Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Hilla, Birs Nimrud, Karbala, Uhaidir, Nadschaf, Kufa, Babylon

Bagdad, 19. Februar

Ich hatte mir immer gewünscht, in die heiligen Städte der Schiiten zu kommen. Kadhimain, die Stadt mit den goldenen Türmen, hatte mir davon den ersten Eindruck gegeben. Ich war dort im Haus eines Arztes, von dessen Haus aus man die grosse Moschee erblickte, runde Kuppel, goldglänzend, über den Dächern und Palmen, den Rauchfahnen, den engen, lärmerfüllten Strassenschächten und den schlanken Türmen, welche spielerisch in die verschwebenden Farben des Abends tauchten. Wie mir schien, warfen sie sich gegeneinander (Erinnerung an den ersten Blick vom Flugzeug aus) und strebten aus der finsteren Heiligkeit, mit der sie unten die Gläubigen bekleideten – der Heiligkeit ewiger Trauer um die Gefallenen, um Hussein, den Sohn Alis, den Schwiegersohn des Propheten, und um Husseins Söhne, und so durch Jahrhunderte; Trauer um die unrechtmässig verlorene Herrschaft, Trauer um das vergossene Blut, Trauer um die jungen Helden. Man hörte die Geräusche der Strassen, hinaufdringend mit den Wolken von Geruch, aus Basar und Garküchen, aber oben schwebten entrückt die Abendwolken um die goldenen Türme, und in der Ferne strömte still und glänzend der FIuss, breite Palmenhaine umgaben wie ein Gürtel die Stadt der Leidenschaften . . .

Aber Kadhimain liegt vor den Toren von Bagdad und ist daher tausend profanen Einflüssen ausgesetzt. Von Karbala und Nadschaf versprach man mir mehr.

112 Ich war deshalb froh, dass der Plan, nach Hilla zu fahren, zur Ausführung kam. S. Bey besitzt dort Ländereien und Gärten; er versprach mir gleich, mich mindestens nach Karbala zu bringen.

Wir fuhren am 16. Februar von Bagdad weg, im Wagen von Schafik, der mit einer reizenden Amerikanerin verheiratet ist. Schafik war mit dem gleichen Wagen – einem eigens eingerichteten Ford 8 – schon in Afghanistan und hat den Weg von Teheran nach Bagdad im Winter in Rekordzeiten zurückgelegt. Er versicherte uns, dass Geschwindigkeit auf guten Strassen ein Kinderspiel und reizlos sei, der Spass beginne erst mit der Gefahr.

Eine Ansicht, die sich auf den »Strassen« Iraks ausgiebig erproben und erhärten liess . . .

Wir kamen nachmittags zu der berühmten Hindija-Barrage, dem grössten Stauwerk Iraks. Von dort leitet man das Euphrat-Wasser beliebig in den Hilla- und in den Hindija-Arm und kann auf diese Weise grosse Landstrecken regelmässig bewässern. Ich ging auf die riesige Staumauer hinaus und sah dort auf den Fluss hinunter, der in feinen Nebel eingehüllt war. Palmen säumten die Uferstrecken, die wie ein einziger fruchtbarer Hain aussahen, die Lebensader des Landes.

Wir fuhren vom Stauwerk etwas mehr als eine Stunde bis Hilla und bekamen dort im Irrigation Department ein verspätetes Mittagessen. Dann zogen wir gleich weiter und erreichten Birs Nimrud noch vor Sonnenuntergang. Schafik hatte zwei Gewehre mitgebracht und versuchte schon unterwegs einige Male, Wildgänse zu schiessen, die er mit geübtem Auge weit draussen in der Einöde entdeckte und 113 von Krähen und Sandgroves unterschied. Zu meiner Beruhigung traf er aber nichts, und die Wildgänse erhoben sich, plötzlich Schar an Schar ein ganzes Volk, zogen sich zu langen Reihen auseinander, kreuzten sich, schwärmten wieder auseinander und verschwanden aus unserem Blickfeld. In Birs Nimrud soll es gegen Abend Rebhühner geben – aber sie hatten sich schon verzogen, und wir konnten in vollem Frieden die Zikurrat der alten Stadt Borsippa besteigen und die letzte aufrechte Mauer aus flachen Lehmziegeln bewundern, die zwischen Trümmern und Klumpen des niedergestürzten Gebäudes auf der einstigen Hochterrasse steht und ihres unausbleiblichen Schicksals harrt.

