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Achte Vorlesung.

Daß der Gegenstand der bisherigen Ausführungen – deren Inhalt man als die theoretische Philosophie Kants zu bezeichnen pflegt – nicht die Wirklichkeit schlechthin ist, sondern nur das Erkennen der Wirklichkeit, und zwar nur der naturwissenschaftlichen, in der Erfahrung und Berechenbarkeit gegebenen Wirklichkeit – dies weist das philosophische Interesse auf weitere Objekte, die jenseits dieser Begrenzungen gelegen sind. Da wir das Dasein nicht nur mit dem Verstande erkennen, sondern auch mit dem Willen gestalten, so stellt sich neben die philosophische Theorie des Erkennens die Theorie des praktischen Handelns.

Noch von einem andren Begriff her zeigt sich, daß die Kategorien, die unser empirisch-natürliches Bild der Dinge beherrschen, keineswegs die einzigen sind, unter denen der Inhalt der Welt uns erscheint. Wir fragen nicht nur nach der Wirklichkeit der Dinge und ihrer Beschaffenheit, sondern auch nach dem Werte derselben. Der Wert ist ein ursprüngliches, nicht weiter beschreibliches Gefühl, mit dem wir Vorstellungen begleiten: die indifferente Gleichmäßigkeit, mit der die bloß naturwissenschaftliche, bloß theoretische Betrachtung die Wirklichkeit ablaufen läßt, wird durch den Wert, seine Nuancen, seine Grade, seine Verneinungen ganz neu gegliedert. Und während jenes Bild des gegebenen Daseins für den Wert keinen Platz hat, die Natur vielmehr ebensooft das Wertvollste zerstört, wie sie das Wertloseste konserviert, ist umgekehrt der Wert gegen alle Wirklichkeit gleichgültig, und keine noch so unzweideutige Realität kann uns ein Wertgefühl oktroyieren, mit dem wir doch oft genug das bloß Gedachte, niemals Verwirklichte ausstatten. Diese fundamentale Tatsache des Wertens, ohne die ersichtlich unser ganzes seelisches Leben in unausdenklicher Weise abgeändert werden, ja stillstehen würde, ist vielleicht nur noch durch einen einzigen Begriff zu umschreiben: durch das Sollen. Das Wertvolle soll sein, sein Gegenteil soll nicht sein. Diese Deckung der beiden Begriffe gilt besonders für eine Art des Wertes: für den sittlichen. Denn im Sollen empfinden wir eine Aufforderung, die gegenüber unzähligen Werten: der Schönheit, der Kraft, der Harmonie des Daseins – nur indirekt verwertbar ist, die aber ihren eigentlichen Sinn bewährt, wo das Handeln des Menschen, der Gegenstand des sittlichen Urteils, in Frage steht. Kant ist, wo er nicht als Erkenntnistheoretiker spricht, seiner ganzen Denkart nach Moralist, d. h. er erkennt den Wert eigentlich nur in seiner moralischen Form an. Von dem natürlichen Sein, jenseits der menschlichen Praxis, lehnt er alles Sollen ab: es sei ganz sinnlos, zu fragen, welche Eigenschaften ein Kreis haben solle; in der Natur gebe es nur Sein, aber nicht Sollen. Daß ihm so der Gedanke, der kausal bestimmten Natur einen positiven oder negativen Wert zuzusprechen, als ein Widersinn erscheint, offenbart die beiden Punkte, in denen Kant den Gesinnungen des modernen Menschen fremd geworden ist: seinen mechanistischen Naturalismus, der alle metaphysische Bedeutung der Natur ablehnt und sie als ein bloßes Rechenexempel drückender, anziehender, stoßender Kräfte anerkennt – und seinen einseitigen Moralismus, der Werte nur soweit zugibt, wie sie moralisch oder auf moralische reduzierbar sind. Es ist von großem, geistesgeschichtlichem Interesse, wie diese beiden, scheinbar einander sehr entgegengesetzten Züge in ihm eine vollkommene Einheit der Weltanschauung bilden und ihre Einheit von neuem daran bewähren, daß die Gegenwart gerade nach einer Synthese ihrer Gegensätze strebt, nach einer Einordnung auch des moralischen Wesens in die kausale – naturwissenschaftliche oder historische – Betrachtungsweise und dafür nach einer Überwindung des Naturalismus durch ein mehr oder weniger metaphysisches, d. h. nach Wertbegriffen geordnetes Weltbild – gleichviel, ob dieses Bestreben vorläufig eine unerfüllte und oft genug unklare Sehnsucht geblieben ist. Indem Kant allen Wert auf das menschliche Handeln beschränkt, vereint er also in der Betrachtung eben dieses, in der Ethik, die beiden Kategorien – Praxis und Wert –, die ein äquivalentes Seitenstück zu der Betrachtung des Naturerkennens formen können.

