nun ist unser empirischer Charakter, die psychologische Tatsächlichkeit unsres Handelns, in die ununterbrochene Kausalreihe des Weltgeschehens verflochten. Ist also unser Handeln in jedem Falle die adäquate Äußerung einer ihm entsprechenden Freiheitstat, mathematisch gesprochen: die Funktion dieser – so folgt durch einen unvermeidlichen Rückschluß, daß auch diese transzendente Freiheitstat, der intelligible Charakter, von jeher festgelegt sein muß; diese Reihe hat keinerlei »Freiheit«, anders zu verlaufen, als sie tatsächlich, aus ihrer Parallelität mit jener berechenbar, verläuft. So scheint also nur die Wahl zu bleiben: entweder zwischen dem intelligiblen und dem empirischen Charakter ein variables Verhältnis anzunehmen, was Kants ausdrücklicher Versicherung wie der Möglichkeit moralischer Urteile widerspricht, oder die Freiheit unsres transzendenten Wesens preiszugeben.
Kant deutet allerdings noch einen Ausweg an, der aber in die unzugänglichen Tiefen mystischer Spekulation weist. Die kausale Notwendigkeit der empirischen Erscheinungen setzt gegebene Weltelemente und bestimmte Konfigurationen derselben voraus, von denen ausgehend die künftigen Schicksale dieser Elemente an der Hand der Naturgesetze als notwendig bestimmt werden können. Diese letzteren sagen also niemals schlechthin aus, daß dieses und jenes zu geschehen hat, sondern sind nur auf eine gegebene Konstellation des Daseins anwendbar, welche zwar auf immer weitre und weitre zurückgeführt werden kann, deren Elemente aber ihrem Wesen nach nicht weiter kausal herzuleiten sind. Wenn nun das, was Kant den empirischen Charakter nennt, die unveränderliche Wesensart der Seele, aus der ihre einzelnen Handlungen so folgen, wie Wirkungen eines Körpers aus seiner chemischen Struktur – wenn dies zu jenen ursprünglichen Weltelementen gehört, möglicherweise vor seiner seelischen Form in andrer existierend, jedenfalls aber als sozusagen vorzeitlich gegebne Tatsache ein Materialstück der zeitlichen Kausalreihe ausmachend – so wäre dessen ursprüngliche Beschaffenheit frei, aus keiner vorhergehenden Ursache herleitbar und würde sich dennoch in seinen Entwicklungen und einzelnen Erscheinungen dem naturgesetzlichen Lauf der Erfahrungswelt völlig einfügen. Dies wäre der abstrakte Ausdruck des Gefühls, das so oft unser praktisches Dasein begleitet: daß wir, da wir nun einmal so und so beschaffen sind, unvermeidlich so und so handeln, daß aber diese Beschaffenheit selbst einen Wert oder Unwert besitzt, der ohne eine zum Grunde liegende Freiheit undenkbar ist. Als ursprüngliches, also unzeitliches Weltelement erfaßt, ist unsre Qualifikation der Bestimmtheit durch Vorhergegangenes enthoben, die dann jede Einzeltat, aber unter Voraussetzung jener Qualifikation, beherrscht. Die Ausdrücke, deren Dunkelheit und Schwierigkeit Kant selbst zugibt, daß die Taten eines Menschen »zu einem Phänomen seines Charakters gehören, den er sich selbst verschafft«, und ähnliche, scheinen mir nur diese Deutung zu ermöglichen, deren Drehpunkt es ist, daß die Elemente der kausalen Entwicklungen nicht selbst wieder kausal bestimmt sind und daß damit also auch das kausal Notwendige die Freiheit seines an-sich-seienden Wesens zu Lehen tragen oder symbolisieren kann. Freilich, diese einzige Möglichkeit, die Naturgesetzlichkeit unsrer empirischen Erscheinung mit der Freiheit ihrer nichterscheinenden Innerlichkeit zu vereinen, möchte gerade die Unmöglichkeit dieser Vereinigung aufs stärkste beweisen.
