Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Masanderan

Die Reise nach Masanderan, lange beschlossen und sorgfältig vorbereitet, begann eines Morgens, um sechs Uhr, mit einer Fahrt über den Firus-Kuh-Pass, der seit alten Zeiten aus der Ebene von Teheran zum nördlichen Absturz hinübersteigt. Wir fuhren drei Stunden bis zu seinem Fuss, aber stets schien er sich wieder wie verzaubert von uns zu entfernen, so endlos ist die Ebene und so sehr verliert man den Begriff von Raum und Mass.

Das Dorf, ein sonderbarer kleiner Ort unter dem dunklen Schirmdach eines riesigen Felsblocks, heisst Firus-Kuh wie die Strasse; am Abhang schichten sich Häuser, halbe Höhlenwohnungen, und erinnern an die Totenwohnstätten Anatoliens.

Wir fuhren nun den Pass empor, die Kurven führten tief in die Falten des Berges und in kühnem Bogen wieder daraus hervor. Es war dunstig, der Ausblick verschloss sich; bald sah man nur die Strasse, ein Stück steilen Abhangs, manchmal einen Felsen, der sich wie ein Tor in die Strasse schob oder wie eine erstarrte Steinlawine hing.

Dann wusste man sich zwischen Höhe und Absturz, und verfiel in Schweigen; doch übertönte es das Geräusch des Motors im zweiten, bald im ersten Gang . . .

Die Luft wurde dünner, leichter, kälter. Man fühlte die alte Ergriffenheit auf den Wegen, die über ein Gebirge und eine Passhöhe hinüberführen in eine andere Welt.

Oben hatten wir den Nebel plötzlich überwunden und befanden uns auf einer weiten Ebene, die umrahmt war von 150 braunen, dahinter von weissen Ketten. Sie hatten an Höhe und Majestät verloren, nun waren sie schon Boten des Himmels, kristallkalte Luft wehte von ihnen herüber, ein leichter Wind auf der Hochfläche. Wo die Strasse abwärts führte, waren wieder Täler und enge Schluchten, an mehreren Stellen stiessen wir auf den Bau der Transpersischen Bahn. Dunkle Tunneleingänge, Brückenpfeiler, aufgeworfene Erdwälle bezeichneten ihre zukünftige Strecke, Scharen von Arbeitern bedeckten steile Abhänge, wo der Erdboden nachgeben wollte und durch Verbauungen aufgehalten wurde. Inmitten der grossen und einsamen Gebirgsgegend schien es hier ein kühnes Unterfangen, eine richtige Aufgabe für unsere Zeit, welche es liebt, die Natur nicht zu fürchten und nicht anzubeten, sondern mit ihr und gegen sie Hand anzulegen.

Wir hatten die Klimascheide überschritten, und befanden uns bald in einem Tal, welches den Voralpen der Schweiz vergleichbar ist. Die Hügel waren glatte, hellgrüne Weiden, in der feuchten Talsohle standen die Gehöfte, langgestreckte, niedrige Hütten mit tiefen Giebeldächern aus Stroh und Holzschindeln. Holz! Damit begann eine andere Kultur; statt der nackten gelben Lehmmauern umzogen nun Zäune aus Latten, Pfählen und Strauchwerk die Gärten, und an einem steilen Hügel lag, wunderbar unregelmässig, ein Kraal aus Ästen und aufgehäuftem Dorngebüsch. Ich sah die ersten Reisfelder: die Abhänge terrassiert, von oben anzusehen wie die Höhenkurven auf einer Landkarte und überschwemmt; fremd zwischen den wohlbestellten Äckern, der braunen Erde, dem hellen Grün junger Saaten. Bald begann der Bergwald, hochstämmig, silbern, hellbraun, noch 151 kahl, und durch die Zweige sah man an den jenseitigen Abhängen wieder angehäuftes Material und Arbeiter und hörte hallende Schläge.

Im Wald lagen zerstreut kleine Ansiedlungen; auf gerodeten Flecken weidete schönes Vieh, die Gehöfte bestanden, wie es sich gehört, aus Wohnhaus, Stall und Scheune und umschlossen den Hofraum. Dies alles schien, nach den nackten Formen des ariden Hochlands und nach so viel orientalischer Architektur der horizontalen Flächen ungemein malerisch, formenreich, auch klein, wie zum Spielen ausgedacht.

Der Wald wurde bald dichter; er zieht sich von diesem romantischen Vorgebirge als breiter Gürtel bis in die tropische Zone hinunter und nimmt dort den Charakter des Urwalds an. Aber das sahen wir erst später.