Wie Kant bei der letzteren von einer zweifelsfrei hingenommenen Tatsache ausgeht: von der vorliegenden Wissenschaft – so in der Ethik von einer entsprechenden: von dem vorliegenden sittlichen Bewußtsein der Menschen. In beiden Hinsichten fehlt ihm ganz die grundstürzende Tendenz, die die Tatsächlichkeiten selbst umgestalten will; nur das Erkennen der einen wie der andren gilt es ihm zu revolutionieren. Er lehnt die Zumutung ausdrücklich ab, eine neue Sittlichkeit einzuführen; nur auf eine »neue Formel« käme es ihm an.

Dennoch ist auch bei ihm die rein theoretische Heraushebung des Kernes der tatsächlichen Sittlichkeit von den praktischen Impulsen seiner geschichtlichen Situation abhängig. Diese war die Epoche der Französischen Revolution, in der die Freiheit als das Losungswort für alle Werterhöhungen des Lebens erschien. So gewinnt er in der philosophischen Vertiefung des Freiheitsbegriffs die Deutung für alles, was an dem menschlichen Wollen wertvoll ist. Daß ein Wille, der seinen Ursprung überhaupt jenseits seines Trägers hat: in blindem, urteilslosem Gehorsam, in der Unmündigkeit, in dem Bann der Furcht oder der Hoffnung – jenseits aller sittlichen Wertung steht, ist ihm von vornherein keine Frage. Das eigentliche Problem entsteht erst, wenn die Hemmungen der Freiheit in dem Subjekte selbst auftauchen, wenn Impulse, die zweifellos in den Bezirk des Ich hineingehören, doch diesem Ich zugleich einen Zwang antun, d. h. bewirken können, daß der schließliche Wille nicht mehr der reine oder freie Ausdruck der Persönlichkeit ist. Dies scheint ihm nun überall der Fall zu sein, wo der Wille ein in irgendeinem Sinne Gegebenes ergreift, um sich von diesem bestimmen zu lassen. Wo ein Objekt, bzw. unser Verhältnis zu ihm, den letzten Grund der Willensbewegung bildet, gehört diese nicht mehr sich selbst an. In dieser Hinsicht stehen Gott und die Schönheit irdischer Leiber, die Wissenschaft und die Champagnerflasche in der gleichen Linie – sie alle sind Werte, die der Seele selbst äußerlich sind, einer realen oder ideellen Ordnung angehörig, in der sie an sich außerhalb unsres Willens stehen und ihm deshalb, sobald sie ihn motivieren, die Freiheit nehmen. Denn frei erscheint ein Wesen doch nur, wenn seine Bewegungen absolut in ihm selbst entspringen; sie mögen sich auf äußere Gegenstände richten, aber ihr Ursprung, das Motiv, das sie überhaupt entfesselt, darf nur in dem eigensten Inneren ihres Subjekts selbst liegen, wenn die Forderung der Freiheit erfüllt sein soll. Jene Hemmungen der Freiheit faßt Kant in einem Gesamtbegriff zusammen: in dem Streben nach Glück. Wo nämlich der Wille durch die Vorstellung äußerer Objekte angeregt wird, ihre Wirklichkeit herbeizuführen, geschieht dies doch nur, weil wir von ihrer Wirklichkeit ein befriedigteres Dasein erwarten, als wir ohne sie haben, eine Wirkung auf unser Gefühl, die uns erwünscht ist und die wir Glück nennen. Alles Glück, zu dem der Wille überhaupt praktisch streben kann, liegt auf dem Wege über irgendeine Realität, die in uns die Glücksempfindung hervorruft. Unsere Innerlichkeit besitzt, nach Kants Überzeugung, das Glück nicht von sich aus – und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, wenn sie es besäße, so wäre es keine Aufgabe einer praktischen Willensbestrebung mehr. Vielmehr ist sie, um es zu fühlen, von einem ihr Äußeren abhängig, von einem Gegebenen oder einem erst zu Gewinnenden. So verflicht jede Glücksbestrebung uns in Abhängigkeiten und bricht unsre Freiheit, weil sie uns auf das zu hören zwingt, was außerhalb des Weges liegt, den die Seele nur von sich aus gehen würde. Der eigentliche Feind unsrer Freiheit also liegt in uns selbst; denn die Sehnsucht nach Glück ist »durch unsere endliche Natur selbst uns aufgedrungen«, ist ein Bestandteil unsres Seins und doch zugleich das, was dieses Sein von sich selbst entfernt und ihm damit den Wert raubt, den es sich allein, aus sich allein geben kann und den wir den sittlichen nennen. Wie der Idealismus, die Herrschaft des Geistes über die Wirklichkeit, im theoretischen Sinne nicht die gewöhnlich ihm zugeschriebene Bedeutung hatte: die Welt ist meine Vorstellung – sondern die Formung des in uns gegebenen Sinnenmaterials durch die zentrale Macht des einheitlichen Ich – so bedeutet die praktische Herrschaft des Ich, die Freiheit, für Kant nicht die Unbestimmtheit und Gesetzlosigkeit des Willens, sondern die formende Herrschaft desselben über den ganzen Stoff unsrer Triebe und Sehnsüchte, die schließlich doch immer auf ein sinnliches Glücksgefühl ausgingen. In diesem wie in jenem Falle hat die Souveränität der Seele nicht den abstrakten Sinn, der sie dem Sein überhaupt gegenüberstellte, sondern den relativen, daß dem tiefsten und entscheidenden Punkt in ihr die Führung und das Gestaltungsvermögen gegenüber all ihren Außenwerken und der ganzen Breite ihrer Oberfläche zukommt.

