Robert Schweichel
Um die Freiheit
Robert Schweichel

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Neuntes Kapitel.

Stephan von Menzingen verließ mit den Seinigen zeitiger als alle anderen das Fest. Er hoffte daheim eine Erklärung darüber vorzufinden, was den Herzog bewogen hatte, sein Unternehmen, das für den Anfang des Frühlings geplant war, schon jetzt, um die Mitte des Monats Februar, ins Werk zu richten, Ein Diener leuchtete mit einer Fackel voran. Max führte der Sitte gemäß seine Tänzerin an der Hand. Sie gingen in einem wortlos beredten Schweigen. »Schlafet süß,« wünschte Max dem Mädchen leise beim Scheiden. Sie bewegte ein wenig die Lippen, allein ihre Antwort wurde nicht zu vernehmbaren Worten. Es bedurfte deren für Max nicht; denn der leise Druck, mit dem ihre schlanken Finger dabei seine Hand umspannten, ward für ihn zum Dolmetscher ihres Herzens.

Der Ritter fand keine Botschaft vor, was ihn so übler Stimmung machte, daß seine Gattin ihn besorgt um die Ursache fragte. Er antwortete gereizt, ob sie denn auf dem Tanzhause nicht vernommen hätte, daß Herzog Ulrich im Begriff stände, sein Fürstentum zurückzuerobern?

»Das wolle Gott nicht!« rief sie betroffen.

»Mit Gewalt ward's ihm genommen, mit Gewalt nimmt er es wieder. Das ist die Ordnung der Welt.«

»Eine entsetzliche Ordnung,« seufzte Frau von 180 Menzingen. »Wie viel Blut unschuldiger Menschen wird darum wieder vergossen werden!«

»Was kommt es darauf an!« versetzte er schroff. Gemäßigter fuhr er fort: »Übrigens ist der Herzog im Unglück ein besserer Mann geworden, und die Württemberger werden es hinfüro gut unter ihm haben, besser als die Leute hier unter diesem verrotteten Patriziat. Ich, meines Teils, möchte lieber einem Haupte gehorchen, als diesen Geschlechtern; denn soviel Köpfe, soviel Blutegel am gemeinen Wohl.«

»So hoffest Du immer noch auf den Herzog?« fragte sie mit einem eindringenden Blicke, der ihn einigermaßen verwirrte.

»Der Herzog war mir stets ein gnädiger Herr, wie auch die Markgrafen von Ansbach-Bayreuth,« antwortete er ausweichend. »Die Ereignisse sind mächtiger als des Menschen Willen.«

Die Frau schwieg mit der traurigen Überzeugung, daß die Tage der Heimsuchung für sie und die Ihrigen noch nicht vorüber wären, wie er sie hatte hoffen lassen. Die Sorge, insbesondere um Else, in deren Herzen sie besser Bescheid wußte, als diese selbst, hielt den Schlaf von ihren Lidern fern.

Und der Gedanke an Else war es, der auch Max wach erhielt. Wohl war er sich bewußt, daß er sie liebte, allein die beseligende Ahnung, in der er von ihr geschieden war, wollte in der Einsamkeit nicht Farbe halten. Er konnte sich getäuscht haben, er hatte sich gewiß getäuscht: das Glück, von ihr geliebt zu werden, dünkte ihm zu groß, als daß es wirklich sein könnte. Schmerzliche Zweifel, die dennoch voll Süßigkeit waren, beunruhigten ihn, Wenn er sich aber nicht täuschte und ihr Herz ihm entgegenschlug, was sollte werden, da er kein Vermögen besaß und es noch eine gute Weile dauern dürfte, bis seine Advokatur einträglich genug war, um einen eigenen Herd zu gründen? Das wäre unter gewöhnlichen Umständen kein großes 181 Hindernis gewesen, um Else sogleich zu seinem Weibe zu machen. Denn es war Sitte, daß der Sohn die Gattin in sein elterliches Haus führte und die Eltern dessen Haushalt unterstützten, bis er auf eigenen Füßen stehen konnte. Die Patrizierhäuser waren geräumig genug, um zwei Familien zu beherbergen, auch das Konrad Eberhards. Bei dem gespannten Verhältnisse zwischen seinem Vater und ihm konnte Max nicht daran denken, diesen alten Gebrauch für sich in Anspruch zu nehmen, selbst wenn es sein männlicher Stolz zugelassen hätte. Ebenso war es auch ausgeschlossen, daß sein Vater für ihn bei dem Ritter von Menzingen um Elses Hand würbe. Er mußte sein eigener Freiwerber sein. Wies ihn das Zerwürfnis mit dem Vater auf sich selbst und hielt er es für unvermeidlich, daß ihre beiden Wege eines Tages sich vollends scheiden mußten, um so größeres Bedenken trug er, Elses Herz hinter dem Rücken ihrer Eltern sich zu sichern und ihre Liebe heimlich, wie ein Dieb einen gestohlenen Schatz, zu genießen. Nein, so ungünstig die äußeren Verhältnisse für ihn lagen, er wollte zuerst mit den Eltern sprechen. Verweigerten sie ihm die Hand der Tochter, schon der Gedanke daran erfüllte seine Brust mit brennendem Schmerze, so mußte er es eben tragen; Else aber war und blieb frei und auf der Ehre beider lastete kein Vorwurf.

Von solchen Erwägungen, die nur schwer zu einem festen Entschlusse sich gestalten wollten, schmerzlich hin und her geworfen, vermochte er am nächsten Morgen seinen Geschäften kaum die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zum Glücke für seinen Seelenzustand war er kein überlaufener Advokat, und etwa eine Stunde vor dem Mittagessen konnte er seine Schreibstube verlassen, um sich höflicherweise zu erkundigen, wie Frau von Menzingen und seiner Tänzerin das gestrige Fest bekommen wäre. Er fand nur die Mutter und deren Gatten. Letzterer, der in 182 der Stube auf- und abging, rief ihm sogleich mit erzwungener Lustigkeit die Frage entgegen: »Nun, Doktor, was saget Ihr zu des Herzogs Ulrich Fastnachtsscherz? Habet Ihr neuere Nachrichten, etwa von Wendel Hipler?« Max, dem das Unternehmen des Herzogs in diesem Augenblicke ferner als der Nordpol lag, wußte nichts Neues, noch hatte er Briefe erhalten.

»Er scheint alle Welt überrumpelt zu haben«, rief Stephan von Menzingen unangenehm enttäuscht. »Nun sitzen drüben die ehrsamen, günstigen, lieben Herren,« fuhr er fort, die vorschriftsmäßige Anrede des Rates verspottend, und deutete mit der Hand nach dem Rathause, »und ratschlagen über das Aufgebot der eilenden Hilfe, so der Bundesausschuß verlangt haben wird.«

Unter der eilenden Hilfe wurden die Mannschaften zu Fuß und zu Roß begriffen, die jeder Bundesstand im Kriegsfalle zu stellen hatte. Stephan von Menzingen irrte sich in seiner Annahme nicht; nur handelte es sich bloß um ein Dritteil der matrikelmäßigen Hilfe, die spätestens in vierzehn Tagen auf den Sammelplätzen sich einfinden sollte. »Wie die Raben sah ich sie über den Markt zu Hauf kommen. Da es aber im Reich nur das wenige Kriegsvolk gibt, welches der Truchseß Jörg für den Erzherzog geworben hat, so werden die Herren gestern abend zu früh ihr Halali geblasen haben.«

Was Max hierauf bemerken wollte, blieb unausgesprochen. Denn Else betrat, von einem Ausgange zurückkehrend, in einem schlichten dunklen Mantel und schmucklosem Barette das Gemach. Sie errötete, als sie des Besuches ansichtig wurde. Daß es nicht aus Verlegenheit geschah, verriet der Anflug eines Lächelns um ihren rosigen Mund, als Max sie begrüßte. In ihren dunkelblauen Augen lag ein stilles Leuchten. Sie kam aus dem Münster, wohin ein Diener sie begleitet hatte, weil die Mutter sich von dem gestrigen Feste etwas ermüdet fühlte. Das Verlangen, nach dem 183 Rohen und Häßlichen, was sie auf dem Tanzhause gesehen und gehört, gleichsam ein reinigendes Bad zu nehmen, hatte sie nach St. Jakob getrieben, und sie kehrte wie eine Geheiligte zurück.

