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Siebzehntes Kapitel.

Unsre Erzählung kehrt nunmehr zurück zum Mervynskäfig, dem Gemach oder vielmehr Gefängnis der unglücklichen Gräfin Leicester, die eine geraume Weile ihre Ungeduld und Bangigkeit zu beherrschen suchte. Sie sagte sich, daß es wohl möglich sei bei solchem Wirrwarr, solcher Anstrengung, daß ihr Brief nicht gleich in die Hände ihres Mannes habe kommen können, daß es leicht auch einige Zeit dauern könne, bis ihr Mann sich von seinem Amte bei der Königin frei machen könne, um zu ihr nach dem Mervynsturme zu kommen.

»Vor Abend will ich, gar nicht auf ihn rechnen,« sprach sie bei sich, »es läßt sich wohl denken, daß er sich von seinem königlichen Gaste nicht entfernen kann, selbst um nach mir zu sehen. Wenn es ihm möglich ist, wird er früher da sein. Das weiß ich. Aber wie gesagt, vor Einbruch des Abends will ich nicht auf ihn rechnen.«

Und dennoch wartete sie auf ihn, wartete auf ihn die ganze Zeit, während sie sich fortwährend vom Gegenteil zu überzeugen suchte; jedes eilige Geräusch von all den Hunderten, die zu ihren Ohren drangen, klang ihr wie Leicesters rascher Schritt, wenn er die Treppe hinauf rannte, um in ihre Arme zu fliegen.

Die körperliche Anstrengung, die Amy in der letzten Zeit zu ertragen gehabt, zusammen mit der bei solch grausamem Zustande von Ungewißheit natürlichen Gemütserregung begann allmählich auf ihr Nervensystem zu wirken, und die Furcht, es könne ihr langsam die Kraft ausgehen, das, was ihr vielleicht noch bevorstände, zu tragen, fing an, sie zu beschleichen. Indessen war ihr, wenn auch durch zu nachsichtige, manchmal wohl weichliche Erziehung geschädigt, eine große Gemütsstärke von Natur eigen, und zu ihr trat ein durch ihre Teilnahme der Jagden des Vaters gestählter Körper. Sie gebot zufolgedessen über eine äußerst kräftige Gesundheit und nahm jetzt alle Kräfte zusammen, um keine seelische Erschlaffung und keine Nervenschwäche aufkommen zu lassen.

Als jedoch vom Cäsarsturm herab, der unfern von dem als Mervynsturm bekannten stand, die große Schloßglocke die Ankunft des königlichen Zuges durch mächtige Pulse verkündete, da drang ihr Schall so scharf zu ihren Ohren und schnitt ihr so schmerzvoll durch die Seele, daß sie angstvoll zusammenfuhr und sich kaum wehren konnte, bei jedem dröhnenden Schlag der unbarmherzigen Glocke aufzuschreien.

Gleich nachher schoß der Widerschein flammenden Feuerwerks zu den Fenstern des kleinen Gemachs herein, dasselbe taghell erleuchtend, daß es der einsamen Frau zu Mute ward, als stiege jede Rakete dicht neben ihr empor und ströme ihr Feuer dicht neben ihr aus, und als fühle sie dessen Hitze in allen Gliedern. Sie zwang sich zum Aufstehen und kämpfte all den wunderlichen Schreckenstanz, den die Feuergebilde vor ihrem geistigen Auge aufführten, mit Gewalt nieder, trat zum Fenster und blickte hinaus, starr und unverwandt, auf eine Szene, die zu jeder andern Zeit ihr Herz sicher weniger mit Furcht als mit Freude erfüllt hätte.

»Großer Gott im Himmel droben!« rief sie leise vor sich hin, »wie gleicht doch dieser vergängliche Glanz dem Flitter meiner eignen Hoffnungen! Ein einziger Funke, der im Nu verschlungen wird von Finsternis ringsum, ein flüchtiger Strahl, der für einen Augenblick emporschießt, um desto tiefer zu fallen! O, Leicester! Ist es denn möglich, nach alledem, was Du gesprochen, was Du geschworen hast, Deine Amy sei Dein Leben, Dein alles, Deine Liebe ... ist es denn möglich, daß Du der Zauberer seiest, auf dessen Wink all diese Wunderwerke erstehen? und daß ich, Deine Amy, ihnen zuschaue als Verstoßne, als Turmgefangne?« ...