Die Leute hier pflegen Birs Nimrud immer noch mit dem Turm von Babel zu verwechseln, obwohl doch kein Anlass vorliegt, ihn statt in Babylon in Borsippa zu suchen. Die Zikurrat ist übrigens eine ganz besonders romantische Ruine, und als die Sonne rötlich gelb hinter der Ebene verschwand und ein alter Araber mit einer Schafherde am Fuss des zerklüfteten Lehmhügels vorbeizog, fehlte nichts mehr zum Idyll eines Kupferstichs in einem alten Reisebuch.

Als wir, gegen sieben Uhr, nach Hilla zurückkamen, war der Inspektor des Irrigation Departments inzwischen aus Bagdad eingetroffen, offerierte uns Schüsseln voll Sandwichs und Tee und quartierte uns alle in seiner Wohnung ein. Ich schlief mit Mrs. Schafik in seinem Schlafzimmer und erinnerte mich, als ich in dem weissen Kinderbett lag, mit einiger Genugtuung an die strapaziöse Nacht im Resthouse in Kut.

Wir fuhren am nächsten Morgen in zwei Automobilen nach Karbala, auf einer ausgewaschenen und zerlöcherten 114 Strasse, welche noch schlechter war als alle, die ich bisher kennenlernte. Aber womit soll man hier Strassen bauen? Jeder Stein muss von weither gebracht werden, und das System, die Strassen zu »rasieren«, kann natürlich nur von Regen zu Regen einigen Erfolg haben, nachher werden wieder die tiefen Rinnen ausgewaschen, und bei der darauf folgenden Trockenheit bildet sich ein wahres Trümmerfeld von Hügeln, Rinnen, Dämmen und Löchern.

Auf dieser Strasse fahren nun die Pilgerautos, die der Lebenden und die der Toten, jahraus, jahrein nach Karbala. Es sind meistens Fordwagen älteren Datums, eigentlich für vier Personen bestimmt: Hier befördern sie leicht zehn oder zwölf, von denen einige auf der Türschwelle hocken (die Türen stehen offen oder sind abgerissen), zwei bis drei aber hinten auf dem Gepäckträger, mit wehender Kufija, eingehüllt in Wolken von Staub.

Einen weit schauerlicheren Anblick bieten die Totentransporte. Die Leichen liegen in schmalen Särgen, oder, häufiger, bloss in rote und gelbe Teppiche gewickelt, auf einem zugeschnittenen Brett und werden quer über einen offenen Wagen gelegt. Dahinter nehmen die trauernden Familien Platz, die den Verstorbenen in die Totenstadt begleiten.

So werden die Leichen der frommen Schiiten über grosse Strecken, selbst aus Persien, nach Karbala gebracht, in langen Tagesreisen; früher, auf dem Karawanenweg, waren es Wochen.

Wir überholten auf unserer abendlichen Fahrt viele solcher Totenautos. Als es dunkel wurde, wollte Schafik auf einem schmalen, dammartig erhöhten Weg an einem 115 entgegenkommenden Wagen vorbeisteuern. Plötzlich ertönte ein ungeheurer Krach, Splittern von Glas und Holz, ein wütender Angstschrei aus dem Inneren des Autos, und vor unserer Scheibe ragte ein dunkler Gegenstand, unsichtbar aufgehängt . . . aber der Tote regte sich nicht und streckte keine strafende Hand aus.

In Karbala besitzt S. Bey einige Ländereien, ausserdem einen Pilgerchan, der ein einträgliches Geschäft bietet, denn jeder schiitische Mekkapilger ist gezwungen, sich in Karbala aufzuhalten. Man hat uns erzählt, dass Karbala eine Stadt von schlechten Sitten sei, voll von Ausschweifung und unnatürlichen Lastern. Man hat, weil die Stadt heilig ist, ein Verbot der Prostitution erlassen, aber an ihrer Stelle Heiraten auf kurze Dauer erlaubt, die sich manchmal auf wenige Stunden beschränken. Es ist eine merkwürdige, wenn auch leicht erklärliche Mischung von Verderbtheit und Heiligkeit auf einem von Leidenschaften getränkten Boden. Es gibt in der düsteren Religion der Schiiten kaum einen Tag der Freude, aber unendliche Bussfeste und den schrecklichen Monat Moharram mit seinen Passionsspielen und ekstatischen Prozessionen. Heute noch geisseln sich fromme Unglückliche und schlagen sich mit Ketten bis zum Verbluten.