Der Weg dieser Überlegung, die von der ausschließlichen Wertung der Freiheit ausging, scheint sich der Gefahr eines doppelten Widerspruchs gegen das sittliche Bewußtsein, um dessen Deutung es sich doch nur handelte, zu nähern. Alle Sittlichkeit tritt uns als Forderung gegenüber, als ein Gesetz, das wir erfüllen sollen; wie aber kann der Wille, der in jener Ausschließlichkeit des Auf-sich-selbst-Hörens seinen absoluten Wert fand, ein sittlicher sein, d. h. einem Gesetz gehorchen, das doch nach unsrem Willen gar nicht fragt, diesem vielmehr ein unbarmherziges Sollen entgegenstellt? Und nicht nur ein Gesetz, das keinen unbeschränkten Gebrauch der Freiheit gestattet, ist das Wesen des Sittlichen, sondern dieses Gesetz muß ein allgemeines sein, weil die Isolierung des Ich, die seinem reinen und rücksichtslosen Sich-auf-sich-selbst-Stellen entspricht, dem tatsächlichen sittlichen Bewußtsein durchaus zu widerstreiten scheint. Dieses sagt uns, daß unser Wollen nicht nur sich an einem Sollen bricht, sondern daß dieses Sollen ein allgemeines, ein über jede bloß persönliche Form des Wollens und Sollens hinausgreifendes allgemeines Gesetz sei. Ja, beide Bestimmungen bilden für Kant eine logische, untrennbare Einheit. Daß eine Norm, die von dem Wollen des Individuums Erfüllung verlangt, also ein Gesetz, vielleicht für jeden einen besonderen, für keinen andren verbindlichen Inhalt haben könne, tritt überhaupt nicht in seine Erwägungen ein. Darin gehört er wiederum seiner historischen Situation an, deren ganzes Denken einerseits naturwissenschaftlich, andrerseits naturrechtlich orientiert war; die unpersönliche Strenge, die der Naturwissenschaft wie dem Recht eignet, färbte in höchstem Maße die Geistesart Kants. Der Begriff des Gesetzes aber, den die eine wie die andre ausbildet, ist ausschließlich der des allgemeinen Gesetzes. Ein Gesetz ist für Kant nur insoweit Gesetz, wie es überindividuell ist, wie es den einzelnen Fall dadurch normiert, daß es für alle einzelnen Fälle gilt. Wenn wir also über unsrem individuellen Wollen ein Sollen, ein forderndes Gesetz in uns als Tatsache und den Gehorsam dagegen als Bedingung alles sittlichen Wertes vorfinden – wie ist dies damit zu vereinen, daß dieser Wert in der Freiheit beruht, in dem Gehorsam nur gegen das eigenste Ich, in der Unablenkbarkeit des Willens durch alles, was nicht er selbst ist? Ersichtlich stehen wir hiermit an dem tiefsten Gegensatze innerhalb des Sittlichen. Freiheit und Gehorsam, Selbständigkeit des Individuums und Einordnung in ein Allgemeines kämpfen ununterbrochen innerhalb unsres Willens und um ihn; und zwar, was den Konflikt doppelt beängstigend macht, jede Partei in dem Zeichen sittlicher Würde, jede mit dem guten Gewissen, einen höchsten Menschenwert darzustellen.