Von allen Seiten her erklang jetzt Musik, von fern her und aus der Nähe, daß es war, als sei nicht das Schloß allein, sondern die ganze Umgegend der Schauplatz des herrlichen Festes zu Ehren königlich britischer Majestät. Aber der einsamen Frau führte die Musik keine Freude ins Herz, sondern nur den gleichen schmerzlichen Gedanken näher und näher, und als nach langer, langer Zeit das Echo der Klänge erstarb, da war es der Gräfin, als stürbe auch in ihrem Herzen alles, alles dahin, was dort von Lust und Freude geherrscht hatte; und sie trat, düstrer, schmerzlicher betroffen als je, zurück vom Fenster, zurück in das kleine Gemach und dessen Dunkelheit....

Es war Nacht geworden, wohl stand der Mond am Himmel, aber sein Licht erhellte den Raum, der ihr als Aufenthalt angewiesen worden war, nur spärlich. Seitdem Tressilian so leicht Zutritt zu ihm, trotzdem er von innen verschlossen war, sich hatte schaffen können, traute sie dem Schlüssel nicht mehr, der im Schlosse steckte. Aber das einzige, was sie zur Mehrung ihrer Sicherheit tun konnte, beschränkte sich darauf, daß sie einen Tisch vor die Tür rückte. Sicher, durch das Geräusch geweckt zu werden, das entstehen müsse, wenn jemand versuchen sollte, heimlich eindringen zu wollen, aufs höchste abgespannt und erschöpft, gab sie endlich dem Drange nach Ruhe Folge und trat zu ihrem Lager; und die Forderung der Natur, nachdem die Arme noch lange wach gelegen, noch lange gewartet hatte, überwand endlich Liebe, Herzeleid und Furcht, ja selbst die Pein der Ungewißheit... und Amy schlief ein....

Ja, Amy schlief. Ein paar Stunden lang schlief sie und träumte ... zuerst, daß sie in Cumnorplace sei und lausche auf den leisen Pfiff, durch den sich Leicester anzumelden pflegte, wenn er plötzlich auf einem seiner heimlichen Ritte im Schlosse erschien.... Aber ihr war es dann mit einem Male, wie wenn das leise Pfeifen sich wandle zum gewaltig dröhnenden Hornsignal... und dann war es ihr, als wenn sie zu einem Fenster hinliefe, das nach dem Hofe hinuntersähe,... und nun sah sie im Hofe Menschen über Menschen... und alle trugen Trauergewänder, und der Pfarrer stand in ihrer Mitte und hielt eine Rede... und als sie zuhörte, da ward sie inne, daß es eine Grabrede war... und dann sah sie Mumblazen in der Tracht eines alten Wappenherolds, mit einem Wappenschild, das er vor sich her trug, und das die bekannten Verzierungen zeigte, Totenschädel, Gebeine und Stundengläser ... aber das Wappen selbst konnte sie nicht erkennen, sie sah nur, daß es eine Grafenkrone trug. ... Der alte Mann sah sie an mit gespenstischem Lächeln und fragte: »Amy, sind sie etwa nicht richtig quadriert?« ... und dann begannen die Hörner wieder zu schmettern ... es war ein trauriger, wilder Totenmarsch ... und Amy erwachte. ...

Sie fuhr empor von ihrem Lager ... deutlich hörte sie jetzt den Hörnerruf, der die Bewohner zu einer Hirschjagd im nahen Walde lud. Amy lauschte den Klängen ... sie sah die ersten Strahlen des Sommermorgens durch das Gitter ihres Fensters dringen ... und nun besann sie sich, mit einer Empfindung quälender Angst, wo sie war und in welcher Lage sie war. ... »Er denkt nicht an mich,« sprach sie zu sich.... »nicht nahen wird er mir.... Eine Königin ist bei ihm zu Gaste, und was kümmert es da ihn, ob und in welchem Winkel seines mächtigen Schlosses ein elendes Weib wie ich in Zweifeln schmachtet und Herzeleid und Qual erliegt?« ...

Da ... ein Geräusch an der Tür ... leise, wie wenn jemand versuchte, sie behutsam zu öffnen ... und eine unsägliche Empfindung, halb Freude, halb Furcht, erfüllte ihr Herz ... mit einem Sprung war sie bei der Tür und rückte den Tisch hinweg, den sie aus Vorsicht davor gestellt hatte ... dann schloß sie auf, ... doch fragte sie, auch jetzt noch vorsichtig:

»Bist Du es, Geliebter?«

»Jawohl, meine Gräfin!« flüsterte es draußen zur Antwort. Sie riß die Tür auf und mit dem Schrei: »Leicester!« flog sie dem Mann in die Arme, der draußen stand, in seinen Mantel gehüllt, und Einlaß begehrte.

