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Als die Gräfin von Leicester an dem Außentore des Schlosses von Kenilworth anlangte, fand sie den Turm, unter dem der breite Torweg hindurchführte, auf seltsame Weise bewacht, auf den Zinnen standen riesenhafte Wächter, die mit Keulen und Streitäxten und andern vorzeitigen Waffen ausgerüstet waren und die Soldaten König Arturs darstellen sollten. Einige dieser furchtbaren Kerle waren wirkliche Menschen in Maske und Stelzenfuß, andre waren bloße Puppen aus Pappe und Steifleinwand, die, von unten gesehen, mitten unter den lebenden aufgestellt, den beabsichtigten Eindruck vortrefflich erzielten. Aber der gigantische Torwart, der am Tore unten die Wache hielt, verdankte die imposante, fast furchtbare Wirkung seiner Gestalt keinerlei künstlichen Mitteln. Er war ein Mann, der mit seiner gewaltigen Gestalt und der Kraft seiner Muskeln und Sehnen den Riesen Goliath hätte darstellen können, ohne sich auch nur um die Höhe eines Absatzes dem Himmel näher zu bringen. Beine, Knie und Arme dieses Enakssohnes waren nackt, an den Füßen trug er Sandalen. Ein pralles, kurzärmeliges Wams von scharlachrotem Sammet bedeckte seinen Leib und einen Teil seiner Glieder, und an Stelle eines Mantels trug er auf der Schulter das Fell eines schwarzen Bären. Seine Waffe war eine schwere Keule mit Stahlspitzen.
Als Wieland sich bescheiden näherte und an ihm vorbei wollte, als sei es ganz selbstverständlich, daß er hereingelassen würde, trat ihm der Riese in den Weg und rief mit donnernder Stimme: »Zurück!« Gleichzeitig stieß er seine Keule auf den Boden mit solcher Gewalt, daß das Pflaster Funken sprühte und der Torweg von dem Krach dröhnte.
Wieland folgte dem Rate Dickies und erklärte, er gehöre zu einer Schauspielertruppe, die ihn nicht entbehren könne – er sei durch Zufall zurückgehalten worden und habe nachkommen müssen – und manches dergleichen. Aber der Wärter blieb unerbittlich, bis Dickie Schlamm Wieland ins Ohr flüsterte:
»Nur ruhig, ich weiß, wo ihn der Schuh drückt und werde ihn im Augenblick kirre machen.«
Er sprang zum Pferde hinab, schlüpfte zu dem Pförtner hin, zupfte ihn an seinem Bärenfell, daß er seinen großen Kopf herabbücken mußte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der schreckliche Ausdruck im Gesicht des Riesen wich auf der Stelle, er warf seine Keule auf den Boden und hob Dickie Schlamm so hoch empor, daß der Kleine sich Hals und Beine hätte brechen können, wenn die mächtigen Arme ihn hätten fallen lassen.
»Stimmt schon,« rief er mit donnernder Stimme frohlockend aus, »stimmt schon, mein kleiner Knirps – aber wer zum Teufel hat es denn Dir sagen können?«
»Das laßt Euch nicht bekümmern,« sagte Flibbertitibitsch, »aber –« und er sah auf Wieland und die Dame und dämpfte seine Stimme zu unhörbarem Geflüster, was ihm nicht sehr schwer fiel, da der Riese ihn zu seiner Bequemlichkeit dicht an sein Ohr hielt. Der Pförtner streichelte dann Dickie zärtlich und setzte ihn auf den Boden, mit derselben Sorgfalt, mit der eine fürsorgliche Hausfrau eine chinesische Tasse, die schon einen Sprung hat, auf den Kaminsims stellt, und rief gleichzeitig Wieland und seiner Dame zu:
»Herein mit Euch – herein mit Euch – und seht Euch vor, daß Ihr nicht noch einmal zu spät kommt, wenn ich gerade die Wache habe.«
»Ja, ja, herein,« sagte Popanz, »ich muß noch ein kleines Weilchen bei meinem ehrlichen Riesen Goliath bleiben, aber ich bin gleich wieder bei Euch und geh Euerm ganzen Geheimnis auf den Grund, und wäre es so tief und so dunkel wie das Burgverließ.«
»Das glaub ich gern,« sagte Wieland, »aber das Geheimnis wird bald meiner Obhut entrückt sein, und dann schert es mich nicht, ob Du oder sonstwer es weiß.«
Sie passierten nun den Eingangsturm, der die Bezeichnung Galerieturm führte. So hieß er, weil die ganze Brücke von dem Eingangsturm bis zu einem andern Turm auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, dem sogenannten Mortimerturm, zu einem geräumigen Turnierplatz hergerichtet war, der etwa hundertunddreißig Ellen in der Länge und zehn in der Breite maß, mit dem feinsten Sand bestreut und an beiden Seiten durch starke und hohe Palisaden geschützt war. Die breite, schöne Galerie, von der aus die Damen die auf dieser Arena veranstalteten Ritterspiele mitansehen sollten, war an der Nordseite des nach ihr bekannten Außenturmes errichtet.