Eine letzte Schwierigkeit endlich in dem Verhältnis von Erscheinung und Ding-an-sich, insoweit es sich als das Verhältnis zwischen unsrer psychologischen Wirklichkeit und unsrer Freiheit darbietet – erhebt sich aus der Wertverschiedenheit beider Kategorien, aus dem vorhin dargestellten Zusammenhang, der die Freiheit nicht als ein indifferentes Vermögen über unsrem Gut und Böse schweben läßt, sondern sie von vornherein mit dem Guten identifiziert. Hierin versteckt sich ein höchst denkwürdiges Raffinement des Intellektualismus, das Kant einmal bei andrer Gelegenheit so formuliert: wenn es einen Endzweck der Natur gebe, so könne er nur in vernünftigen Wesen liegen, weil nur diese die Idee eines Endzwecks zu erfassen vermöchten. Er setzt also ganz unbefangen voraus, daß die besondere Erkenntniskraft, welche die Vorstellung einer gewissen Wirklichkeit vermittelt, ebendeshalb auch den objektiven Inhalt dieser Wirklichkeit ausmachen müßte. Weshalb der Endzweck der Natur nicht in Wesen liegen könnte, die nur durch ihr Sein, nicht aber durch ihr begriffliches Wissen um diese Würde zu ihr qualifiziert sind; weshalb die Fähigkeit, diesen Begriff zu bilden, den geringsten Anspruch darauf, ihn auch real darzustellen, verleihen sollte – ist logisch nicht einzusehen. Die Kantische Vorstellung überspannt den Idealismus, für den die Sache mit der Vorstellung von ihr identisch ist, dahin, daß allein die Fähigkeit eines Wesens, eine bestimmte Idee intellektuell zu fassen, ihm den Rechtstitel, sie an sich selbst zu verwirklichen, verleihe. Eben dieses Prinzip nun beherrscht seine Freiheitslehre. Da die Freiheit eine Idee der reinen Vernunft ist und niemals von unsren sinnlich-empirischen Erkenntniskräften erfaßt werden kann, so könne sie auch nur an dieser Vernunft ihre Wirklichkeit gewinnen, und so könne unser transzendentes Wesen sich nie an unsrem sinnlichen Wesensteile zeigen. Zwischen der Freiheit und der kausalen Bestimmtheit besteht also der Wertunterschied wie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit.
Dies aber verwickelt uns in unüberwindliche Schwierigkeiten. Wie kann das sinnlich bestimmte Handeln sittlich verwerflich sein, wenn es nicht die Äußerung der Freiheit ist, wenn nicht auch in ihm also der eigentliche autonome Kern unsres Wesens lebt? Wie wäre eine Verantwortlichkeit denkbar, wenn wir nur frei wären, das Gute zu tun, das Böse aber – da dies für Kant mit dem sinnlich Bestimmten zusammenfällt – der mechanischen Naturnotwendigkeit anheimfällt? Der Mensch, so drückt sich Kant wörtlich aus, »maßt sich eines Willens an, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört.« So wäre also doch das Ding-an-sich, das unser erscheinendes Handeln bestimmen sollte, nicht die Grundlage des Ganzen, nicht aller Handlungen, sondern nur derer, die dem sittlichen Imperativ gemäß sind? Aus diesen Widersprüchen ist nicht herauszufinden. Man kann nicht eine Freiheit behaupten, die uns für Gutes und Böses gleichmäßig haftbar machte, und sie zugleich auf diejenige seelische Energie beschränken, aus der allein das Gute hervorgehen kann. Es ist danach weder zu begreifen, wie der intelligible Charakter eines Menschen etwas zu wünschen übrig lassen kann, noch wie sein empirischer Charakter irgendeinen Wert besitzen kann. Die Identifizierung unsres an sich seienden, nicht erscheinenden Wesens, in dem die Freiheit ruht, mit der Vernunft und die der Vernunft mit der Sittlichkeit drängt zu der grauenhaften Konsequenz, daß alles Verständliche und Erklärbare an den menschlichen Handlungen verständlich und erklärbar nur durch die Zurückführung auf selbstsüchtig-unsittliche Triebfedern ist.