»Daß ich's nicht vergesse, Herr Vater,« sagte sie zu diesem und legte Mantel und Barett ab, »auf der Diele steht ein Bauer, der Euch zu sprechen begehrt. Er hat einen Brief, den er nur Euch selbst abgeben will.«

»So entschuldigt mich, lieber Doktor,« ersuchte Stephan von Menzingen den Gast und eilte aus der Stube.

Else war unterdessen neben den Stuhl der Mutter getreten, auf dessen hoher, steifer Lehne sie sich leicht mit der einen Hand stützte. Max saß ihnen mit dem Gedanken gegenüber, daß die günstige Gelegenheit, seinen Wunsch den Eltern vorzutragen, für heute entschlüpft war.

Sein Auge aber entzückte sich an der schlanken, zierlichen Mädchengestalt, die hold und blühend dem sorgenvollen Alter zur Seite stand.

»Es wird die Botschaft sein, die mein Gatte schon seit gestern Abend mit großer Ungeduld erwartet,« sagte Frau von Menzingen, sobald der Ritter sich entfernt hatte. »Als ob die Unruhe, in der wir leben, noch nicht groß genug ist, so muß nun dieses Unternehmen des Herzogs die Verwirrung und Aufregung noch vermehren.«

»Freilich, gnädige Frau,« pflichtete Max ihr bei. »Um so dringender die Aufforderung an diejenigen, so durch die Bande des Blutes, oder durch den Gleichklang der Herzen zu einander gehören, sich fester zusammen zu schließen. Denn woraus,« verfolgte er sich, indem seine Augen sich mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdruck auf Else hefteten, »woraus sollten sie in dieser Zeit Mut zum Kampfe und, wenn es sein muß, zum Erdulden schöpfen, wenn nicht aus ihrer Liebe?«

Else umschlang den Nacken der Mutter und drückte gegen deren bleiche Wange ihr in heißem Purpur 184 flammendes Gesicht. Frau von Menzingen erschrak vor der plötzlichen Bestätigung ihrer Ahnungen. Der Geringschätzung ihres Gatten gegen den Stadtadel, wie hoch er auch Max achten mochte, und seinem hochfliegenden Ehrgeize war wohl nur schwer, wenn überhaupt, die Einwilligung zu diesem Herzensbündnis abzuringen, vollends jetzt, wo der Aufstand des Herzogs die Segel seiner geheimen Pläne mit frischem Winde zu blähen schien.

»Verzeihung, edle Frau, daß ich mich von dem Augenblicke fortreißen ließ,« nahm Max von neuem das Wort und suchte sich zu beherrschen. »Ich kam in der Absicht her, den Eltern meine Verhältnisse darzulegen und sie entscheiden zu lassen, ob ich das Recht haben sollte, dem Fräulein als ihr Gatte in dieser verhängnisvollen Zeit zur Seite zu stehen. Das Fräulein wußte nicht darum und sie ist freie Herrin ihrer Hand.«

Da richtete Else sich vom Halse der Mutter auf und reichte ihm die Rechte. Mit Inbrunst ergriff er sie. Aus den Augen beider leuchtete das feste Vertrauen aufeinander.

»Ach, Ihr machet die Rechnung ohne den Vater,« seufzte Frau von Menzingen bewegten Herzens. »Er muß erst gewonnen werden und dazu bedarf es der Zeit. Jetzt mit ihm reden, würde alles verderben. Ihr müsset Eure Ungeduld noch zügeln. Mein Segen entgehet Euch nicht, lieber Doktor, und ich weiß, daß mein Gatte ein großes Vertrauen auf Euch hat, aber Ihr werdet einsehen, daß es ihm widerstreben muß, schon jetzt sein Jawort zu geben und Euch dadurch vor der Welt an sein Interesse zu ketten, während dieser unselige Rechtshandel, der einen Schatten auf seine Ehre geworfen hat, noch nicht beendet ist. Das leidet sein Stolz nicht.«

Max mußte diesen Grund gelten lassen, wie sehr es seinem offenen Charakter widerstrebte, sein Verhältnis zu Else vor der Welt zu verschleiern. Er zog die Hand, in der nun seiner Liebe Geschick ruhte, mit Dank und Ehrfurcht an seine Lippen. Else aber umarmte die 185 Mutter, deren Augen feucht wurden, und küßte sie zärtlich. Dann warf sie sich verschämt und verklärt in die Arme des Geliebten, der sie in stummem Glück an sich drückte.

Stephan von Menzingen störte die Liebenden nicht, deren Schifflein die Mutter einstweilen vor dem Scheitern bewahrt hatte. Der Mann, der ihn zu sprechen begehrte, hatte ihm ein Schreiben aus Kaufbeuren überbracht und war, mit einem reichlichen Botenlohn bedankt, wieder fortgeritten. Der Brief kam von dem Kanzler des Herzogs, dem Ritter und Doktor Johannes von Fuchsstein, und Herr Stephan erbrach ihn hastig. Der Inhalt war wenig erbaulich. Die Ungeduld, wieder in den Besitz seines Landes zu kommen, und hauptsächlich Geldmangel hätten den Herzog sein Spiel vor der Zeit anheben lassen. König Franz hätte seine Zusagen nicht ganz zu erfüllen vermocht, da er selbst des Geldes zu seinen Rüstungen wider Kaiser Karl bedürfe, und von den Juden sei nicht ein Pfund Heller zu erlangen gewesen. Herzog Ulrich sei außer stande, die geworbenen Kriegsvölker noch bis zum Beginn des Frühjahrs zu besolden und hätte befürchten müssen, daß die Schweizer abzogen und seine ganze Macht wie Schnee in der Sonne zerschmolzen wäre, wenn er jetzt nicht losschlüge. So sei er denn mit sechstausend Fußknechten und zweihundert Reitern, mit drei großen Kartaunen, drei Schlangen und vier Falkonettlein von Hohentwiel aufgebrochen und zöge unmittelbar auf Württemberg, wo er sicher sei, mit offenen Armen empfangen zu werden. Auch sei noch in den letzten Tagen ein Bündnis mit dem Führer der Schwarzwaldbauern zustande gekommen. Noch ehe der Bund auf sein könnte, würde der Herzog in Stuttgart einziehen, wo er die Fastnacht zu feiern gedenke und sich auf dem Schlosse bereits ein Bett bestellt habe. »So Euch dieses Schreiben zu Händen kommt,« schloß der Fuchssteiner, »bin ich bereits im Lager Sr. Gnaden, 186 des Herzogs; von dort oder spätestens von Stuttgart aus erhaltet Ihr weitere Nachricht.«