Unsre Reisenden ritten langsam über die Brücke oder den Turnierplatz, und langten am Mortimerturm an, durch den der Zugang zu dem Außenhof des Schlosses führte. Das Tor hier war von vielen Hütern in prunkvollen Livreen bewacht, die sie aber ungehindert passieren ließen. Sie gelangten in tiefer Stille in den großen Außenhof des Schlosses und hatten nun voll vor sich den mächtigen fürstlichen Komplex mit all seinen stattlichen Türmen, jedes Tor stand offen, wie zum Zeichen unbeschränkter Gastlichkeit, und die Räume waren dicht gefüllt mit edeln Gästen und ihren Dienern, Vasallen und Untertanen aller Art.
Mitten in dieser prächtigen, vielbelebten Szene hielt Wieland an und sah auf die Dame, als warte er auf ihre Befehle, was fernerhin getan werden solle, da ja das Ziel nun glücklich erreicht war. Da sie schwieg, wartete Wieland ein Weilchen und dann fragte er sie rund heraus, was sie weiter befehle. Sie hob die Hand an die Stirn, als sammle sie Gedanken und Entschlüsse, und antwortete leise und gedämpft, in dem Flüstern eines, der im Traume spricht:
»Befehle? Ich kann in der Tat ein Recht beanspruchen, hier zu befehlen. Doch, wer wird mir gehorchen?«
Dann hob sie plötzlich den Kopf, als habe sie einen entschiednen Vorsatz gefaßt, und redete einen schmuck gekleideten Diener an, der eben mit geschäftiger Miene durch den Hof ging:
»Halt da,« sagte sie, »ich wünsche den Earl of Leicester zu sprechen.«
»Wen?« versetzte der Mann, erstaunt über das Begehren. Dann sah er die bescheidne Ausrüstung der Dame an, die ihn in so herrischem Tone anredete, und setzte in wegwerfendem Tone hinzu: »Ei, was haben wir denn da für eine Tollhäuslerin, die an einem Tage wie heute Mylord zu sprechen wünscht?«
»Freund,« sagte die Gräfin, »sei nicht so unverschämt. Was ich mit dem Earl zu sprechen habe, duldet keinen Aufschub.«
»Da müßt Ihr Euch schon einen andern für Euern Auftrag aussuchen, und wäre die Sache noch so dringend,« sagte der Bursche. »Ich sollte Mylord von der königlichen Seite Ihrer Majestät wegrufen? Ein Peitschenhieb wär meine Antwort. – Mich wunderts, daß unser alter Pförtner solch Gesindel nicht mit seiner Keule wegjagt, statt daß ers hereinläßt.«
Ein paar Leute blieben stehen, als der Diener so zu schimpfen anfing, und Wieland, um sich und die Dame besorgt, wandte sich rasch an einen, der am höflichsten aussah, schob ihm ein Geldstück in die Hand und besprach sich kurz mit ihm, ob nicht ein zeitweiliger Unterschlupf für die Dame zu haben sei. Der Mann, mit dem er sprach, hatte, wie es schien, kraft seines Amtes etwas zu sagen und tadelte die andern wegen ihrer Unhöflichkeit. Er befahl einem der Burschen, die Pferde der Fremden zu besorgen, und ersuchte sie, ihm zu folgen.
Sie traten durch den großen Torweg in den Innenhof des Schlosses und wurden von ihrem Führer nach einem kleinen, aber starken Turme geleitet, der die Nordostecke des Gebäudes einnahm, welches an die große Halle grenzte. Den untern Teil dieses Turmes bewohnten Haushaltsbeamten Leicesters, aber im obern Stock, zu dem man auf einer engen Wendeltreppe gelangte, lag eine kleine, achteckige Kammer, die bei dem augenblicklichen großen Bedarf an Unterkunft zur Aufnahme von Gästen hergerichtet worden war, obwohl das Gerücht ging, daß dieser Raum als Kerker für eine unglückliche Person gedient habe, die hier ermordet worden sei. Die Sage nannte diesen Gefangnen Mervyn, und nach ihm war auch der Turm genannt.