Der extreme sittliche Idealismus, der unser transzendentes, den natürlichen Verkettungen enthobenes Sein als das allein wertvolle empfindet, oder umgekehrt: der allem Guten in uns seine Heimat in der absoluten Innerlichkeit unsres Wesens, in dem, was wir wirklich sind, jenseits aller Flüchtigkeit unsrer Erscheinung anweist – dieser Idealismus hat die unvermeidliche Kehrseite, daß alles Sichtbare und Erkennbare an uns zunächst der bloßen Gleichgültigkeit des sinnlich wahrgenommenen Naturmechanismus anheimfällt. Und nachdem dies feststeht, läßt sich Kant – das ist ein Angelpunkt seines ganzen ethischen Weltbildes – durch die Doppelbedeutung des Wortes »sinnlich«, nämlich in theoretischer und in praktischer Bedeutung, verführen, nur diejenigen Tatsachen für empirische, d. h. für sinnlich erkennbare zu halten, die sinnlich – in der praktischen Bedeutung des Wortes – bestimmt sind. Er wiederholt damit an diesem Begriff denselben intellektualistischen Irrtum, den ich oben an dem Begriff der Vernunft betonte. Was sinnlich wahrnehmbar sei, könne – bei seelischen Objekten – auch seinem eignen Wesen nach nur sinnlich sein; da wir aber bei allem, was mit Sinnlichkeit zu tun hat, abhängig, also unfrei und zugleich von der Quelle der Sittlichkeit entfernt sind, so hat dieser Sittlichkeitsbegriff die Folge, daß alles empirisch erkennbare Handeln der Menschen nur auf sinnlich-unmoralische Triebfedern zurückgehen kann – für die wir aber doch zugleich nicht verantwortlich sein können, weil sie die Freiheit ausschließen. Hier begegnen sich noch einmal alle Motive der Kantischen Ethik, aber nur gerade so, daß dieser Zusammenschlag ihre Diskrepanz in das hellste Licht stellt; man braucht diese Fäden nur über den Punkt innerhalb jedes hinaus, an dem Kant sie notdürftig verknüpft hat, zu verfolgen, um sie nach ganz unvereinbaren Richtungen verlaufen zu sehen.
Der Sinn solcher Kritik kann aber nicht in der kleinlichen Genugtuung liegen, Kant »innere Widersprüche« nachzuweisen, sondern hier, wo es sich um seinen Freiheitsbegriff handelt, nur in der Anregung, dasjenige Verständnis dieser so glänzend einsetzenden Theorie zu suchen, das ihr einen Wert durch die Widersprüche ihrer dargelegten Konsequenzen hindurch rettet. Mir scheinen diese Widersprüche im wesentlichen aus derselben Quelle wie die des Ding-an-sich-Begriffes überhaupt zu stammen: daß aus einer bloßen Funktion eine Substanz geworden ist. Kant selbst scheint mir in einer Schrift, die vor seinem ethischen Hauptwerk liegt, den erlösenden Gedanken auszusprechen: gleichviel, ob der Mensch frei ist oder nicht, er müsse handeln und sich beurteilen, als ob er frei wäre. Die Freiheit ist also nur eine Maxime der Beurteilung, gleichsam ein Hilfsbegriff, ohne den wir die praktisch erforderlichen Urteile über Gut und Böse nicht fällen könnten. Wie wir nun einmal zu denken gewohnt sind, hat das Gute nur dann für uns sittliche Bedeutung, wenn wir die Möglichkeit des Bösen daneben vorstellen; und entsprechend das Böse. Diesen Zug moralischer Urteile, der rein innerhalb ihrer Sphäre verbleibt, drücken wir damit aus, daß wir uns Freiheit, statt des einen das andere zu tun, zusprechen. Wir sollen in einer bestimmten Weise handeln und der Sinn dieses Sollens fordert die Voraussetzung, daß wir auch so handeln können (womit freilich das Kraftgefühl des ausgehenden 18. Jahrhunderts, dem nichts unerreichbar schien, sich naiverweise in eine begriffliche Notwendigkeit umdeutete). Dies bezeichnet aber nur die innere Struktur des Sollensbegriffes, und die Freiheitsidee stellt diese funktionelle Bestimmtheit seiner gewissermaßen verselbständigt dar. Indem Kant