Der Empfänger warf das Schreiben mit bitterem Verdruß auf den Tisch. Alles, was das Unternehmen des Herzogs hatte unterstützen sollen, war erst im Werden begriffen, die Lunte angezündet, ehe noch die Mine geladen war. Fuchsstein hatte wohl recht, das Gewebe, das er in Kaufbeuren begonnen, fallen zu lassen. Denn gelang es dem Herzog, spätestens in vierzehn Tagen in Stuttgart zu sein, dann bedurfte es der überall hingesponnenen Intriguen nicht mehr, und mißglückte das Abenteuer, dann konnte ihn das unfertige Gewebe nicht retten. Stephan von Menzingen sann in schweren Sorgen. Alle seine persönlichen Interessen wiesen ihn darauf hin, von dem in Rothenburg begonnenen Werke die Hand nicht abzuziehen. Wenn er es übernommen hatte, das Regiment der Geschlechter zu stürzen, so war es, um an diesen für den Unglimpf, den er einst von ihnen erfahren hatte, Vergeltung zu üben, indem er die Sache des Herzogs förderte. Dem Beispiele des Fuchssteiners folgen, hieß der Rache entsagen und vor dem Rate sich demütigen. Das war seinem hochfahrenden Sinne ebenso unmöglich, wie seiner Vermögenslage. Nein, er durfte die Hände jetzt nicht in den Schoß legen. Triumphierte der Herzog, so war es immer noch Zeit für ihn, zurückzutreten; unterlag er, so hatte er an der Bürgerschaft einen Rückhalt.

Mittlerweile verbreitete sich die Kunde von dem Abenteuer des Herzogs und drang auch in die Werkstatt auf dem Kapellenplatze, wo Hans Lautner an dem Modell eines Pokals bosselte, den, in Silber getrieben, die Hauptleute der sechs Wachen dem Stadthauptmann Albrecht von Adelsheim zu seiner Hochzeit verehren wollten. Es versprach ein sauberes Stück zu werden, mit Laubgewinden, Früchten, Masken und Figürchen geziert. Meister Ellwanger beschäftigte außer dem blonden Schwaben noch zwei Gesellen und zwei Lehrlinge. Hans 187 aber war von ihnen der geschickteste und fleißigste, und seit den letzten Wochen besonders gönnte er sich nicht Ruhe noch Rast. Er wollte an nichts anderes als an seine Kunst denken, aber es gelang ihm schlecht. Käthe hatte den Zauber der schönen Gabriele nicht zu brechen vermocht. Das frische, in sich selbst sichere Wesen Käthes tat ihm so wohl wie dem Wanderer ein kühler Labetrunk an schwülem Tage. Er war ihr gut, daran war kein Zweifel, und wenn er in Ohrenbach an ihrer Seite saß, ihrem Geplauder zuhörte, sie ihn aus ihren nußbraunen Augen mit inniger Zärtlichkeit anblickte, ihm die jugendlich kernigen Lippen zum Kusse bot, er ihre Gestalt an sich drückte, dann glaubte er wohl selbst, daß er sie liebte. Kehrte er aber nach Rothenburg zurück, atmete er wieder dieselbe Luft wie Gabriele, sah er diese gar, dann war alles weggelöscht und vergessen. Ach, und nicht nur dann! Geschah es doch, daß in seinen Gedanken an Käthe diese in Gabriele sich verwandelte, daß er deren Busen an seiner Brust fühlte, ihren Mund küßte, während er Käthe liebkoste. Und vollends gestern! So verführerisch schön wie gestern in ihrem goldgelben Atlaskleide und den nackten Schultern war Gabriele ihm nie vorgekommen. Wie sollte das enden? Wie aus seiner Schuld gegen Käthe er sich lösen? Nicht zum ersten Male grübelte er darüber, ob es nicht am besten wäre, daß er Rothenburg verließe und nach Nürnberg, wohin ihn seine Kunst von Anfang an gelockt hatte, weiter wandere?

Über diesem Grübeln vernahm er die quakende Stimme Wilhelm Bräunleins, eines biederen Spezereihändlers, der seinem Gevatter, Meister Ellwanger, von der Kriegsfahrt des Herzogs erzählte. »Äh, äh, äh,« schloß er seinen Bericht und schüttelte seinen spitz zulaufenden Kopf, der auf einem langen Halse saß, »nimmer was Gutes, nichts wie Unruhen. Wie sollen dabei Handel und Wandel gedeihen?«

»Nu, man muß sich halt in die Zeitläufte schicken, 188 Gevatter«, erwiderte der Meister philosophisch. »Raufen ist mal die Art großer Herren; es liegt ihnen im Blut.«

»Und wir Bürger müssen dabei die Haare lassen«, quakte der Krämer. »Was wir brauchen, ist Ruhe; Ruhe, sag' ich, Gevatter!« Giftig fuhr er fort, während das Glöcklein der Marienkapelle das Ave-Maria läutete: »Aber diesmal sollte der Schwäbische Bund an dem Friedensbrecher ein Exempel von einem Beispiel aufstellen. Und überhaupt, was unterhandeln die Obrigkeiten hier und dort mit den widerhaarigen Bauern? Über die Köpfe gehauen, gespießt, gevierteilt, so gehört sich's.«

»Um Gott, Gevatter, die Furcht macht Euch ja zu einem blutdürstigen Tyrannen,« rief der Goldschmied belustigt. »Feierabend! Kommt in mein Stübele und löschet Euren Durst, anstatt in Fürsten- und Bauernblut, mit einem Becher Schalksberger!« Damit führte er ihn über den Hof in das Vorderhaus.

Hans erinnerte sich, wie er vor sechs Jahren mit der Ahne in Böckingen bei Jäcklein Rohrbachs Wirtshaus gestanden und die von Florian Geyer befehligten Fähnlein gen Stuttgart hatte vorüberziehen sehen, nachdem sie den Widerstand der Herzoglichen bei Möckmühl gebrochen und Götz von Berlichingen gefangen genommen hatten. Die Ahne hatte mit wildem Gebet ihre Waffen gesegnet und ihnen zugerufen, daß sie den Herzog nicht lebend auslassen sollten. Und jetzt war er wieder da und das furchtbare Ende seines Vaters, der Tod seiner Mutter schrien noch immer ungesühnt gen Himmel. Es war ihm, als ob er das grimmige Hohnlachen seiner Großmutter hörte. Er räumte hastig seinen Werktisch auf und sprang zu seiner Dachkammer hinauf, wo er, von dem Zwange erlöst, den ihm die Gegenwart der anderen auferlegte, sich seinem gärenden Gefühl frei überlassen konnte.

Am Sonntag vor Fastnacht, welche auf den letzten Februar fiel, ging Hans mit einem festen Entschlusse 189 nach Ohrenbach und Kaspar begleitete ihn. Es war noch früh und die Luft so gesänftigt, als ob das Jahr schon bis tief in den März vorgerückt wäre. Die Wintersaaten kleideten die Felder in ein helles Grün, das den düsteren Ernst der Tannenwälder auszulachen schien. Die beiden Freunde verfolgten die große Heerstraße, die manchen Bogen schlug, nur eine kurze Strecke, worauf sie den näheren Weg nahmen, der links gerade aus zum Steinbachtale und jenseits nach dem Dorfe Gattenhofen führte. Hans ging sinnend dahin und Kaspar ließ ihn ungestört. Er war es von ihren Spaziergängen her gewöhnt, daß Hans wenig sprach. Er pfiff und sang für sich, bis sie an den Stäffleinsbrunnen kamen, bei dem sich das wildschöne Steinbachtal vor ihnen auftat. Der Brunnen zeugte allein noch davon, daß hier einst das Dorf Obersteinbach gestanden. Der Rat hatte es einige achtzig Jahre vorher abbrechen lassen, um die Einwohnerschaft der Stadt zu vermehren. Kaspar trank von dem köstlichen, durch Sandstein quellenden Wasser. »Trink auch, Hänslein, das macht den Kopf frisch und klar,« forderte er den Freund auf, indem er sich von der Brunnenröhre aufrichtete. »Was sinnierest Du so an dem schönen Tag?«

Hans verspürte keinen Durst. »Ich dachte so, ob ich diesen Weg noch oft machen werde,« gab er zur Antwort. »Ich glaub' halt nit.«

»Ja, wie meinst Du denn das? Warum nit?« fragte Kaspar erstaunt.