Das Unglück ist ihre Tradition, seitdem Ali, ein Schwärmer und mit Visionen Begabter, die Tragödie recht eigentlich anzog und beschwor. Seine Feinde ermordeten ihn in Kufa, der Verräterstadt. Sein Sohn Hassan war nicht weniger unglücklich und ein schwacher Mann, der vor seinem Schicksal zu fliehen versuchte. Er dankte ab zu Gunsten seines Feindes, des kriegerischen Moawija, und er starb – 116 durch die Hand seiner Frau. Sein Bruder Hussein ist die reinste Gestalt der schiitischen Tradition, und ihn beweinen seine Anhänger am bittersten. Er zog mit einem kleinen Haufen Getreuer nach Mesopotamien, um die Herrschaft für sein Haus wiederzugewinnen. Er wurde von einem Mann aus Kufa verraten und starb, vom Wasser abgeschnitten, in der Nähe der Stadt Karbala. Alle, die mit ihm waren, wurden erschlagen. Eine der Moscheen in Karbala birgt seinen geliebten Körper, der allen Schiiten bis heute heilig und teuer ist.

Der kostbarste Schrein der Schiiten ist der al-Hadra alkabira genannte, welcher unter seiner goldenen Kuppel das Grab Husseins birgt. In der zweiten Moschee ist ein Halbbruder Husseins begraben; auch Nadschaf und Kadhimain haben ihre heiligen Gräber der Märtyrer, der Söhne und Schmerzensbrüder Husseins. Aber al-Hadra alkabira ist das schlagende Herz der Schiiten, ihn zu umschreiten das Ziel der Pilgerfahrt, sein köstlicher Anblick eine Mahnung zur Unversöhnlichkeit und zum Hass. Es gibt in Irak mehr Schiiten als Sunniten, nämlich anderthalb Millionen. Ich hörte liberale Mitglieder des Parlamentes sagen, die Schiiten seien die »Geissel« des Landes. Jedenfalls sind sie die Feinde jedes Fortschritts und hassen nicht nur die Europäer, sondern alles, was auf Veränderung und Bewegung hinweist, denn ihre Religion verlangt ja den ewigen Rückblick, die fruchtlose Anklage, den Zustand der Feindschaft und Verschliessung. Fanatischer als die Iraker sind die Perser – und Karbala ist fast eine persische Stadt.

Diese persischen Pilger sind ein unheimliches Volk. Bleich, düster, schwarzbärtig, bieten sie den Anblick von 117 Menschen, die um jeden Preis die Realität verleugnen und ihr entfliehen wollen. Schwäche umwölkt sie und der Einfluss des Opiums. Die dumpfe Unentrinnbarkeit und Freudlosigkeit ihrer Religion macht sie notwendig zu Scheinheiligen.

Was man in Kadhimain nicht erfahren hatte, das begriff man in Karbala: die negative Macht des Geistes, der sich verschliesst. Es gibt ihn auch in Europa; aber dort muss er stets ausarten und schreckliche Formen annehmen. Hier, eine unter den tausendundein Möglichkeiten des Orients, lässt er eine Insel entstehen, eine heilige Stadt, und greift nicht über den Gürtel ihrer Palmengärten hinaus.

Übrigens bietet Karbala zunächst den gleichen Anblick wie andere arabische Städte. Man sieht Leute in europäischer Kleidung ihren gewöhnlichen Geschäften nachgehen, Karawanen durchziehen die Strassen, vor zahlreichen Kaffeehäusern sitzen die Männer und rauchen ihre Wasserpfeifen.

Die Sejjids, die Träger des grasgrünen Turbans, die sich Nachkommen des Propheten nennen, sind zahlreicher als an anderen Orten. In der Nähe des Basars trifft man dann Inder und Afghanen, grosse Männer mit dunkel leuchtenden Gesichtern unter hohen, kunstvoll geschlungenen Turbanen. Moscheetore in herrlichem Mosaik traten uns plötzlich aus dunklen Gassen entgegen.

Hier begann die unfassbare Abwehr. Niemand belästigte uns. Erwachsene trieben manchmal die Kinder auseinander, die uns neugierig folgten. Die Händler im Basar taten uns die Ehre nicht an, uns etwas von ihren Waren anzubieten. Sie beugten sich über ihre Arbeit, über Sandalen, 118 Wassersäcke, Kupferkessel, und sandten uns unter gesenkten Lidern Blicke nach, die nicht Neugierde verrieten, nur die gleiche kalte Abwehr.