die Freiheit als ein positives, produktives Vermögen anspricht, das in unsrer übersinnlichen Realität ruhe, dementiert er seine eigne Behauptung, daß wir die Freiheit »nur in praktischer Hinsicht« brauchen, d. h. daß sie nur der abstrakte Ausdruck für unsere Art ist, das Leben zu führen und zu beurteilen. Die substanzialistische Ansicht, daß die Freiheit gleichsam etwas für sich wäre, daß die übersinnliche Enthobenheit vom Kausalgesetz eine Existenz unser bezeichnete, von der die sinnliche eine Erscheinung wäre, – ist ein Rückfall in den typischen Denkfehler, der z. B. aus den Zweckmäßigkeitsbeziehungen innerhalb der Natur einen zwecksetzenden Gott außerhalb ihrer schafft. Daß die eine Bedeutung der Freiheit: als einer Interpretation des inneren sittlichen Lebens – in die andere übergeht, in der dieser nur regulative Begriff zu der metaphysischen Substanz unsres Dinges-an-sich erstarrt, reißt unsere ganze Existenz in jene unbarmherzige Zweiheit auseinander, die nur die Wahl läßt: entweder auch das Böse in den letzten Wesensgrund unsrer Existenz aufzunehmen – was für die Vernunftmoral inkonsequent ist –, oder diesem nur das Gute zu vindizieren, wodurch die empirische Wirklichkeit des Lebens darauf verzichten muß, seinem transzendenten Grunde zu entsprechen. Wird dagegen die Freiheit wirklich konsequent als ein nur regulatives Prinzip gefaßt, so braucht sie sozusagen nicht innerhalb unsrer realen Wesensbestandteile lokalisiert zu werden, weil sie überhaupt nicht als konkrete Kraft besteht und also auch keinen Ort braucht. Damit entfällt ihre Beschränkung auf das vernünftig-sittliche Handeln und die leidige Notwendigkeit, das sinnlich-bestimmte ihrer Wirksamkeit zu entziehen.
So ist die Freiheit eine bloße Idee, nicht aus unsren Wertungen und Wollungen heraustretend und doch die allgemeine Voraussetzung oberhalb jeder einzelnen, jenem Gebiet mannigfacher Gültigkeitsarten angehörig, das auch die sogenannten »Naturgesetze« im Verhältnis zu den einzelnen Vorgängen, die bürgerlichen Gesetze im Verhältnis zu den einzelnen Handlungen der ihnen Unterstehenden einschließt – und damit entgeht sie der groben Alternative, daß wir sie entweder haben oder sie nicht haben. Sobald Kant der rein regulative Sinn der Freiheit entgleitet, fällt er in diese Alternative und nagelt die Freiheit an unsrem übersinnlich-realen Ding-an-sich fest. Wo er aber jenen und damit die reinere, nur funktionelle Bedeutung des Ding-an-sich-Begriffs festzuhalten weiß, eröffnet er die tiefste Deutung jener sittlichen Freiheit, von der meine Darstellung seiner Ethik anhob. Daß der Mensch dem Gesetze gehorche, das er selbst sich gibt und in das nichts der Persönlichkeit Äußeres hineinwirken darf – Sinnliches so wenig wie Traditionelles, Religiöses so wenig wie Soziales –, das erschien als Sinn und Wesen aller Sittlichkeit. Das ist die Freiheit ihrem Wertbegriffe nach, die Bedingung aller inneren Bedeutung unsres Handelns. Und wenn nun andrerseits die Möglichkeit der Freiheit in unsrem übersinnlichen Sein ruhen soll, so ist dies doch wohl nur die metaphysische Spiegelung jener Überzeugung, daß Freiheit ein Sich-selbst-gehören ist, ein Abschütteln alles dessen, was zur Schale statt zum Kern gehört. Daß wir in der Freiheit und durch sie ganz und allein wir selbst sind, kann nicht radikaler ausgedrückt werden, als durch ihre Verlegung in das transzendente Substrat unsrer Erscheinung; denn alle angebbaren Einzelheiten, die diese zusammensetzen, sind immer noch als ein Kompromiß unsres Ich mit der Außenwelt, mit seinen zufälligen Schicksalen, mit dem ganzen gegebnen Material des Lebens aufzufassen; an dem Punkt, wo wir