Der letzte Sinn der Kantischen Ethik liegt in der Behauptung, daß dieser Zwist in Wirklichkeit gar nicht bestehe, die scheinbar unversöhnliche Zweiheit in ihrem tiefsten Grunde eine Einheit sei: der freie Mensch könne nur nach einem absolut allgemeinen Gesetz handeln, und umgekehrt, nur ein Wille, der dem Sollen gemäß ist, dürfe frei genannt werden. Während es zunächst scheint, als wäre jedes allgemeine Gesetz dem Individuum etwas Äußerliches, weil es, für alle geltend, an den Einzelnen von außen herantritt, ist Kants Grundmotiv, daß gerade dies allgemeine Gesetz jedem von innen kommt, in dem eigentlichen Quellpunkt der Persönlichkeit erzeugt wird. – In dieser kurzen und vorläufigen Form erscheint die Behauptung als einer jener philosophischen Machtsprüche, die eigentlich mehr eine Forderung an die Wirklichkeit, als eine Beschreibung dieser darstellen, Erzeugnisse eines ganz souveränen Gefühls, das unmittelbar und nicht erst nach Beweismöglichkeiten entscheidet. Und wirklich stehen die Beweise, die jene ethische Fundamentalbehauptung tragen sollen, an Kraft und Bedeutsamkeit weit hinter ihr selbst zurück. In viel höherem Maße als die theoretische Philosophie Kants macht seine ethische klar, daß die Widerlegung des Beweises noch nicht die Widerlegung der Behauptung ist, daß diese vielleicht nicht nur in Beweisen, die ihrem Schöpfer fernlagen, erst Bewährung finden, sondern ihre Bedeutung überhaupt jenseits von allen Beweisen besitzen könnte; denn sie hat vielleicht ihren Wert weit mehr als der Ausdruck einer tiefen und großen subjektiven Seele, denn als wissenschaftlicher Lehrsatz über ein objektives Verhalten der Dinge.

Kant führt die Ausgestaltung jenes Grundmotivs über die folgende Tatsache des sittlichen Bewußtseins, die zwar als Tatsache alltäglich und banal ist, in ihrer fundamentalen Bedeutung aber erst durch ihn begrifflich fixiert ist. Die Tat, die in die Außenwelt tritt, mag objektiv alle Bedingungen sittlicher Gesetze erfüllen: ob ihr ein sittlicher Wert des handelnden Subjekts zugrunde liegt, ist ihr dennoch niemals anzusehen. Wir alle wissen, daß die schlimmsten Motive der Eitelkeit und Heuchelei, Menschenfurcht und Angst vor dem eignen bösen Gewissen das genau gleiche äußere Tun hervorrufen können wie selbstlose Güte und begeisterter Idealismus; während andrerseits die Wirrnis der Schicksale aus den reinsten Willenstaten Erfolge entwickelt, die alle Bosheit nicht schädlicher, der sittlichen Ordnung der Dinge entgegengesetzter ausdenken könnte. Und während niemand prinzipiell bezweifelt, daß die sittliche Bedeutung der Handlung nicht an ihr, sondern an dem guten oder bösen Motiv des Willens zu ihr haftet, verfolgt Kant diese Spaltung zwischen Tun und Motiv nun noch in diejenigen Motivierungen selbst hinein, die sich unbezweifelt allgemeiner sittlicher Schätzung erfreuen. Es ist sehr schön, so meint er, den Menschen aus Liebe und Teilnahme Gutes zu tun, aus Freude an geordneten Zuständen ehrlich und gerecht zu sein, aus dem Instinkt der »schönen Seele« heraus, die nur im Sittlichen ihr Glück findet, jeden moralischen Anspruch zu erfüllen. Allein der echte sittliche Wert kann in all solchen Motivierungen noch nicht liegen. Denn sie sind zufällig. Eben dasselbe Befriedigungsgefühl, aus dem der eine seinen Mitmenschen wohltut, knüpft sich für den andren an ihre Ausnutzung und Mißhandlung; der Trieb, der uns heute zur Unterordnung unter Gesetz und Recht bewegt, kann, gleich stark, unser morgiges Glück in rücksichtslosen Egoismus und Zerstörung aller Ordnungen verlegen. Worin jemand seine Befriedigung findet, das hängt eben nicht von seinem Willen, sondern von seiner naturgegebenen Anlage ab; wenn der Wille also durch das Motiv der Gefühlsbefriedigung geführt wird, so mag diese Führung ihn zu dem Wünschenswertesten und Edelsten bringen – es ist kein Wert seines Willens, seiner Aktivität, den der Mensch so erwirbt, sondern ein Wert seiner Naturanlage, die er hinnehmen muß, wie Regen und Sonnenschein, und deren Vortrefflichkeit ihn nur in demselben Sinne wertvoll macht, wie die Rose schön ist, die man ästhetisch genießt, aber nicht ethisch schätzt. Die Zufälligkeit des Gefühlsinteresses ist das unmittelbare Gegenteil der Notwendigkeit, mit der das sittliche Gesetz uns gegenübertritt, sein passivistischer Charakter nicht weniger das Gegenteil des sittlichen Wertes, den der Mensch sich selbst geben, der das Werk seines Willens sein muß. Das Motiv also, dessen Herrschaft unsrem Handeln sittlichen Wert leiht, kann nie in einem Gefühl, selbst nicht in dem der Liebe, der Befriedigung am Sittlichen, der Lust an der subjektiven oder objektiven moralischen Tatsache liegen. So bleibt also nur eine einzige Motivierung übrig: die Handlung muß geschehen, nur weil sie sittlich, weil sie Pflicht ist; nicht weil sie das Mittel zu irgend etwas Außersittlichem ist, aber auch nicht, weil jene liebenswürdigen, aus dem Reiz des Guten entspringenden Gefühle sie motivieren. Um den Wert wirklich an das zu heften, was an ihr sittlich ist, bleibt keine Wahl, als daß sie ausschließlich durch ihre Sittlichkeit motiviert werde. Mit einem Worte: nicht das pflichtmäßige Handeln, sondern allein das Handeln aus Pflicht genügt dem sittlichen Anspruch.