Es war ein unheimlicher Spaziergang. Ich war froh, als ein Gendarm uns einholte (wir standen im Halbdunkel vor einem der gedämpft prächtigen Tore, die sich auftun in die hellen Höfe der Gläubigen) und uns zum Mutasarrif in das Bürgermeisterhaus führte.

Unsere Gastgeber blieben, ihrer Geschäfte wegen, in Karbala zurück, während wir nach Uhaidir fuhren. Das ist eine Wüstenfahrt: denn Karbala ist eine Oase, und hinter ihren Palmen und letzten Häusern beginnt gleich der gelbe Sand, umgibt schon den Bahnhof, die Tankstelle, die Lagerplätze der Karawanen. Die Strasse bricht ab. Wir folgten einer schimmernden Spur.

Es war zwölf Uhr mittags, der Himmel war bedeckt, aber das Licht wurde dadurch noch weisser, und wir fuhren geblendet durch ein Meer von Spiegelungen. Wir erreichten bald den Salzsee Abu Dibis und fuhren durch den früheren Seegrund; links erschienen die phantastisch zerklüfteten Kalkfelsen, Hügelreihen in blässlichem Blau und Rot. Jemand meinte, es seien die persischen Gebirge, doch waren sie kaum einige Kilometer von uns entfernt, und wir fuhren über ihre letzten Ausläufer, bevor wir die Spur zur Oase Schitata verliessen. Es war unmöglich, eine Entfernung abzuschätzen.

Wir bogen nach Westen ab. Eine alte Spur vom vergangenen Herbst leitete uns: Als Schafik eine Zigarette anzündete, verloren wir sie und fuhren im Kreis zu unserem Ausgangspunkt zurück.

119 Eine halbe Stunde später tauchte Uhaidir auf, das grosse und düstere Festungsviereck geheimnisvollen Ursprungs; die Mauern waren schwarz von Licht. Wir näherten uns langsam, umfuhren ein trügerisches Sandbett eines Wadi, sahen dunkle Beduinenzelte und Kamelherden auf der Westseite des Schlosses.

Als wir endlich versuchten, das Wadi zu durchqueren, gerieten wir in eine weiche Stelle; schon drehten sich die Räder leer und bohrten sich in den Sand ein. Wir sassen fest.

Wir überliessen es Schafik, Beduinen zu finden und den Wagen auszugraben; mit seiner Flinte machte er sich auf den Weg zu den Zelten.

Wir gingen indessen auf das Schloss zu – immer noch schien es sich magisch zu entfernen – und um das quadratische Viereck seiner Aussenmauer, die mit vierundvierzig Türmen, vier hohen Toren und der hohen Galerie des Wehrgangs einen wunderbar kräftigen und geschlossenen Eindruck machte.

Einige alte Reisebeschreibungen erwähnen Uhaidir in dunklen Zusammenhängen, auch nennen sie es eine »Stadt in der Wüste«, was durch die Ausdehnung und Zahl ihrer Räume berechtigt erscheint. Im 19. Jahrhundert war Uhaidir verschollen; der Franzose Massignon und fast gleichzeitig Miss Gertrude Bell haben es wiederentdeckt. Letztere hauste dort allein mit ihren arabischen Dienern und nahm genaue Pläne und Fotografien davon auf. Zwei Jahre später hat dann Oskar Reuter mit einigen Mitgliedern der Babylon-Expedition Uhaidir aufgesucht und eine schöne Publikation darüber herausgegeben.

120 Nun weiss man genau, wie Uhaidir gebaut ist: Ein rechteckiger Palast liegt inmitten einer quadratischen Umfassungsmauer; der Palast selbst ist durch einen gedeckten Korridor in zwei konzentrische Vierecke geteilt, deren äusserer Teil sich, wie das typische orientalische Haus, in eine vordere Hälfte, das Salamlik, und eine hintere Hälfte, das Haramlik, trennt. Das innere Rechteck enthält vorn den Ehrenhof, dahinter eine neutrale Raumgruppe. Die Decken sind meistens Tonnengewölbe und da und dort sehr schön und vollständig erhalten; ebenso Teile des gedeckten Korridors und des Wehrgangs im zweiten Obergeschoss. Grosse Trümmermassen sind aus der grossen Halle des Salamlik in den Ehrenhof gestürzt. Am meisten Eindruck machen die wunderbar gearbeiteten Kreuzgewölbe; ihr Vorhandensein hat Gertrude Bell veranlasst, Uhaidir erst in islamische Zeit zu datieren, aber es liesse sich denken, dass sie römisch-hellenistischer Tradition zu verdanken sind; sie hat auch die Moschee als Beispiel angeführt, die sich in der Westhälfte des Salamlik befindet. Vieles spricht jedoch dafür, den Bau schon in sassanidische Zeit anzusetzen. Kurz, man weiss noch immer wenig genug über Uhaidir, und nichts über seine Geschichte. Wer hat ein so bedeutendes und imposantes Bauwerk mitten in die Wüste gesetzt? Es war eine Art von »Fluchtburg«; der Raum zwischen der Umfassungsmauer und dem Palast beherbergte in Kriegszeiten die Nomaden der Umgebung. Und da das Schloss innerhalb eines Oasengürtels liegt, der sich parallel mit dem Lauf des Euphrat ungefähr von Kubaysa bis südlich von Nadschaf hinzieht, so könnte man an eine systematische Verteidigungslinie denken, aber von wem errichtet und gegen wen?