»Komm nur!«

Sie stiegen in die stille Wildnis hinunter, durch welche die beiden Lindach- oder Lindleinseen, von denen der größere nunmehr trocken gelegt ist, zur Tauber abflossen.

»In dem Tal hier bin ich manchen schönen Sonntagmorgen herumgestrichen,« äußerte Hans. »Ist gar so wundersam einsam hier, daß nur selten einmal ein Mensch zu schauen ist und nichts zu hören, als der 190 Wind in den Baumwipfeln, der Vögelein Sang und das Murmeln des Baches.«

»Und dann kriegtest Du Deine Pfeife her und spieltest darauf, just so, als wie ich Dich auf unserer Wanderschaft traf,« fiel Kaspar ein.

»Wohl auch,« lächelte Hans. »Es geht einem da manches durch den Sinn, was gar nicht zu sagen ist, selbst wenn es einer wollte. Zuweilen hab' ich es mir ausgesonnen, wie das herrlich sein müßte, wenn es auf der Welt keine Fürsten und Herren, keine Pfaffen und Junker, keine Leibeigenen und Hörige mehr gäbe, sondern lauter freie Menschen. Was meinst Du, Kasperl, ob eine solche Zeit wohl mal kommen wird?«

»Nein, das gibt's nit,« versetzte dieser, ohne sich zu besinnen. »Denn es ist was Teuflisches im Menschen, das ihn immer dazu stößt, den Schwächeren unter die Füße zu treten. Schau, wie's unter den Meistern rumort! Wie sie das Maul voll nehmen und nach Freiheit schreien! Aber sie meinen halt nur die eigene Freiheit, und wenn sie wirklich in den Rat gelangen, nachher können wir Gesellen uns den Mund wischen.«

»Ich glaub's doch,« sagte Hans mit einem sinnenden Ausdruck in seinen blauen Augen. »Es wird kommen, wie es die Ahne prophezeit hat und Du wirst es noch erleben, daß es besser wird.«

»Und Du nicht?« fragte Kaspar mit einem Anflug von Ungeduld.

»Ich weiß nit; wenigstens nicht in Rothenburg,« antwortete Hans mit einem tiefen Atemzuge. »Als mir gestern der Meister meinen Wochenlohn zahlte, hab' ich ihm aufgesagt. Meine Zeit hier ist um.«

Kaspar blieb wie erstarrt stehen. »Wa–as?« lallte er.

»Ich kann hier nichts mehr lernen,« wandte Hans vor. »Wann der Pokal fertig ist, schnür' ich mein Bündel. So lang' noch hab' ich dem Meister zu bleiben versprochen.«

»Nichts mehr lernen?« wiederholte Kaspar noch wie 191 betäubt; dann aber brach er heftig los. »Und alle Gewalt, die an Deinen Leuten geschehen ist, die soll ungerochen bleiben, was?«

»Nein, lieber Bruder,« versicherte Hans. »Aber mich dünkt, daß ich noch länger Geduld haben muß. Jetzt, wo von wegen dem Herzog Ulrich der Bund rüstet, ist die Gelegenheit für uns wahrlich nit gut. Aber das tut nix. Wann der Bundschuh aufgeworfen wird, ich werd' nit fehlen, wo ich dann auch sein mag, das glaube mir.«

»Ja, das glaub' ich Dir; aber das von wegen dem Lernen, das glaub' ich nit!«

»Laß' uns weiter gehen,« forderte Hans ihn auf, seinem scharfen Blicke ausweichend.

»Freilich, freilich,« murmelte Kaspar, indem er sich in Bewegung setzte, und nach einer Weile fügte er vorwurfsvoll hinzu: »Daß Du mir das antun kannst, Hänselin! Jetzt ist meine ganze Sonntagsfreud' hin. – Und ich hab' Dich allewege gewarnt vor der – der –«

»Sei still, ich bitt' Dich,« unterbrach Hans ihn schnell.

»Schon gut,« murrte Kaspar.

Jenseits des Baches, den sie von Stein zu Stein übersprangen, blieb Kaspar wieder stehen. »Und Käthe?« fragte er.

Die schmalen Wangen des jungen Goldschmiedes wurden dunkelrot. »Das ist's just, was mir am schwersten auf dem Herzen liegt,« seufzte er.

»Du darfst nicht fort,« rief Kaspar mit Entschiedenheit. »Um ihretwillen darfst Du nit. Ich bitt' Dich um Gottes willen, Hänselin, tu' ihr das nicht an. Sie hat Dich ja ganz in ihr Herz geschlossen. Schon am Dreikönigstag hab' ich's gemerkt.«

Hans sah ihm mit einem langen, tiefen Blick in die Augen; dann sagte er leise: »Und damals hätt' ich auch merken können, daß Du –. Ich war halt blind.«

»Ach was, ich!« rief Kaspar ärgerlich. »Ich pass' nit zu ihr und ich gönne Dir ihre Lieb' von Herzen. Meinst Du etwan, daß es nicht noch saubere Maidelin genug 192 auf der Welt gibt? Ich kenn' schon noch manche.« Er lachte.

Hans ergriff und schüttelte bewegt dessen Hand. »Du bist ein guter Kerl! Ich hätt' ihre Lieb' nimmer annehmen sollen. Vielleicht, wann ich sie früher gekannt hätte! Jetzt war's gefehlt.«

»Ich begreif' nit, wie's möglich ist, wann einer mit offenen Augen die beiden Madlen vergleicht,« schüttelte Kaspar den Kopf. »Aber laß Dir Zeit, Hans!« Er faßte diesen unter dem Arm und sie stiegen unter den entlaubten Buchen den nördlichen Talrand hinauf nach Gattenhofen. Ein wehmütiges Lächeln umspielte die blaßroten Lippen des jüngeren Gesellen. »Ich würd' sie bloß unglücklich machen und mich dazu,« sprach er. »Du weißt jetzt alles, Kaspar, und mir ist das Herz leichter. Wann ich erst mit der Käthe gered't haben werde, nachher mag mit mir geschehen was will. Sie soll Dich kennen lernen, wie ich Dich kenne, und ich will mein Leben lassen, wenn ihr zwei beide nicht noch glücklich miteinander werdet.«

Kaspar machte sich mit einem erregten Lachen über sich selbst lustig. »Als ob Du Dich in mir auskennst! Nix wirst Du dem Käthelein von mir sagen, ich will's nit. Sie weiß besser Bescheid als Du, was ich für ein grobes, lüderlich gewobenes Stück Tuch bin.«

»Freilich, Du bist ein rechter Haderlump,« versuchte Hans auf seinen Ton einzugehen.

Sie hatten die Höhe von Gattenhofen erreicht und verschnauften ein wenig, bevor sie ihren Weg wieder unter die Füße nahmen. Ihre Blicke schweiften über die ausgedehnten Waldungen der hügeligen Hochebene. Im Nordost erhoben sich die Giebel und Türme des Schlosses Endsee, im Norden ragte aus dem dunklen Tannengrün die Kirchturmspitze von Ohrenbach auf. Zur Rechten der beiden Wanderer zog die Heerstraße an Gattenhofen sich heran, wand sich zwischen Hügeln weiter und verlor sich im Wald. Lautners Blicke blieben 193 an dem Schloß hängen, auf dem ein Banner im Winde flatterte.