wirklich rein uns selbst gehören, d. h. völlig frei sind, muß deshalb all dies Empirisch-Einzelne abgestreift sein. In dem Grundbegriff der eigengesetzlichen Persönlichkeit also fallen der ethische und der metaphysische Sinn der Freiheit zusammen. Damit aber ist gesagt, daß auch der letztere nicht ein ruhendes Sein bedeutet, sondern genau wie der erstere eine im Unendlichen liegende Aufgabe, einen idealen Zielpunkt, den wir, wie alle seinesgleichen, weder schlechthin haben, noch schlechthin nicht haben. Solange wir empirische Wesen sind, haben wir die Freiheit, das Wir-selbst-sein, immer erst zu erringen – und nichts andres als ein Ausdruck hierfür ist es, daß ihr Besitz in unser transzendentes Teil verlegt wird: wie ich es früher von dem Ding-an-sich im theoretischen Sinne sagte, bedeutet seine Setzung zugleich seine Versagtheit für uns. Die Freiheit hat den rein funktionellen Sinn, die Art und Norm unsres sittlichen Bestrebens durch einen besonderen Begriff, durch eine Kristallisierung seines Zieles zu bezeichnen – wie das theoretische Ding-an-sich eine bestimmte Qualifikation des empirischen Erkennens bedeutet. Wie dieses ist sie ein »Grenzbegriff«, nur daß er nicht, wie im theoretischen Falle, die Beschränkung unserer Energien markiert, sondern umgekehrt die ins Unabsehliche gehende Erweiterung derselben. In dem einen wie in dem andren Falle aber war der Grenzbegriff zu einer selbständigen Existenz jenseits der Grenze erstarrt, aus der er erst wieder gelöst werden muß, nicht, um aus seiner Höhe herunterzusteigen, sondern um durch seine Funktion an der Wirklichkeit erst seine Höhe zu erweisen, für die seine Verlegung in das Jenseits keinen Sinn und keinen Maßstab übrig ließ.
Und damit schließt sich der Kreis der Freiheitsbedeutungen: sie weist die Richtung, in der unser Handeln, insoweit es wertvoll ist, sich bewegt, dies Handeln, das sich so als der unendliche Weg zu uns selbst enthüllt; und unsere Praxis und unser praktisches Urteilen, das auf die Vollendung dieses Weges nicht warten kann, antizipieren sie mit jenem eigentümlichen Regulativ: wir handeln und beurteilen uns und andere, als ob wir schon frei wären, als ob jede Handlung aus dem auf sich allein ruhenden Punkte des Ich quölle, dem kein Außer-Ihm mehr seine Verantwortung abnimmt. So gehört also auch die Freiheit in jenen Bezirk regulativer Begriffe, über den erst Kant volle Rechenschaft gegeben hat und in dem die Freiheit sich mit ihrem Gegenpol, dem Kausalgesetz, zusammenfindet. Denn auch von diesem hatte sich ergeben, daß es trotz – oder wegen – seiner apriorischen Herrschaft über das Erfahrungsgebiet innerhalb dieses niemals absolut rein und absolut sicher verwirklicht ist, sondern es beherrscht die wirkliche Erkenntnis wie aus der Ferne, so daß sie sich seinem vollen Gültigkeitsmaß nur ins Unendliche nähert. Wie die Herrschaft der sittlichen Freiheit im Praktischen nur am Sinnenstoff vor sich gehen kann – auf einen Gott wäre ihr Begriff nicht anwendbar –, der doch gerade ihre absolute Realisierung verhindert, so beschränkt ebenderselbe im theoretischen Sinne die reine Wirksamkeit des Kausalgesetzes, das doch seinerseits nur durch ihn verhindert wird, zu einem leeren, spielerischen Schema zu werden. Und so gewinnt die Vollendung der Seele auch nach der Seite des Glücks, so erreicht die geschichtliche Kultur, so der Weltprozeß überhaupt auch für den kleinsten ihrer Schritte eine Dirigierung und ein Maß von Befriedigtheit nur dadurch, daß sie einem Ideal von absoluter Vollkommenheit zustreben. Und dies ist nicht, was Ideen sonst so häufig in der Geschichte des Geistes gewesen sind, entweder ein fremdes