Es stand ein Bett im Zimmer, und es waren mancherlei andre Vorbereitungen zum Empfange von Gästen getroffen worden, die die Gräfin jedoch kaum beachtete – ihr fiel es vor allem auf, daß auf dem Tische ein Schreibzeug stand – was man in Schlafstuben der damaligen Zeit selten fand – und sofort kam ihr der Gedanke, an Leicester zu schreiben und verborgen zu bleiben, bis sie Antwort von ihm erhalten hätte.
Der Mann, der sie in diesen behaglichen Raum gebracht hatte, fragte höflich Wieland, dessen Freigebigkeit er kennen gelernt hatte, ob er noch etwas für ihn tun könnte. Auf den zarten Wink hin, daß eine kleine Erfrischung sehr erwünscht sei, führte er den Schmied sofort in das Vorratsgewölbe, wo Speisen aller Art in gastlicher Fülle für alle, die danach fragen mochten, aufgestellt waren. Wieland erhielt bereitwilligst ein paar leichte Bissen, wie sie seiner Meinung nach dem geschwundnen Appetit der Lady am besten zusagen würden, und er ließ die Gelegenheit nicht vorübergehen, selber eine kräftigere und reichlichere Mahlzeit einzunehmen. Dann kehrte er in das Turmgemach zurück, wo die Gräfin ihren Brief an Leicester eben beendet hatte. An Stelle eines Siegels und seidnen Fadens hatte sie ihn mit einer Flechte ihres eignen schönen Haares zugebunden, die sie zu einem sogenannten »Knoten wahrer Liebe« zusammengeschlungen hatte.
»Guter Freund,« sagte sie zu Wieland, »den mir Gott in meiner äußersten Not gesandt hat, ich ersuche Dich, diesen Brief an den Earl of Leicester zu besorgen; es wird die letzte Mühe sein, die Ihr um eine unglückliche Dame haben sollt. Mag der Brief aufgenommen werden, wie er wolle,« setzte sie hinzu mit einem Ausdruck zwischen Furcht und Hoffnung, »Du guter Bursche, sollst keine Not mehr mit mir haben. Aber ich hoffe das Beste, und wenn je eine Dame einen armen Mann reich gemacht hat, so hast Du es sicher von meiner Hand verdient, wenn mir jemals das Glück wieder lächelt. Gib, ich bitte Dich, den Brief Lord Leicester nur persönlich in die Hand und merke wohl, wie er ihn aufnimmt.«
Daß die Dame, statt nach ihrer Flucht aus Cumnorplace sich zu ihrem Vater zu begeben, was doch das Natürlichste gewesen wäre, und so sich der Macht derer zu entziehen, die sie in so dringende Gefahr gebracht hatten, im Gegenteil sich hatte nach Kenilworth bringen lassen, vermochte Wieland sich nur so zu erklären, daß sie die Absicht habe, sich unter den Schutz Tressilians zu stellen und die Königin selber um Beistand anzurufen. Anstatt aber dieses natürliche Verfahren zu wählen, vertraute sie ihm jetzt einen Brief an Leicester an, unter dessen Gutheißung, wenn nicht ausdrücklicher Beeinflussung ihr all das Uebel zugefügt worden war, das sie bereits erlitten hatte. Dies erschien Wieland als ein unsichres und obendrein gefährliches Verfahren, und Wieland erkannte sogleich, daß er sich erst den Rat und Beistand eines Beschützers sichern müßte, ehe er diesen Auftrag ausführen konnte, ohne dabei die Dame und sich selber in ernste Gefahr zu bringen. Er beschloß daher, ehe er den Brief an Leicester bestellte, Tressilian aufzusuchen und ihn von der Ankunft der Dame in Kenilworth in Kenntnis zu setzen. Auf diese Weise entledigte er sich aller weitern Verantwortlichkeit und übertrug die Aufgabe, die unglückliche Dame zu führen und zu schützen, auf den Gönner, der ihm zuerst den Auftrag erteilt hatte, der Dame seine Dienste zu widmen.