121 Als wir aus dem hinteren Teil des Palastes in den grossen Hof zurückkamen, sahen wir oben, im verschütteten Toreingang, ein paar Beduinen stehen. Sie trugen Gewehre, riefen uns aber laute Begrüssungsworte zu, die man freundschaftlich auslegen konnte. Als wir nähergekommen waren, stiegen sie über die Mauertrümmer zu uns herunter; andere folgten aus dem dunklen Torraum, und einer von ihnen, ein gutgelaunter blinder Alter, trug seine Wasserpfeife mit sich, setzte sich mitten im sonnigen Hof auf das Pflaster und begann zu rauchen. Die anderen sagten uns, dass sie uns auf das Dach führen wollten, und gingen uns voran, über eine gut erhaltene Treppe bis ins Obergeschoss, wo sie uns den Wehrgang zeigten und, um uns zu unterhalten, in allerhand Winkel krochen, die ihnen, wie sie sagten, als Versteck dienten – dann halfen sie uns ritterlich, auf das Dach zu steigen, von wo man nun die ganze Anlage des Schlosses, die Räume des Palasts, den Hof und die äussere Mauer überblicken konnte. Die Beduinen, die sich offenbar als die Schlossherren und folglich als unsere Gastgeber fühlten, setzten sich inzwischen auf ein paar Steinblöcke, fragten, ob wir Zigaretten hätten, und rauchten Mrs. Schafiks Lucky Strikes mit würdigem Verständnis. Unten sahen wir den Ford anrollen, es war also gelungen, ihn aus dem Sandbett zu befreien; auf dem Trittbrett stand ein anderer kriegerischer Beduine, die Flinte in einer Hand schwingend.

Wir liessen uns von unseren freundlichen Greisen wieder hinunterführen; sie erzählten uns noch allerhand Unverständliches, liessen uns die Bruchsteinmauern befühlen und machten uns fachmännisch auf die Lehmziegel aufmerksam, welche sie als »sauber« bezeichneten.

122 Beim Auto folgte eine neue, herzliche Begrüssung, und als nun endlich jemand wirklich Arabisch verstand, berichteten sie uns, nicht ohne Stolz, dass sie Schammar seien, und zählten uns ihre grossen Scheichs auf, darunter auch den assyrerbärtigen Scheich Agil. Leider hatten wir keine Zeit, ihre Einladung zum Essen anzunehmen; sie betonten, dass sie Fleisch in ihren Zelten hätten, und die Aufforderung war recht herzlich gemeint. Einer der Flintentragenden brachte uns bis auf die Spur zurück und verliess uns. Gleich lag das schwarze Zeltlager wie Spielzeug in der grossen weissen Ebene hinter uns, und die tapferen Schammar standen noch, mit wehenden Kufijas, vor der Mauer des Schlosses und sahen unserem schnellen Wagen nach.