»Nein – – nicht ganz Leicester,« antwortete Michael Lambourne, denn er war es, indem er die Liebkosungen mit roher Gewalt zurückgab, ... »nicht ganz Leicester, meine holde, bis über die Ohren verliebte Herzensherzogin, aber ein Mann so gut und stark wie er.«

Mit einem Uebermaß von Kraft, dessen sie sich zu keiner andern Zeit fähig gehalten hätte, machte die Gräfin sich los von dem unheiligen und entheiligenden Griffe des trunknen Wüstlings und flüchtete nach der Mitte ihres Gemachs, wo ihr Verzweiflung den Mut lieh, stehen zu bleiben. Lambourne fiel, als er eintrat, der Mantel vom Gesicht ... und die Gräfin erkannte nun den verworfnen Diener Varneys ... die allerletzte Person, seinen Herrn selbst ausgenommen, von der sie sich hier hätte entdeckt sehen mögen. Aber sie war noch immer eingehüllt in ihren Reisemantel, und da Lambourne in Cumnorplace kaum in ihre Nähe gekommen war, hoffte sie, ihm weniger bekannt zu sein als er ihr ... welch letzteres ja auch nicht der Fall gewesen wäre, hätte ihn ihr nicht Jeanette einmal gezeigt, wie er über den Hof ging, und dann erzählt, was für ein schlechter Mensch er sei.

Lambourne warf, als er ins Gemach trat, die Tür hinter sich ins Schloß, dann schlug er die Arme übereinander, wie wenn er der Verzweiflung spotten wollte, die sich Amys bemächtigt hatte. Dann sprach er höhnisch:

»Höre, was ich Dir sage, Du holdeste Kallipolis, oder verliebteste aller verlumpten Gräfinnen und göttlichste aller in finstern Ecken sich herumquetschenden Herzensherzoginnen – – wenn Du Dir noch so viel Mühe gibst, Dich aufzublähen, wie ein angeschossner Fasan, um mir die Freude, Dich zu fangen, noch zu erhöhen, so ist es doch gescheiter, Du sparst Dir solches! Deine erste Art und Weise ist mir weit lieber ... und Deine jetzige paßt mir dagegen ganz und gar nicht ...« (bei diesen Worten machte er taumelnd einen Schritt auf sie zu) »... paßt mir so wenig ... Tod und Teufel! ist das hier ein wackliger Fußboden! ... da kann sich ja der feinste Herr den Hals brechen, wenn er nicht wie ein Seiltänzer auf dem Seile tanzen kann ...«

»Zurück!« rief die Gräfin, »keinen Schritt näher heran, oder es ist um Dich geschehen!«

»Was? um mich geschehen? hahaha! und keinen Schritt weiter? hahaha! kannst Du noch einen bessern Schatz verlangen als den ehrlichen Michael Lambourne? ... Ich bin in Amerika gewesen, Mädel, wo das Gold wächst wie Heu, und hab eine stramme Kahnladung davon mit rübergebracht –«

»Lieber Freund!« sprach die Gräfin, aufs äußerste erschrocken über die freche, zudringliche Weise des Menschen ... »ich bitt' Dich, geh und laß mich!«

»Daran solls nicht fehlen, Schatz, wenn wir einander satt haben ... aber kein Tüttelchen früher, hörst Du?« ... und er faßte sie beim Arme, während sie, außer stande, sich länger zu wehren, einen Schrei über den andern ausstieß ... »Na, schrei, so viel Du willst,« rief er und hielt sie noch immer fest, »ich hab die See brüllen hören beim wildesten Wetter, und wenn ein Weibsbild ein bißchen quiekt, so klingt mir das kaum anders, als wenn eine Katze miaut! ... Hol mich der Teufel, ich hab an die fünfzig oder hundert schreien hören, als wir mal eine Stadt stürmten.«

Das Geschrei der Gräfin brachte aber eine, wenn auch unerwartete Hilfe herbei in der Person des Lorenz Staples, der in seiner Stube unten das Geschrei gehört hatte und noch gerade zurecht kam, um die Gräfin vor Entdeckung, wenn nicht gar roher Gewalttat zu schützen. Lorenz war auch betrunken, noch von der letztdurchzechten Nacht her; glücklicherweise zeigte sich sein Rausch aber in ganz andrer Weise, wie bei Lambourne.