Dort herrschte schon seit Mitte der Woche ein geräuschvolles und überschäumendes Leben. Fluren und Wälder erschallten mit dem frühen Morgen von Hifthörnern und Rüdengebell; Hirsch, Rehbock und Wildschwein wurden gepürscht und gehetzt, Enten, Birkhühner und Fasanen mit der Armbrust oder dem Handrohr geschossen und zur Reiherbeize die Falken steigen gelassen. War die reiche Beute im Schloßhof bei Fackelschein zur Strecke gebracht, dann ging es zur Tafel, und Tanz, Spiel und Gelage schlossen den Tag. Georg von Wernizer, genannt Böheim, weil einer dieses ältesten Geschlechts der Stadt eine Gesandtschaft zu Kaiser Sigismund in Böhmen geführt hatte, pflegte jährlich eine solche große Jagd ausgangs des Winters zu veranstalten. Er stattete damit seinen Dank für die Einladung zu den patrizischen Lustbarkeiten in der Stadt ab, an denen er nur teilnahm, wenn sie einen offiziellen Charakter trugen. Die rasche Tat seiner Jugend warf einen Schatten über sein Gemüt, den der frühe Tod seiner Gattin vertiefte. Er war ein wortkarger, verschlossener Mann; dabei streng, aber gerecht, insoweit bei Zuständen, in denen ausschließlich der Wille der Herrschenden das Gesetz macht und handhabt, von Gerechtigkeit die Rede sein kann. Gewannen die finsteren Geister über ihn Macht, dann griff er zum Becher. Karten und Würfel rührte er seit der Bluttat auf der Herren-Trinkstube nicht mehr an. Eine arme Verwandte versah an dem Knaben, der seiner kurzen Ehe entsprossen war, Mutterstelle und vertrat die Schloßfrau.

Die Junker von Rothenburg waren der Einladung des Zentamtmannes in großer Zahl gefolgt und unter seinen weiblichen Gästen befanden sich auch Sabine und Gabriele. Der Bräutigam der ersteren, Albrecht von Adelsheim, hatte die beiden Mädchen begleitet. Die 194 schöne Gabriele erwarb sich den Ruf einer kühnen und unermüdlichen Jägerin. Als man am Samstag eben zur Tafel gehen wollte, traf noch ein Gast ein, dessen Erscheinen die Mehrzahl höchlich erstaunte. Es war der Junker Zeisolf von Rosenberg. Als Georg von Wernizer seinerzeit aus Rothenburg hatte fliehen müssen, hatte er sich wochenlang bei dem damals noch lebenden Vater Zeisolfs auf Haltenbergstedten aufgehalten. Daher die Bekanntschaft, infolge deren Zeisolf von Rosenberg regelmäßig zu den großen Jagden auf Endsee eingeladen, seitdem Herr von Wernizer hier Schultheiß war. Die Rothenburger Patrizier waren ihm bei der Gelegenheit schon in früheren Jahren begegnet. Aber es befremdete sie, daß er sich ungescheut auf Rothenburger Gebiet und in ihre Gesellschaft wagte, nachdem er nun eben dem Rate in unzweideutigster Weise seine Mißachtung bewiesen hatte. Während der Schloßherr ihn wie immer empfing, zeigten ihm viele von den Stadtjunkern die kalte Schulter, was er seinerseits unbeachtet ließ und unbefangen an der Tafel Platz nahm. Er war der letzte Mann, der sich von irgend jemand imponieren ließ.

Gegen die weiblichen Gäste hatte er sich mit einer allgemein flüchtigen Verbeugung abgefunden und sich nicht weiter um sie bekümmert. Vielleicht hatte er bemerkt, daß Gabriele bei seinem Eintritt finster die Brauen krauste, und daher es unterlassen, sich ihr zu nähern. Sabine, die eine gute Beobachterin war, bemerkte zu ihrer Verwunderung, daß er auch bei Tische keinen einzigen Blick zu ihrer schönen Freundin schickte, und sie schob es hierauf, daß diese ungewöhnlich heiter war. Sie bemerkte ferner, wie die Stimmung gegen Zeisolf von Rosenberg während der Abendtafel in ihr anfängliches Gegenteil umschlug. Ja der Umschlag war so völlig, daß der Nachttrunk der Männer, nachdem sich die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft zurückgezogen hatten, zu einem wüsten 195 Gelage ausartete, dessen Seele der Rotbart war. Die Weinfärbung ließ sein Benehmen gegen den Rat als einen tollen Streich in den Augen der Stadtjunker erscheinen. Seine Trinkfähigkeit erregte Bewunderung und der grobe Zynismus, mit dem er die Becher würzte, wieherndes Gelächter. Die Knechte mußten manchen Toten aus dem Saale zu Bette schaffen, Zeisolf von Rosenberg behauptete als Sieger das Schlachtfeld. Trotzdem war er am anderen Morgen einer der ersten auf, als die Hifthörner erklangen und die Meute darob ihr jagdgieriges Geheul erhob.

Das schwere Gelage verzögerte das Frühmahl und es wurde verhältnismäßig spät, ehe die Gesellschaft die Pferde bestieg, bei deren Sattelung Zeisolfs Reitknecht eifrig geholfen hatte. Als er seinem Herrn den Jagdklepper vorführte, sagte er leise: »Es ist alles besorgt,« und der Junker von Rosenberg raunte, indem er sich in den Sattel schwang: »Behalte mich im Auge.« Er befand sich unter den letzten, die den steilen Schloßberg hinunter ritten und, wie gestern, so hielt er sich auch heute von der schönen Gabriele fern, die etwas bleich aussah. Sie habe schlecht geschlafen, erklärte sie auf die teilnehmend an sie gerichteten Erkundigungen.

Der Waldvogt führte die Jäger nach einem Schlage, in dem ein Vierzehnender seinen Stand hatte. Der Vorstehhund wurde hineingelassen, und nicht lange, so verkündete sein Läuten, daß er auf der Spur des Hirsches war. Die Meute wurde entkoppelt und die Jäger folgten dem führenden Waldvogt. In wildem Jagen ging es gen Westen.

Plötzlich zügelte Gabriele ihren Rappen und ließ sich zu Boden gleiten, während die anderen achtlos weiter stürmten. Sie hatte bemerkt, daß der Sattel sich nach der linken Seite zu neigen begann. In demselben Augenblicke hielt Zeisolf von Rosenberg bei ihr. »Was ist geschehen?« fragte er und stieg ebenfalls ab. Der Sattelgurt war geplatzt, und Gabriele 196 deutete statt zu antworten auf dessen längeres Ende, das unter dem Bauch des Pferdes zu Boden hing. Hätte sie es untersucht, so würde sie an der vorderen Kante einen über drei Finger breiten Einschnitt wie von einem Messer bemerkt haben. Sie tat es aber nicht, sondern fragte nur ratlos: »Was nun?« Zeisolf von Rosenberg zuckte die Achseln; dann sagte er: »Auszubessern ist der Schaden augenblicklich nicht.« Nach kurzem Nachsinnen fügte er hinzu: »Es wird am besten sein, wenn wir uns nach der Stelle begeben, wo nach dem ersten Jagen ein Imbiß eingenommen werden soll. Ich habe sie mir von unseren Wirten beschreiben lassen und getraue mir wohl, sie zu finden.«

»Aber ist das verdrießlich,« rief sie mit gekrauster Stirn.