Wir langten kurz vor vier Uhr wieder in Karbala an. Lange lag es wie eine Oase mit seinem bläulichen Palmenwald vor uns, indes die Wüste die warme gelbe Farbe des Sonnenuntergangs annahm, der Himmel pastellblau wurde, und ringsum die erstaunlichsten Veränderungen des Abends sich vollzogen; Schatten der kleinen Wüstenfalken segelten vor uns durch den Sand, der Salzsee entfernte sich wieder unfassbar, in durchsichtig schillernden Dunst gehüllt; seine Uferberge aber schwammen noch im Licht. Dann sammelte sich plötzlich Weiss zu einem Strahl und traf die goldene Kuppel des weit entfernten Karbala. Da sah man nichts anderes mehr als dieses gezeichnete Haupt über dem dunklen Wall seiner Gärten, und wir fuhren geraden Weges darauf zu und fanden uns, ernüchtert, wieder in seinen belebten Strassen und vor dem Haus des Mutasarrif, der uns zum Mittagessen erwartete. Ein Diener brachte zuerst Wasser zum Händewaschen, dann setzten wir uns gleich zu Tisch. Es gab 123 verschiedene Fleischgerichte, natürlich auch Huhn, und nachher die unvermeidliche Reisschüssel mit Schaffleisch und weissen Bohnen. Die Unterhaltung wurde in Arabisch, Türkisch, Französisch und Englisch geführt. Da wir alle sehr hungrig waren, fiel die Sprachverwirrung nicht weiter auf. Nach dem Essen sass man im Empfangszimmer, wo die Porträts von König Faissal und dem jungen König Ghasi hingen, und an einer anderen Wand eine sinnig bestickte Landkarte des neuen Irakstaates und ein gesticktes Wappen, welches mit Löwe, Pferd und Krone stark an die Insignien des British Empire erinnerte. Man servierte uns Schokolade in kleinen Schalen, und wir sassen auf gepolsterten Bänken der Wand entlang, bis es schicklich schien, zu gehen. Wir kamen in der Dunkelheit in unser freundliches Hilla zurück und fanden im Wohnzimmer ein grosses Kaminfeuer: ein angenehmer Empfang.

Nadschaf ist heiliger als Karbala, auch gefährlicher und intrigenreicher. Noch kommen dort Europäer ums Leben; sehr strenge Massnahmen sind nötig, um Wiederholungen der blutigen Revolte von 1920 zu vermeiden. Nirgends wie auf seinem heiligerregten Boden blüht die alte Kunst der politischen und diplomatischen Zwiste, eine Eigenschaft der Nomadenstämme, welche niemals offen handeln, immer unerwartet und aus dem Hintergrund, und deshalb auch nie völlig erfasst werden können.

Früher herrschte in Nadschaf der Streit zwischen den Parteien der Sugurt und der Schumurd: anfänglich eine Familienaffäre, wegen einer von beiden Seiten mit gleicher Heftigkeit begehrten Frau begonnen. Andere berichten, die Türken hätten den Streit absichtlich geschürt oder gar 124 inszeniert, um auf diese Weise die Stadt innerlich zu schwächen, denn Nadschaf war, wie Karbala, zu allen Zeiten ein Sammelpunkt der Unzufriedenen.

Wir fuhren am frühen Vormittag von Hilla weg. Kufa war die erste Überraschung; auch sie eine heilige Stadt, zugleich eine gemiedene und angefeindete. Wir setzten auf einer schmalen Holzbrücke über den Fluss und gerieten in das friedliche Treiben eines Hafenortes, mit dem Geruch von Wasser und Fisch und Gemüsemarkt. Schöngeschweifte Lastschiffe lagen am hohen Ufer, die Kiele bunt bemalt, die Segel gelb, schwer, trapezförmig, das Steuer, mächtig zu handhaben, ragte hoch aus dem Wasser und erinnerte an die Boote der Normannen, die ersten Träger der Sehnsucht nach dem Süden und der Ferne.

Nahe der Brücke stehen Knaben im seichten Wasser, die weissen Röcke bis über die Schenkel geschürzt, und waschen die Balams, die langen und schmalen Ruderboote, die halb auf das Ufer hinaufgezogen sind. Oben nimmt der Brückenwächter den Zoll ein und lässt uns weiterfahren, holpernd über die lose gefügten Bretter. Zwischen den Häusern von Kufa und dem steilen Ufer des Flusses, auf beiden Seiten des Basareingangs, befinden sich die Cafés, ein paar Bänke zwischen Blumentöpfen, ein Mann mit klirrenden Tassen in der einen Hand, in der anderen die Kaffeekanne mit dem langen gebogenen Schnabel.

Wir fahren nicht durch den Basar, sondern biegen links ab und bleiben ausserhalb der Stadt. Da ist Kufa plötzlich eine weisse Festung. Eine starke Stadtmauer umzieht es von drei Seiten, darüber ragen nichts als Kuppel und Minarett seiner grossen Moschee, in welcher Ali, Muhammads 125 Schwiegersohn, ermordet wurde. Ein winziges Tor öffnet sich in der Mauer, ein Nadelöhr, welches allenfalls einem Esel Durchgang gewährt.