Wenn das protestantische Prinzip den Glauben und die Gesinnung gegenüber den »guten Werken« betont, so hat es hier, wo der Wert der guten Gesinnung selbst sich darauf zurückzieht, daß sie auch rein um ihrer selbst willen besteht – so hat der Protestantismus insoweit durch Kant seinen vertieftesten philosophischen Ausdruck gefunden. Jenseits dieser historischen Entwicklung aber ist dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein, insofern es als Forderung und Gesetz auftritt, hier zum ersten Male die Schärfe einer ganz restlosen Formulierung geworden. Jedes Gesetz hat offenbar erst dann seine äußere Garantie in unsrer Praxis und seinen inneren Sinn in unsrer Seele gefunden, wenn es erfüllt wird, weil es eben Gesetz ist. Jede Erfüllung des Gesetzes aus unmittelbarem Interesse an dem, was es befiehlt, läßt es nicht nur unsicher, ob sein nächster Inhalt die gleiche Triebfeder finden wird, sondern macht überflüssig, daß es überhaupt Gesetz ist. Man befiehlt niemals jemandem etwas, was er schon unvermeidlich von selbst tut, äußert sich Kant; unvermeidlich aber tun wir – sobald nichts Innerliches oder Äußerliches uns hindert –, was wir gern tun. In Wirklichkeit tun wir nun vieles Sittliche gern: denn es binden uns unzählige Verknüpfungen des Gemüts und der sachlichen Interessiertheit an unsere Freunde und unsren Beruf, an unsren sozialen Kreis und die Gegenstände der religiösen Ehrfurcht. Insoweit wir aber unsre Pflichten gegen sie erfüllen, weil wir sie lieben, weil unser Lebensgefühl mit der Leistung an ihnen verbunden ist, weil unsere Interessen – und keineswegs nur die unmittelbaren, sondern unsre tiefsten und vitalsten, oft mit Aufopferung aller äußeren und vorläufigen – mit den ihrigen steigen und fallen – so ist es doch schließlich das Motiv des Glücks, das uns treibt; vielleicht nicht des niederen und sinnlichen, sondern jenes, das die Wurzeln unsrer Existenz nährt. Wenn aber nun diese Gegenstände unsrer Pflichten die Triebe zu ihrer Erfüllung in uns auslösen, bedarf es nicht der Pflicht als solcher, denn sie wird aus andren Motiven, als daß sie Pflicht ist, erfüllt. Entweder also tun wir unsre Pflicht, eben weil sie Pflicht ist und insofern völlig gleichgültig gegen die wechselnden Inhalte, deren Verwirklichung sie uns befiehlt, gegen Lust oder Leid, das uns von ihrer Verwirklichung kommen mag; oder diese Inhalte selbst veranlassen uns zu dem gleichen Tun, und damit scheidet das sittliche Moment als solches aus unsrer Motivierung aus und an seine Stelle tritt das Motiv des eignen Glücks. Ein dritter Grund der Erfüllung unsrer Pflichten ist an ihnen und im Bezirk unsrer Seele nicht zu finden – zum mindesten für Kants Anschauungsweise nicht.