»Freilich, denn Ihr müsset Euch meiner Führung anvertrauen. Aber da sehe ich meinen Reitknecht.« Er erhob seine Stimme und rief: »Stoffel, hierher!« Als dieser zur Stelle war, trug er ihm auf, die Pferde nach dem zum Stelldichein bestimmten Platz zu führen. »Es ist bei der alten Steineiche; Du kennst sie?«

Er bejahte, und Zeisolf von Rosenberg lud die schöne Gabriele ein, mit ihm zu kommen, während jener sich mit den Pferden zu schaffen machte. Gabriele warf die Schleppe ihres Reitkleides über den Arm und sie gingen die Schneise hinunter, auf der sich das Mißgeschick ereignet hatte. »Und wo liegt die Steineiche?« fragte sie. Er deutete nach Süden. Nach einer kurzen Strecke blieb er bei einem rechts in die Schneise mündenden Fußpfad stehen und sagte: »Wenn wir ihn einschlagen, kommen wir bälder zum Ziel.« Sie betrat ihn und er folgte ihr. »Ihr scheint Euch ja gar gut in diesen Wäldern auszukennen,« bemerkte sie und er erwiderte: »Ist es doch heut' nicht das erste Mal, daß ich auf der Rothenburger Wildbahn jage.«

Eine Weile gingen sie schweigend weiter. »Ich erfuhr erst auf Endsee, daß Ihr den Wernizer kennt und 197 wie Ihr mit ihm bekannt geworden seid,« begann Gabriele dann wieder.

»Wollet Ihr damit sagen, daß Ihr nicht gekommen wäret, wenn Ihr es vorher gewußt hättet?« fragte er dumpf.

»Warum denn?« erwiderte sie kühl. »Ich, obgleich ein Weib, bin nicht so eitel wie Ihr. Nicht einen Augenblick ist mir eingefallen, daß Ihr der Einladung des Wernizer um meinetwillen gefolgt sein könntet.«

»Aber es ist so; ich vermutete Euch hier,« rief er mit mühsam beherrschter Leidenschaft.

Ein gedehntes »A!« war ihre Antwort. Spöttisch fuhr sie fort: »Ihr wolltet mir also einen Beweis geben, daß Ihr um meinetwillen vor nichts zurückscheut? Ich argwöhnte es. Es gehört ja allerdings in dem Verhältnis, in dem Ihr Euch zu Rothenburg befindet, einiger Mut dazu, hierher zu kommen. Aber Ihr wisset, daß ich keinen Beweis Eures Mutes begehrte, und er ist verfehlt.«

Sie erwartete, daß er aufbrausen würde. Es geschah nicht, obgleich er dunkelrot im Gesicht wurde. Schweigend gingen sie weiter, bis sie einen Holzweg erreichten, wo er sich an ihre Seite begab. »In einem Punkte trafet Ihr das Richtige,« begann er jetzt. »Mein Platz ist nicht unter diesen Stadtjunkern und der Eurige auch nicht, schöne Gabriele. Hingegen irret Ihr höchlich, wenn Ihr vermeint, durch Euren Spott meine Liebe zu Euch auszulöschen. Sie ist ein griechisch Feuer, das nichts erstickt. Und itzt, in dem grünen Jagdkleid und dem Federhut schauet Ihr aus, daß ich rasend werden könnte, wenn ich es nicht schon wäre.«

»Vermag es nicht mein Spott, so verbiete ich Euch in vollem Ernst jeden Gedanken an mich,« erwiderte sie, stehen bleibend. »Sind wir bald bei der Eiche?«

Er schaute sich um. »Ja, gleich; kommt nur, wir müssen uns rechts halten,« sagte er und bog nach einer 198 kurzen Strecke in der angegebenen Richtung von dem Holzwege in das Dickicht ab. »Eure Macht ist groß, schöne Gabriele,« begann er nun. »Aber daß ich nicht mehr an Euch denken soll, das vermöget Ihr nicht über mich. Gebietet doch dem Monde, daß er von der Erde lasse, oder dem Teufel, daß er das Kreuz anbete. Und bei diesem oder jenem, schöne Gabriele, liebt Ihr mich nicht, so soll Euch doch kein anderer besitzen. Wer es wagt, Euch zu begehren, der hat den letzten Tag gesehen.«

»Ihr seid groß im Schwören,« spottete Gabriele. »Heute soll denjenigen der Tod treffen, der es wagt, mich zu lieben, neulich schwuret Ihr ihn meinen Feinden. Tötet Euch selbst und ich will an Eure Liebe glauben.«

»Ich werde beide Schwüre halten, verlasset Euch darauf,« erwiderte er mit unheimlich glühenden Augen.

»Entwerfen wir also die Liste der Todeskandidaten,« versuchte sie zu scherzen. »Um meine Hand bewirbt sich niemand. Wenden wir uns also zu meinen Feinden.«

Da flammte das Gesicht des wilden Zeisolf auf und er drohte: »Auf diese Weise entschlüpft Ihr mir nicht. Glaubt Ihr, ich hätte nicht erfahren, daß der Sohn des Bürgermeisters Euch heimführen soll?«

»Ach!« rief sie mit einem tiefen Atemzuge und blieb stehen. Sie sah sich ringsum. In einiger Entfernung gewahrte sie zwischen den Bäumen einen Reiter und deutete mit dem Finger auf ihn.

»Es ist mein Reitknecht; wir sind ganz nahe bei der Eiche,« erklärte er.

Gabriele wandte ihm wieder das Gesicht zu. Es war blaß, ihre Augen funkelten seltsam und sie in die Zeisolfs bohrend, zischte sie: »Derjenige, den Ihr nanntet, ist mein ärgster Feind. Er hat meine Ehre tödlich beleidigt. So hasse ich keinen wie ihn.« 199

Er erwiderte ihren Blick, indem er die beiden Zacken seines roten Bartes langsam durch beide Hände laufen ließ.

»Aber es ist Torheit, Euch das zu gestehen«, rief sie mit einem Achselzucken. »Lasset uns weiter gehen!«

Er rührte sich jedoch nicht. »Ich glaube Euch«, sagte er. »Und wenn ich Euch räche, wollt Ihr die Meinige sein?«

»Reden wir nicht weiter davon. Gehen wir«, wich sie ihm aus.

»Und wenn ich Euch räche, wollt Ihr die Meinige sein?« wiederholte er dringender seine Frage und ergriff sie bei dem Handgelenk. Sie versuchte sich frei zu machen; aber es gelang ihr nicht. »Mein Wort ist so gut wie die Tat«, preßte er dumpf heraus. »Gebet mir das Eurige dafür. Ihr wollt nicht? Ihr glaubt, mich hintergehen zu können? Ihr täuscht Euch, schöne Gabriele. Der Pakt zwischen uns ist geschlossen. Er in sein Grab, Ihr in mein Bett!« Er zog sie trotz ihres Sträubens mit sich fort.

»Lasset mich los, Ihr tut mir weh!« rief sie, sich wehrend.

»Nichts da!« rief er brutal. »Ihr erinnert Euch, was ich Euch im Kloster sagte? Wenn ich den Teufel einmal habe – und jetzt halte ich den schönen Teufel fest.«

»Seid Ihr wahnsinnig geworden?« schrie sie entsetzt auf. »Hilfe! Hilfe!«

»Es hört Euch keiner«, rief er, umschlang sie, wie sie sich auch wehrte, und trug sie auf seinen Armen fort, während sie ihr Hilfegeschrei fortwährend ergellen ließ.