Ich fand den Anblick Kufas schöner und sonderbarer als den irgendeiner Stadt, die wir bisher gesehen hatten: mehr Burg als Stadt, und unwirklicher als eine Burg, die zur Verteidigung gedacht ist – ein Viereck glänzender Mauern, die das Innere dem Blick verbergen, drüben aber das friedliche Treiben am Fluss, und Traum, Legende und Realität, die sich vereinen. Die Legende sagt, dass die Leute von Kufa Verräter seien, denn sie liessen es zu, dass Ali in ihren Mauern ermordet wurde, und einer der ihren führte Alis heldenhaften Sohn Hussein nach Karbala durch die Wüste und verliess ihn, als er vom Wasser abgeschnitten und seinen Feinden preisgegeben war und einen elenden Tod starb. Noch heute, sagt man, wohnen in Kufa nur Verräter, und die Pilger besuchen die Stadt einzig, um die Moschee zu betreten, die der Schauplatz des unauslöschlichen Verbrechens war, und kehren ihr dann eilig den Rücken.

An ihrem anderen Ende sahen wir die Schienen der Pferdebahn, welche Kufa mit Nadschaf verbindet, und gleich darauf einen der komisch hochgebauten Wagen, den Londoner Omnibussen verwandt.

Pilger mit Turbanen, Beduinen mit Kufijas sassen oben auf der Plattform; unten hingen die Leute zu den Fenstern heraus, der Kutscher schwang die Peitsche und die Pferdchen trabten munter in die gelbe Wüste hinein, die sich sieben Meilen weit zwischen den beiden Städten ausdehnt. Wir fuhren auf den breit dahinlaufenden Spuren der Wüstenstrasse und überholten die rollende Pferdebahn, und 126 gleich darauf tauchte, eine erhöhte Insel, die heilige Stadt Nadschaf auf. Das Licht war so hell, dass es sich am Horizont brach und auf- und niedersteigende Wellen vor die ermüdeten Augen zauberte. Spiegelungen schwebten, Baumreihen, Streifen von Wasser, Wölkchen über dem hellgelben Rand der Wüste, und leicht hätte man auch Nadschaf für eine Spiegelung halten können; kein Palmenwald umschloss es dunkel und schattenspendend wie Karbala, sondern die Häuser, von derselben Farbe wie die Wüste zu ihren Füssen, wuchsen aus ihr hervor.

Aus deren Mitte blühte eine goldene Kuppel und strahlte ihre Kostbarkeit nach allen Seiten aus. Die Stadt behielt dennoch etwas Schemenhaftes; man hätte, wenn man sie bleich am Horizont erblickte, leicht geglaubt, dass sie mehr von Geistern als von Menschen bewohnt sei, und die beständige Trauer, Anlass ihres Daseins, hing wie eine Fahne über dem zu hellen Himmel. Als wir näherkamen, nahmen Häuser und Strassen deutlichere Gestalt an. Vor der Stadtmauer breiteten sich Gräber aus, und nichts liess die Stadt besser verstehen als dieser Garten der Toten, der aus ihr wuchs und den man durchqueren musste, um den Bezirk der Lebenden zu erreichen.

Es war ein weites, weisses, unbegrenztes Feld, besät mit den Staubhügeln der Geringen und den blaugrünen, glänzenden Kuppeln der Reichen. Man sah offene Särge an der Bahnlinie, verschleierte Frauen zwischen den Gräberzeilen. Gendarmen bewachten den hellen Stadtplatz und das Haus des Kaïm Makam, zu dem wir sogleich geführt wurden.

Es gab eine formelle Begrüssung, Kaffee und eine umständliche, von Höflichkeitsphrasen getragene 127 Unterhaltung. Irak und die Schweiz wurden als die besten Länder gerühmt, ihre Völker als die reifsten und edelsten. »Doch herrschen darüber in Europa zahlreiche Irrtümer«, liess uns der Kaïm Makam sagen, »hält man uns Iraker doch bei euch für Leute ohne Kultur, wie die Berber in Afrika.«

Er rühmte Nadschaf, seine alten Schulen, die Grossmut der Gläubigen, welche durch ihre Stiftungen oft tausend Schüler ernährten und kleideten und es ihnen möglich machten, zu Füssen der berühmtesten Lehrer des Korans zu sitzen. Viel Geld ströme auf diese und manch andere Weise in die Stadt, denn da sei noch der Transport der Toten, die Einnahme für ein teures Grab im Inneren der Moschee und in ihrem Hof, und immer wieder die Opfer, Stiftungen und Versöhnungsgelder, die von weither, selbst aus Indien, dem Heiligtum zugedacht würden.