Wir fuhren am ersten Tag bis Mesched-e Schehr, einem kleinen Hafen; dort sah ich zum erstenmal das Kaspische Meer, einen abendlichen blauschwarzen Spiegel hinter dem aufgebrachten Schaumwall vor der Flussmündung. Der Fluss lag friedlich, Wiesen reichten bis an sein niedriges Ufer; auf unserer Seite die Häuserreihe des kleinen Ortes, die Hafenschuppen, die blaugestrichene Holzgalerie des Hôtel d'Orient, in dessen rasch geleerten Zimmern wir unsere Feldbetten aufschlugen, Decken ausbereiteten, den Küchenkoffer auspackten und eine Art von Flüchtlings- und Lagerleben entfalteten. Draussen regnete es. Einbäume lagen auf dem Fluss, darin standen unbeweglich die Männer, die mit langen Widerhaken Fische stachen. Wir kochten einen grossen, frischgefangenen Lachs, tranken Glühwein und schliefen schon um neun Uhr.

152 Am anderen Morgen standen wir um halb sieben Uhr auf und fuhren auf das andere Flussufer zu den Gebäuden der russisch-persischen Kaviarfischerei. Da sah man grosse, hölzerne Bottiche mit zerlegten und gesalzenen Stören – langen, bläulichen Tieren; ein Russe wog im Nebenraum den Kaviar ab, auf Gestellen reihten sich die Blechbüchsen, später ein luxuriöser Anblick in den Restaurants der grossen europäischen Städte.

Der Feierzeit der Norustage wegen waren keine Boote hinausgefahren. Vor einem Schuppen sassen ein paar Arbeiter und schärften die langen, feingeschliffenen Angeln, die man, in Netzen befestigt, vor die Flussmündung legt: So fängt man die Störe ab, die zum Laichen in den Fluss hinaufschwimmen wollen.

Zweimal im Monat landet in Mesched-e Schehr ein russischer Dampfer und bringt den Kaviar nach Pahlewi und in die russischen Häfen. Von dort reist er weiter, nach Europa.

Wir gingen etwa eine Stunde dem Strand entlang durch die Dünen, die sich im Halbkreis einsam ausdehnen, vom Wind heimgesucht und von Scharen wilder Gänse, welche langgestreckte Ketten bilden und, sich teilend und vereinend, über unseren Köpfen ostwärts zogen. Kein Nils Holgersson ritt auf ihrem Rücken und liess seinen kleinen Holzschuh auf den Strand fallen . . .

Wir gingen durch das geschützte, von Dornsträuchern, blühendem Ginster und gelben, uns unbekannten Blüten bedeckte Land hinter den Dünen zurück; Zebus weideten auf dem spärlichen Boden und hatten kleine Pfade durch das fast undurchdringliche Gebüsch gebrochen. In der 153 Nähe des Flusses, auf Wiesen, wo wilde Obstbäume in rosa und weisser Blüte standen, trafen wir kleine bäuerliche Anwesen, umschlossene Höfe, darin Ziehbrunnen und buntgekleidete Kinder, die sich auf die Schwelle des Hauses hockten, neugierig und aufgeregt in unsere Fotoapparate schauend.

Wir fuhren um elf Uhr weiter, auf der guten Küstenstrasse, bald dicht am Meer, bald im Urwald, der stellenweise mit breiter Zunge gegen die Küste vorrückte.

Kurz vor Deno, dem zukünftigen Hafen von Teheran am Ausgang der neuen Tschalusstrasse, kochten wir ab. Es war ein stiller Platz, vom Wind geschützt, aber nah genug am Meer, so dass wir sein gleichmässiges Rauschen hören konnten. Hier hatte der Wald alle wuchernden, mass- und formlosen Gestalten der Tropen: geborstene und hohle Stämme reckten sich ans Licht; von abgedrosselten Ästen hingen wie Schlangenleiber grosse Lianen, schlugen Knoten und Violinschlüssel, griffen nach den Wurzeln und boten einen sonderbar gefährlichen Anblick. Auf den Stämmen wuchs Moos, Farnkraut und daneben fremdes Gewächs, eines sog gierig Leben aus dem anderen; unten lag in schwerer Feuchtigkeit der Boden und nahm Keime auf, giftige und zarte, und schützte die Wurzeln junger Pflanzen, die bleich unter den Schatten der alten sich zu einem verkrüppelten Dasein entschlossen.

Ein junger Bär wurde uns zum Kauf angeboten; seine Mutter hatte man vor wenigen Tagen erschossen und den Kleinen von ihrer Seite fortgetragen. Aber von den Tigern hörten wir nichts; sie halten sich oben in den Bergen versteckt, Fabeltiere und Räuber, und geben nur von Zeit zu 154 Zeit Zeichen ihrer gefährlichen Gegenwart. Die schönen Felle von Leoparden und Geparden sieht man dafür noch häufig im Basar von Teheran.

Um sechs Uhr abends erreichten wir Ab-e Garm, den Ort der heissen Wasser und Schwefelquellen; ein Sanatorium mit Badehaus und Ziergarten steht zwischen dunklen Orangenhainen. Zwischen Meer und Strasse dehnt sich ein Streifen von sumpfigem Land aus, dort stösst man überall auf Gräben und stehendes Wasser. Überschwemmte Reisfelder sind die Nachbarschaft: lauter Herde des Malariafiebers.

Mit der Krankheit bezahlt die Bevölkerung die Fruchtbarkeit dieses Landstrichs. 155

 


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