Nur noch wenige Schritte und sie waren auf dem Platze bei der Steineiche, den er ihr als Stelldichein der Jagdgesellschaft vorgespiegelt hatte. Es war niemand dort als sein Knecht mit den beiden Pferden und noch ein in einen Mantel gehüllter Reiter, der eine schwarze 200 Maske vor dem Gesicht trug. Dieser sprengte gegen den Junker an, der ihm zurief: »Geschwind Deinen Mantel, damit ich der wilden Katze den Mund verstopfe.« Während jener dem Junker den Mantel zuwarf, riefen zwei Stimmen zugleich: »Halt! Halt!« und Hans und Kaspar, welche durch die fortwährenden Rufe um Hilfe von ihrem Wege abgelenkt worden, brachen aus dem Gebüsch hervor und stürzten sich, ihre Schwerter ziehend, auf die Mädchenräuber. Es war dem Junker Zeisolf noch nicht geglückt, Gabriele den Mantel über den Kopf zu werfen und er hatte nur noch so viel Zeit, sie seinem Spießgesell hinzureichen, damit er sie auf das Pferd nehme, als er schon von Hans, der ihn auf den ersten Blick erkannt hatte, mit einem Wutschrei angefallen wurde. Während der Junker von Rosenberg sein kurzes Jagdschwert aus der Scheide riß, schrie Gabriele vor Schmerz gellend auf. Sie hatte sich den Armen des maskierten Reiters entwunden und dieser griff ihr in das Haar. Der Federhut war ihr schon im Ringen mit dem Junker Zeisolf entfallen. Kaspar stürzte sich auf den Reiter und dieser mußte seine schöne Beute wohl fahren lassen, wenn er nicht wehrlos niedergestochen werden wollte. Die schöne Gabriele entfloh mit lautem Geschrei in den Wald; die beiden Freunde kämpften mit stummer Erbitterung, Hans wie ein Rasender gegen den Junker Zeisolf.

Plötzlich erscholl der Ruf: »Auf sie! Auf die Junker!« Fünf bis sechs unheimlich wüste Gestalten, die mit Äxten, Schwertern, Büchsen und Spießen unterschiedlich bewaffnet waren, tauchten unter den Bäumen hervor und warfen sich auf den Junker von Rosenberg und seinen Helfershelfer. Der Kampf währte nicht viel länger als eine Minute. Es gelang dem wilden Zeisolf in den Sattel zu springen und gefolgt von seinem Spießgesellen und dem Reitknecht, stoben alle drei westwärts. Die Banditen, wie man die Heimatlosen nannte, stürmten ihnen nach. Kaspar hatte in ihrem Anführer den aus 201 Ohrenbach vertriebenen Leibeignen Konz Hart erkannt, und er starrte den unerwarteten Helfern noch einen Augenblick nach, ehe er sich nach seinem Freunde umsah. Hilf Himmel! Hans Lautner lag am Boden und sein Blut färbte das welke Laub rot. Zeisolf von Rosenberg hatte seine lange Klinge unterlaufen und ihm sein Jagdschwert in die Brust gestoßen. Kaspar warf sich neben ihm nieder und hob mit stummem Jammer sein Haupt auf seine Knie. Er war ebenso bleich wie Hans, dessen Blut fort und fort rann. Kaspar sah sich allein mit dem sterbenden Freunde, aus dessen Mienen allmählich der wilde Kampfzorn wich. Über ihnen breitete die alte Steineiche ihre mächtigen, noch kahlen Äste aus und unweit von ihnen graste friedlich Gabrieles Rappe. Hans richtete seine Augen mit einem unbeschreiblichen Blick auf den Freund und bewegte die bleichen Lippen. Kaspar neigte sein Ohr dicht zu dessen Mund.

»Die Ahne,« flüsterte er nach einer Weile. »Sag' ihr –«

»Ja, Hans, ich weiß, was ich ihr sagen soll,« rief Kaspar mit einem kläglichen Gesicht. »Um Gottes willen, stirb nicht! Ich höre Geräusch. Es kommt Hilfe. Hans, lieber Hans!«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht des jungen Goldschmiedgesellen. »Käthe!« hauchte er kaum vernehmlich, und in diesem Hauch erlosch sein Leben.

»Hans! Hans! Hans!« ächzte Kaspar und starrte auf das bleiche Gesicht, dem der Tod sein Gepräge aufzudrücken begann,

Das Haupt desselben auf seinem Schoße, saß er unbeweglich. Wie lange, wußte er nicht, Und es war ihm anfangs wie ein Traum, als es dann unter den Bäumen lebendig wurde. Die Waidgesellschaft, Herren und Damen, Jägerknechte, Treiber, Hundejungen, welche die Meute führten, tauchten bei der Eiche auf. Der Hirsch war erlegt und die Jäger hatten sich fröhlich zum Imbiß begeben wollen, der ihrer freilich an einer ganz anderen 202 Stelle als unter der Steineiche harrte, als das Hilferufen Gabrieles von einigen vernommen und sie aufgesucht worden war. Wäre die alte Steineiche nicht dem Schultheiß und dem Waldvogt bekannt gewesen, Gabriele hätte sie nicht wiederzufinden vermocht. Mit weitgeöffneten Augen starrte sie auf die Leiche des armen Hans. Ihr Haar war zerzaust, ihr Jagdkleid von dem Ringen mit dem Junker in Unordnung und von dem Gesträuch, an dem es auf ihrer Flucht hängen geblieben, zerrissen, die Schleppe hing in Fetzen.

Während ein paar Jagdknechte ihren Rappen einfingen und mit Schnüren, die sie wegen der Hunde im Notfall bei sich führten, den zerplatzten Sattelgurt wieder haltbar machten, stieg Wernizer, dessen Miene noch finsterer war als gewöhnlich, vom Pferde und trat an die Leiche Hans Lautners. Seine Untersuchung überzeugte ihn, daß für Hans jede Hilfe zu spät kam. »Er ist tot«, sagte er, und die Worte fielen klanglos in die Stille, in welcher die Umherstehenden seine Entscheidung erwartet hatten. Aus Kaspars Kehle rang sich ein Laut wie ein unterdrücktes Aufschluchzen. Der Schultheiß von Wernizer winkte seinen Waldvogt und sprach mit ihm, Sabine lenkte ihren milchweißen Zelter zu Gabriele heran und sagte leise: »Das ist der arme hübsche Mensch, der Dir Dein goldenes Kränzlein brachte.« Die feinen Brauen Gabrieles zogen sich finster zusammen. Was kümmerte sie der arme Geselle, der für sie gestorben war? Oder dachte sie an denjenigen, welchen sie kurz vorher dem Stahle des Rosenbergers überantwortet hatte? Ein Jagdknecht brachte ihren Hut, den er aufgelesen, ein anderer führte ihren Rappen heran.

»Ich danke Euch für Euren Beistand, guter Freund. Meldet Euch in der Stadt bei mir um eine Belohnung.« So sprach sie zu Kaspar, der unterdessen dem Freunde die verglasten Augen geschlossen und die Leiche sanft auf den Boden gelegt hatte.

»Belohnung?« fuhr er zornig auf. »Kann Euer Geld 203 den da wieder lebendig machen, der für Euch gestorben ist?«

Sie wandte sich ab, machte sich zurecht und der herbeigeeilte Junker Hermann von Hornburg durfte sie auf den Rappen heben.

»Die Jagd ist für heute zu Ende, meine Herrschaften; kehren wir nach Endsee zurück«, sprach der Schultheiß laut.