Und nun ist endlich klar, warum die Freiheit des Menschen mit seiner Sittlichkeit zusammenfällt. Beide sind gleichmäßig der Ausdruck davon, daß der Mensch gegenüber den einzelnen Interessen und Reizen, die das Leben an ihn heranbringt, die volle Souveränität errungen hat. Wenn die Pflicht ihn bestimmt und nicht der Inhalt der Pflicht, so ist er damit absolut von innen her bestimmt; denn jede von außen kommende Triebfeder ist nun ausgeschlossen. Freilich sind auch das Glücksgefühl und die Motivierung durch dasselbe innere Vorgänge; allein in ihnen ist die Innerlichkeit von Realitäten und Anregungen abhängig, die nicht in ihrer Hand sind. Die Bestimmung durch die Pflicht aber geht ausschließlich von dem Willen aus und kann überhaupt von nichts andrem ausgehen – was gerade dadurch ausgedrückt wird, daß äußere Umstände dem Pflichtwillen oft jede sichtbare Äußerung abschneiden, ohne damit seinen sittlichen Wert im geringsten zu beeinflussen. Das Gesetz, als welches der sittliche Wert uns entgegentritt, enthält durchaus keinen Widerspruch gegen die Freiheit, da es – und ebenso der Gehorsam, den wir ihm leisten – der Ausdruck unsres eigensten, von keiner Macht außer uns bestimmbaren Inneren ist. Indem wir aus Pflicht handeln, gehorchen wir tatsächlich nur uns selbst, alles, was nicht wir selbst sind, ist nach den Voraussetzungen der Sittlichkeit völlig von ihr ausgeschlossen. Von allen Seiten begrenzen uns die Dinge und zwingen uns unmittelbar und durch die Vermittlung der Gefühle und Interessen, mit denen sie uns affizieren, in Bahnen, die im besten Fall nur Resultanten zwischen ihrer Kraft und der unsren sind; frei von ihnen, also überhaupt frei sind wir nur in der Motiviertheit durch die sittliche Pflicht, weil diese ihrem Begriffe nach jeden Einfluß ihres Inhaltes – dessen, was nicht ganz allein wir selbst sind – ablehnt. Freiheit und Gehorsam, sonst in tödlichem Gegensatz, wo dem Ich ein Gesetz von außen oktroyiert wird, fallen hier zusammen, wo das innere Gesetz die einzige Motivierung ist, die übrig bleibt, nachdem jede von außen kommende aufgehoben ist, die einzige, mit der das Ich ausschließlich auf sich selbst hört.

So kommt Kant zu dem für die populäre Meinung eigentlich unerhörten Paradoxon, die sittlichen Gesetze und ihre Befolgung hätten mit den inhaltlich-konkreten Absichten der Menschen überhaupt nichts zu tun, die Sittlichkeit sei – wie wir uns etwa ausdrücken würden – ein bestimmter Rhythmus des Willens, eine Form seines Funktionierens, die so prinzipiell selbständig sei und die mannigfaltigsten Inhalte so in sich aufnehmen könne, wie ein bestimmter musikalischer Rhythmus die mannigfaltigsten Melodien. Die höchste Frage des Menschenwerts ist, ob der Wille selbst »gut« ist – gewiß wird dies die Wahl seiner Ziele bestimmen, aber nicht sie sind gut und lassen dadurch den Willen gut sein, wie es die gewöhnliche Auffassung meint, sondern nur er, als Träger der Ziele, als die spontane und formende Kraft unsres Inneren, hat in sich die Qualität, die wir gut nennen. Es ist noch wenig beachtet, eine wie tiefe und überraschende Auffassung der Sittlichkeit Kant gerade nach dieser Seite hin andeutet. Wie wir etwa einen Menschen anmutig nennen und damit die rein von innen her bestimmte Linie seiner Bewegungen meinen, die formale Art seiner Innervationen, die die verschiedensten Handlungen gleichmäßig beseelt und manche freilich ausschließt – so erscheint die Güte des Willens, d. h. die Sittlichkeit, als eine unmittelbare Qualität und Lebensform des Wollensprozesses. Die moralischen Unterschiede steigen aus den bloßen Inhalten des Willens in ihren dynamischen Träger hinab. Dadurch wird das Sittliche etwas unvergleichlich Tieferes, Radikaleres, es ressortiert jetzt viel mehr von der letzten seelischen Instanz; diese psychologische Formulierung drückt erst vollständig aus, daß die sittlichen Entscheidungen unmittelbar wir selbst sind.