»Was ist das hier für ein Mordsspektakel? bei mir im Turme?« rief er, »was? ein Mannsbild und ein Weibsbild zusammen in derselben Zelle? Das geht wider das Reglement ... unter meinem Szepter muß Ordnung herrschen! beim Sankt Petrus in Ketten!«

»Mach, daß Du die Stiege hinunterkommst, besoffnes Biest!« schrie Michael Lambourne, »siehst Du nicht, daß wir beide, die Dame und ich, was vorhaben, wozu man keinen Zeugen braucht?«

»Braver Herr! würdiger Herr!« flehte die Gräfin, sich an den Schließer wendend, »errettet mich von ihm! um der göttlichen Barmherzigkeit willen.«

»Sie spricht artig und lieb,« sagte der Schließer, »da muß man ihr schon helfen. ... Laß das Weib los, oder ich schlage Dir den Schädel mit meinem Schlüsselbunde ein!«

»Da mach ich doch schneller aus Deinem Bauchfell einen Blutkuchen!« schrie Lambourne und legte die Linke an den Degen, wahrend er mit der Rechten noch immer die Gräfin festhielt. ...

Da packte der Schließer Lambourne am Arm, daß er den Dolch nicht ziehen konnte, und als Lambourne mit ihm rang und ihn von sich abzuschütteln suchte, machte die Gräfin ihrerseits eine heftige Anstrengung; und es gelang ihr, die Hand aus dem Handschuh zu ziehen, den Lambourne noch immer festhielt ... mit einem Ruck war sie frei und zur Stube hinaus und rannte die Stiege hinunter, während sie im selben Augenblick zwei schwere Körper niederschlagen hörte, mit einer Wucht, die ihr Entsetzen noch erhöhte.

Die Außenpforte bot ihrer Flucht kein Hindernis, denn sie war, um Lambourne einzulassen, geöffnet und von diesem offen gelassen worden. Glücklich gelangte sie von da in den Lustgarten, der ihrem hastigen Blicke als derjenige Ort erschien, wo sie vor Verfolgung am geschütztesten sein dürfte. Zwischen den vielen Lauben, Bäumen, Bildsäulen, Springbrunnen einen Platz zu finden, wo sie sich verbergen könne, bis jemand käme, dem sie sich in ihrer schrecklichen Lage offenbaren dürfte und durch dessen Vermittlung sich eine Zusammenkunft mit dem Grafen erlangen ließe, das könnte, sagte sie sich, an solchem Orte nicht allzu schwer sein....

»Wenn ich bloß meinen Führer wiederfände,« dachte sie; »dann erführe ich doch, ob er meinen Brief abgegeben hat. Oder wenn ich wenigstens Tressilian träfe! ... nun, ich will warten und hoffen ... unter so vielen menschlichen Wesen wird sich ja doch ein mildes Herz finden, das ermessen und mitfühlen kann, was mein armes Herz so schwer bedrückt!«

Freilich, es gingen viele im Garten auf und ab ... aber ... das waren immer solche, die das Herz voller Freude hatten ... die zusammen lachten und scherzten und allerhand Kurzweil trieben ... wie sollten die Sinn und Gefühl haben für Leid? ...

Das Versteck, das sich die Gräfin ausgesucht hatte, war recht geeignet, sie vor andrer Blicke zu schützen. Es war eine mit Moosbänken versehne Grotte, in deren Hintergrunde eine Fontäne spielte. Wenn sie sich dort aufhielt, so konnte sie, ohne bemerkt zu werden, abwarten, bis der Zufall eine einzelne Person herführte, die es vielleicht für geraten hielt, sich zu entdecken. Auf solchen Zufall wartend, trat sie hinter die Fontäne und blickte in den hellen Spiegel ihrer Flut, erschreckend über das eigne Bildnis, denn ihre Erscheinung war durch die letzterlebten Stunden in ihrer Schönheit um vieles gemindert worden. Aber der helle Wasserspiegel ermöglichte ihr eine rasche Toilette, und als sie damit fertig war, setzte sie sich auf eine der Moosbänke, harrend, daß ihr das Schicksal einen Ausweg zeigen oder einen Beschützer zuführen werde.


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