Der bunte Schwarm verzog sich. Nur der Waldvogt blieb mit zwei Jägerknechten und einigen Treibern zurück. Während diese junges Stangenholz abhieben und eine Bahre herstellten, ließ er sich von Kaspar über sich und seinen Freund und den Hergang bei der Eiche genaue Auskunft geben. »Aber das ist eine unerhörte Frechheit von dem Junker!« rief der schon graubärtige Waldvogt. »Er muß sich besser wie ich in diesen Wäldern auskennen, wenn er hoffte, mit dem Fräulein ungefährdet die Tauber zu erreichen. Das geht ihm an den Hals, der Jungfernraub.«

»Ne, sie henken bloß die kleinen Diebe«, gab Kaspar bitter zurück.

Der Tote wurde auf die Bahre gelegt und Kaspar breitete den Mantel über ihn, den der entlarvte Reiter auf dem Platze zurückgelassen hatte. Wer derselbe gewesen, vermochte er nicht anzugeben; er schloß aber aus dessen gelbem Haar und seiner Beleibtheit, daß es Philipp von Finsterlohr gewesen sei. Von dem Erscheinen der Heimatlosen schwieg er um Konz Harts willen gegen den Waldvogt ganz. Der traurige Zug ging nach Gumpelsdorf, welches das nächste Dorf an der Landstraße war. Dort wurde ein Ackerwagen mit einer Strohschütte in Anspruch genommen und Hans darauf gebettet. Die Dörfler kamen zuhauf.

Die Weiber weinten bei seinem Anblick und beklagten ihn, daß er so jung hätte sterben müssen. »Was gilt das Leben von unsereinem den Herren?« rief Kaspar mit schneidender Bitterkeit. Die Männer schwiegen mit 204 finsteren Blicken; sie scheuten den Waldvogt des Zentamts, der von hier aus mit seinen Leuten nach Endsee zurückkehrte. Nur der älteste Jagdknecht sollte die Leiche nach Rothenburg begleiten, um dem Stadtrichter vorläufig zu berichten.

Der Zug hatte nur eben das Dorf verlassen, als Kaspar die tiefe Stimme des langen Lienhart vernahm, welcher rief: »Himmlischer Herrgott, der Lautner!«

Kaspar ließ den Wagen halten, und der ehemalige Kriegsknecht klagte: »O weh, o weh, Du junges Blut! Und ich hatte vermeint, daß er uns noch zum Tanz aufspielen würde.« Er schüttelte den Kopf, und zwei Tränen rollten ihm aus den großen runden Augen in den Bart.

»Wider den Rosenberger ist er gefallen«, sprach Kaspar dumpf.

Die Riesengestalt des anderen streckte sich jäh und die Faust gen Westen schüttelnd, rief er zornig: »Und hat ihn der Rotbart erschlagen, so soll er sich lösen mit seinem eigenen Leben. Die Sonne droben, die hört mich. O, Du armer Bub'!«

Kaspar fragte ihn, wohin sein Weg ginge? Er wollte nach Ohrenbach.

»Ist's was Wichtiges oder kann ich's bestellen?« fragte Kaspar, und mit einem bedeutungsvollen Blick auf die Leiche fügte er hinzu: »Wenn Ihr ihm das Geleit geben wolltet? Ich muß halt nach Ohrenbach.«

»So mach' fort! Ich neid' Dir nicht die Botschaft. Wenn Du vor Zwielicht zurück bist, so find'st mich bei meinem Schwager im Roten Hahnen. Den Simon sprech' ich ein andermal.« Damit wandte er sich und ging mit seinen großen Schritten dem langsam vorangefahrenen Wagen nach, während Kaspar in der entgegengesetzten Richtung davoneilte.

Je näher er aber Ohrenbach kam, desto langsamer wurde sein Gang. Der Gedanke an die arme Käthe wurde ihm zu Blei und er grübelte, wie er die traurige 205 Botschaft mitteilen könnte, damit sie nicht zu sehr erschrecke. Die Mittagsstunde war längst vorüber, als er Ohrenbach erreichte. Simon Neufter saß mit den Seinigen in der Stube um den großen Eichentisch und las laut aus der Bibel vor, die ein Geschenk seines Bruders Andreas war. Er las das achte Kapitel aus dem Buche Samuelis vor, wo erzählt wird, wie Israel von dem Hohenpriester begehrt, daß er ihm einen König mache, und Gott ihm befiehlt, dem Volke zu willfahren, aber auch es zu warnen und ihm vorzustellen, wie schwer die Könige es belasten und bedrücken würden. »Wenn Ihr dann schreien werdet zu der Zeit über Euren König, den Ihr Euch erwählt habt, so wird Euch der Herr zu derselben Zeit nicht erhören.« So las Simon eben, als Kaspar in die Stube trat.

Die Kinder hüpften diesem fröhlich entgegen; denn er gab sich bei seinen Besuchen viel mit ihnen ab, und sie hatten ihn lieber als seinen schwermütigen Freund. Er herzte sie und begann sogleich, sie zu necken und herumzujagen, wobei er dann beiläufig erwähnte, daß er dem langen Lienhart begegnet wäre.

»Und Dein Freund?« fragte Käthe.

»O, der Hans läßt grüßen«, erwiderte er und bückte sich zu dem Bübchen, damit er sie nicht anzusehen brauchte. »Er kann halt nit kommen«, fügte er so gleichmütig, als er vermochte, hinzu. »Er hat ein Stück Arbeit vor, das er fertig schaffen muß. – Es ist eilig; denn – hops, Martin, hops!« Damit ergriff er das Bübchen und schwang es in der Luft.

»Was denn?« fragte Simon. »Red' erst!«

»O, weil er doch bald wieder auf die Wanderschaft will«, antwortete Kaspar, indem er den Buben auf den Fußboden stellte.

»Mehr! mehr!« bettelte der Kleine.

Käthe aber, die kein Auge von ihrem Vetter gelassen hatte, wiederholte betroffen: »Auf die Wanderschaft? Aber das ist nit wahr, ansonst müßt' ich's wissen.« 206

»Doch, doch!« versicherte Kaspar und wollte es durch seine Blicke bekräftigen. Käthe aber sah ihn so fest an, daß er die Augen wegwenden mußte.

»Du lügst, Kaspar«, rief sie und sprang von der Bank hinter dem Tische hervor. Sie faßte ihn kräftig am Arm und rief: »Was ist's? Schau mich an, ich will's wissen!«

»Nuja,« erwiderte er in der größten Verlegenheit. »Ich erzähl' schon. Erschreck Dich nur nit. Es ist halt ein Unglück geschehen.«

»Was?« fragten die anderen außer Käthe wie mit einer Stimme.

Kaspar suchte nach Worten. Käthes Augen öffneten sich weit. »Tot!« kam es stockend über ihre Lippen und kreidebleich fiel sie auf die Bank zurück.

Kaspar nickte mit einem kläglichen Blicke. Ihm und allen versagte die Sprache. Die arme Käthe starrte mit entsetzten Augen und halb geöffnetem Munde. Sie war wie gelähmt. Vater Martin wiegte mit einem jammervollen Gesicht den Kopf hin und her. Seine Schwiegertochter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und dann ächzte sie: »Heilige Mutter Gottes, wie hat denn das geschehen können?« Simon strich sich einige Male mit der Hand schwer über Stirn und Gesicht und forderte mit einer Stimme, die aus einer vertrockneten Kehle zu kommen schien, Kaspar auf, zu erzählen. Bevor er noch begann, griff Käthe mit beiden Händen an ihre Schläfen und taumelte aus der Stube. Gleich darauf ertönte in der Küche ein so entsetzlicher Aufschrei, daß den Erwachsenen das Herz gefror und die Kinder sich erschreckt und weinend an die Mutter drängten. Diese aber ermannte sich rasch; sie schob die Kinder mit zitternder Hand zurück und eilte der Unglücklichen nach. 207



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