Dies ist nun der Punkt, an dem sich die wurzelhafte Verwandtschaft der Kantischen Ethik mit seiner Erkenntnistheorie aufzeigen läßt. Zunächst in allgemein-kultureller Hinsicht. Ist es der Weg der Kultur – zumindest der technischen, im äußeren wie im geistigen Sinne –, die Bestrebung nicht unmittelbar auf die Endabsichten, sondern auf die Mittel und die Mittel für die Mittel zu richten; will damit das große Prinzip der Prophylaxis statt der Dinge selbst vielmehr die Bedingungen, die ihrerseits erst die Dinge bestimmen, gestalten – so ordnet sich Kants theoretische Philosophie dem ein. Nicht die Erfahrung, für sie das eigentliche Definitivum des Erkennens, will sie bereichern, sondern die Bedingungen der Erfahrung festlegen, nicht die Erkenntnis, sondern die Mittel, die erst Erkenntnis erzeugen, will sie kritisieren, ordnen, werten. Unter dieser Tendenz aber steht auch seine Ethik. Nicht daß diese und jene inhaltbestimmte Tat geschieht, ist die Sache seines ethischen Wertens und dessen prinzipieller Festlegung, sondern daß die Gesinnung so und so beschaffen sei, die ihrerseits erst die Tat wählen oder verwerfen läßt. Daß sich der Interessenakzent auf den »guten Willen«, statt auf die guten Werke verlegt; daß statt der Feststellung: so und so sind die Dinge, die Kritik der Möglichkeit der Erfahrung zum Problem der Philosophie wird – damit hat das Kulturprinzip der Prophylaxis die Philosophie, die theoretische wie die praktische, ergriffen. Und nun inhaltlich: Die Gegenstände des Erkennens hatte die Kantische Erkenntnislehre in Tätigkeiten des Erkennens aufgelöst: das Nebeneinander der Räumlichkeit, die Festigkeit der Substanz, die Objektivität von Ursachen und Wirkungen waren als die Formen der seelischen Vorgänge durchschaut, durch die die Realität, das Objekt unsrer Erkenntnis, gebildet wird. Die Funktionen, die die Erfahrung als einen intellektuellen Prozeß zustande bringen, erzeugen in ebendemselben Akt auch die Gegenstände der Erfahrung. Dieselbe Verinnerlichung und Aktivierung alles dessen, was als gegebener Lebensinhalt von selbständigem Ursprung und Substanzialität an uns heranzukommen scheint, ergreift jetzt das praktische Dasein. Hier handelt es sich freilich nicht um Empirisches und Reales, sondern um Ideelles und Werte. Wie aber in jenem Falle für die gewöhnliche Meinung eine für sich seiende Welt da ist, die der passive, von ihr bestimmte Geist nachbildet, so scheint es in diesem ein Gutes und Böses zu geben, an und für sich bestimmte Wertqualitäten, die der Wille aufnimmt und dadurch bald die eine, bald die andere Qualität erwirbt. Im Gegensatz dazu und in Analogie mit seinem theoretischen Idealismus spricht Kant der Willensfunktion die – in einem wenn auch vielleicht beschränkten Sinne – schöpferische sittliche Qualität zu: es ist nicht etwas Gutes da, das wir wollen und wodurch nun unser Wille ein guter würde, sondern es gibt Willensakte, die von vornherein in einer bestimmten, nachher zu erörternden Weise geformt sind und die wir gut nennen; die Inhalte dieser Akte erst sind »das Gute«. Das sittliche Wollen erzeugt, ganz wie das theoretische Erkennen, erst seinerseits seinen Gegenstand, weil dieser Gegenstand außer der Funktion, die ihn trägt und in der er für uns wirklich wird, überhaupt nicht besteht. Die moralischen Imperative sind die Ausmündungen oder Substanzialisierungen des »guten Willens«, er setzt sich mit ihnen sich selbst gegenüber, wie sich mit der Vorstellung Gottes die religiöse Verfassung, die Religiosität des Menschen, aus sich selbst heraus und sich selbst gegenübersetzt. Dringt man also über die äußerlich zweckmäßige Ausdrucksweise zu der wahren Ordnung der Begriffe herab, so ist es, im exklusiv moralischen Sinne, nicht von vornherein »gut«, dem Vaterland zu dienen oder die Feinde zu lieben, den Armen wohlzutun oder seine Versprechungen zu halten, sondern alles dies kann gegebenenfalls Gegenstand eines von sich aus guten Willens sein, Inhalte seines Funktionierens, die, als gute, von ihm erst produziert werden – gerade wie der Verstand die Kausalität der Dinge nicht von ihnen abliest, sondern sie kausal sind, weil der Verstand sie, nach der ihm eigenen Aktionsform, so vorstellt.