und traumhaftes Absolutes, das unberührbar über der Welt der Wirklichkeiten schwebt, oder eine unnütze Verdoppelung der aus dieser gezogenen Begriffe, sondern ist der innere Sinn der Dinge, unsres Verständnisses wie unsres praktischen Behandelns ihrer, der durchaus nicht als eine metaphysische Wirklichkeit aus ihnen heraustritt, und von dem doch jedes Stadium nur als Glied einer über es selbst hinausführenden Entwicklung Gültigkeit besitzt. Wir können dies nicht anders bezeichnen als so, daß ein Ideal, dem sie zustreben, sie mit ihrem jeweiligen Wertmaß ausstattet. Für den fragmentarischen Charakter des Lebens und des Wissens einen Sinn suchend, empfinden wir oft, daß wir dazu besitzen müßten, was wir nie ganz besitzen werden, und dahin gelangen müßten, wohin zu kommen uns versagt ist. Die »regulativen Begriffe« in ihren mannigfaltigen Arten und Abstufungen erlösen uns ebenso aus dem leeren Idealismus wie aus dem resignierten Naturalismus, die uns von jenem Gefühl aus bedrohen. Denn indem sie uns berechtigen, zu leben und zu forschen, »als ob« wir die absoluten Ziele erreichen könnten, »als ob« die absoluten Normen gälten – retten sie den ganzen Wert des Absoluten und Transzendenten in seine Funktion hinein, Sinn, Ordner und Wegweiser des Relativen und Empirischen zu sein. In dieser funktionellen Bedeutung des Überempirischen vollendet sich der Grundgedanke der Kantischen Weltdeutung, die doch wohl darauf hinausgeht, die seelischen Elemente nach ihren Sonderfunktionen und Sonderrechten aufs strengste zu trennen, um sie dann wieder – der, wenngleich nicht ganz erreichbaren Absicht nach – zu der Einheit der Wirklichkeit zusammenwirken zu lassen. Niemals hatte sich das verstandesmäßige Apriori so scharf von dem Wahrnehmungsmaterial geschieden – aber gerade dadurch konnten beide in Gemeinsamkeit die eine, allumfassende Erfahrung produzieren; niemals war das Ich so entschieden gegen alle seine Einzelinhalte isoliert worden – aber diese letzteren entbehren allen Sinn und Bedeutung ohne die Einheit, die ihnen die Einheit des ersteren verleiht, diese Einheit, die ihrerseits wieder nur an jenen und als ihre Form eine Existenz gewinnt; nie war die egoistische Glückseligkeit so kompromißlos dem Pflichtgebot entgegengesetzt worden – und doch erhoben sich nur aus der unaufhörlichen Überwindung der einen durch das andere alle sittlichen Werte, die bei dem Wegfall der Gegeninstanz nicht mehr in der für Menschen möglichen Form bestehen könnten; niemals hat eine Philosophie, die die Ideen des Überempirischen und die Verabsolutierung der theoretischen und praktischen Normen nicht schon in sich für unsinnig erklärt hat, ihnen so radikal allen Erkenntniswert abgesprochen – und doch zeigt sich, daß sie, selbst nicht erkennend, doch die Normen des Erkennens sind, wie der Wegweiser den Weg nicht selbst geht, den der Wandernde ohne ihn nicht finden würde. In dieser Tendenz, die Elemente gegeneinander aufs äußerste zu verselbständigen, um sie auf Grund dieser Sonderung zu einer um so engeren organischen Wirkungseinheit zusammenzuführen, offenbart sich die weltgeschichtliche Tendenz der neuzeitlichen Differenzierung, die die trüben, unbeholfnen Produktionsverschmelzungen früherer Epochen aufhebt und jedes Element zu der ganz arbeitsteiligen, mit keiner andren verwechselbaren Leistung führt. Dies aber gerade ist es, was die Individuen unvergleichlich enger aufeinander anweist und was nun erst eine vollkommene und erfolgreiche Einheit der Gesamtarbeit gewährleistet – wie die von Kant angebahnte Scheidung unsrer inneren Energien die Bedingung bildet, ihre Einheit auf höherer Stufe wiederzugewinnen.