So tief und schön indes auch der Gedanke sei, daß der gute Wille der einzige absolute Wert sei, um den es in letzter Instanz geht – die Wirklichkeit des moralischen Bewußtseins, die doch nur zu beschreiben Kant sich vorsetzt, scheint mir damit nicht erschöpft. Er läßt der Sollensforderung schlechthin genügt sein, wenn der Mensch zu ihrer Erfüllung das Äußerste seines Wollens und Könnens eingesetzt hat, er führt das Ultra posse nemo obligatur bis auf die tiefste moralische Schicht hinunter. Ob der inhaltlich gesetzte Zweck damit erreicht wird, ob äußere Unüberwindlichkeiten, ob das Versagen der eigenen Kraft ihn vereiteln – das habe mit dem sittlichen Wert nichts zu tun, der allein in dem Willen, d. h. in dem absoluten Einsatz alles dessen, was in unserer Macht steht, gelegen sei. Mit dem Bewußtsein dieses Einsatzes sei das »gute Gewissen« gewonnen, und daß der Mensch damit zufrieden sein könne, drückt Kant so aus, daß sogar Gott damit zufrieden sei. Allein dies ist durchaus eine moralistische Vereinseitigung des seelischen Tatbestandes. Die inneren Forderungen des irgendwie höheren Menschen, die praktischen wie die rein geistigen, werden durch das bloße gute Gewissen nicht gestillt, über ihre Unerfülltheit tröstet ihn nicht, daß die eigene liebe Seele salviert ist. Insbesondere der schöpferische Mensch ist erst durch die objektive Vollendung seiner Leistung befriedigt, und für deren Unzulänglichkeit findet er keine Entschädigung in dem Bewußtsein, subjektiv sein Möglichstes getan zu haben. Die Beschränkung des Sollens auf das, was das Subjekt äußerstenfalls kann, mag den eudämonistischen Egoismus beseitigen, aber sie bleibt ein moralischer Egoismus, dem deshalb auch derjenige nicht verfällt, der wirklich für die Sache arbeitet, für das objektive Optimum eines Äußeren oder Inneren. Daß dessen Unerreichtheit durch das Bewußtsein höchst aufgebotener subjektiver Bewährung nicht ausgeglichen wird, ja daß der seiner Aufgabe wirklich hingegebene Mensch nach diesem Bewußtsein eigentlich gar nicht fragt – das scheint doch zu beweisen, daß das Sollen sich sogar psychologisch über den dem Willen unterworfenen Bezirk hinaus erstreckt, auf den es dem Moralismus gemäß beschränkt scheint. –

Ich sehe für jetzt von diesem Einwurf ab und wende mich noch einmal der Wertabsolutheit des »guten Willens« zu. Mit ihm erst erweitert sich das Prinzip des Idealismus auch auf die Ethik: die Souveränität des letzterreichbaren Quellpunktes in unsrer Seele, des Sitzes unsrer Aktivität und Produktivität, über alles, was in irgendeinem Sinne »gegeben« ist. In der Kantischen Erkenntnistheorie hat sich ergeben, daß die zentrale, den Verstand ausmachende Tätigkeit: die Vereinheitlichung des Mannigfaltigen, – der Ursprung aller Objektivität und aller Gesetzlichkeit des Daseins ist. Jetzt zeigt sich, daß die andre unmittelbare Ausstrahlung des Ich, der Wille, durch eine ursprüngliche, wenngleich nicht immer wirksame Form und Funktionsart – die wir, nähere Bestimmung vorbehalten, den »guten« Willen nennen –, die Quelle der andren Objektivität und Gesetzlichkeit des Daseins ist: der ideellen, die das Gute heißt. So wenig also der Verstand in Hinsicht seiner allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse ein Gesetz von außen bekommen kann, sondern jedes aus sich entwickeln muß, so wenig kann der Wille es in Hinsicht der sittlichen Werte. Denn alle Zustände, Aktionen, Willensinhalte überhaupt können nur eine abgeleitete Wertqualität haben, abgeleitet von der autochthonen Güte eben jenes Willens, den sie ihrerseits, indem er sie aufnimmt, für den oberflächlichen Anblick zu einem guten zu machen scheinen.

Hier aber droht dieselbe Gefahr wie bei dem theoretischen Idealismus: daß Bestand und Gültigkeit der sittlichen Ordnungen durch diese Abhängigkeit von den Funktionen der Einzelseele einer unkontrollierbaren Willkür preisgegeben, daß die Welt der Werte subjektiviert werde. Und auch hier liegt, wie entsprechend dort, die Lösung nicht in dem Beweise, daß die scheinbare Objektivität auch wirklich nichts Besseres sei, als ein Spiel oder Spiegel subjektiver Zufälligkeiten, sondern in dem umgekehrten, daß das schaffende Ich die ganze Objektivität und überindividuelle Gesetzlichkeit in sich trägt, ja, daß sein Wesen gerade in dieser besteht; und wie das theoretische Ich in die Welt aufgelöst wird, die doch in seiner Form zu Bestand und Einheit gelangt, so ist das praktische Ich, der freie, sich selbst gehörende Wille nichts andres als die Gesetzmäßigkeit, die Objektivität des Wertes, die durch ihn ihre Verwirklichung in der praktischen Welt gewinnt. Die Schilderung eines solchen Willens hat also die Frage zu lösen, wie seine Personalität, seine unabhängige Eigenheit doch zugleich dem Ideal der Allgemeinheit, der Übersubjektivität genügen kann.



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