Vier Gendarmen begleiteten uns durch den Basar und zeigten uns aus gemessener Entfernung die Tore der Moschee, die das Grab Alis und den kostbaren, mit Edelsteinen bedeckten Schrein enthält.

Wir blickten in Höfe, wo die Schüler des Korans in reinen Turbanen auf- und abgingen. Ein ehrwürdiger Patriarch und berühmter Lehrer kam durch eine Gasse auf uns zu, ein schwarzes Tuch fiel über seine Schultern, darüber türmte sich ein riesiger Turban. Scheu eilten die Leute ihm entgegen, um seine Runzelhand zu küssen.

Wo wir gingen, folgte uns eine stumme Menge; wir fühlten ihre feindlichen Blicke in unserem Rücken.

Von einem Dach aus konnten wir die Kuppel, gross und nah wie ein feuriges Gestirn, erblicken, unter uns den Hof, weisse Stille, Schatten und Sonnenflecke und die Pilger, 128 die aus den drohend aufgerichteten Toren kamen. Leere Särge, schmale, leichte Kisten, standen der Sonne ausgesetzt, daneben ausgebreitet die langen Leichentücher.

Wir gingen durch den Basar zurück, leicht benommen von dem Geruch der Leichenstadt, ihren Gewürzbuden und dem rötlichen Staub der Kupferschmiede. Es war die Mittagsstunde; Qualm drang aus den Garküchen, Geruch von Hammel, gebratenem Fett. Die Leute standen um die schwarzen Kessel, assen saure Milch und tropfende Auberginen; man sah, drei Treppenstufen unter dem Erdboden, die Bäcker stehen und die runden flachen Chubslaibe dem Lehrling zuwerfen, der sie draussen, noch rauchend, in schrägen Gestellen aufschichtete. Man erzählte uns, dass Nadschaf noch eine zweite, eine unterirdische Stadt berge: Jedes Haus ist zwei oder drei Stockwerke tief unterkleidet, da findet man Zimmer und Gänge und Treppen, und im Sommer ziehen die Bewohner hinunter, um sich vor der Hitze zu schützen – zeitweise auch vor den Beduinen, denn Nadschaf, mit seinen Moscheeschätzen und ungeschätzten Reichtümern, lockt leicht die Räuber der Wüste an; ausserdem lebt es in beständigen Intrigen, verwickelt in die Fehden der Stämme und in Abenteuer dunklerer Natur. Die Keller sind gute Schlupfwinkel, und draussen, in den Räumen der starken Stadtmauer, soll ein unsicheres Volk hausen, welches auf seine Weise aus der Heiligkeit Nadschafs sein armes Geschäft macht.

Als wir die Gräberstadt verliessen, den weissen Friedhof im Rücken hatten, atmete ich auf und freute mich auf Kufa, das mit seinen Cafés und Blumentöpfen auf der Uferbank, seiner schwankenden Brücke, seinem lässig strömenden 129 Fluss ein Stück wiedergeschenkten Lebens war – selbst wenn seine Knaben mit den schmalen, glänzenden Beinen die Söhne von Verrätern sein sollten und ihre unschuldigen jungen Herzen einst den Streiter Allahs verraten werden, wenn er seine düstere Fahne über der Wüste entrollt.

Wir fuhren nun, ohne uns aufzuhalten, nach Hilla zurück, assen dort, wieder sehr verspätet, und besuchten Babylon, als gerade die Dämmerung begann. Das ungeheure Ruinenfeld lag ganz einsam; man sah in der Ferne die wallartige Erhebung der Stadtmauer, den zerklüfteten Hügel Babil und im Süden die Ruine von Kisch, der älteren Herrscherstadt. Wir gingen auf dem Pflaster von Nebukadnezars Prozessionsstrasse, blickten auf die unerschütterlich schreitenden Fabeltiere des älteren Ischtartores hinab, auf Löwe, Stier und Muschhuschu mit der Schlangenhaut. Der Thronsaal lag schon im Schatten, das tödliche Schweigen der Riesenstadt wand sich beklemmend ums Herz.

Als wir, drei Stunden später, Bagdad erreichten, war die Maudebrücke gesperrt; eine grosse Feuersbrunst drüben in Newstreet rötete den Himmel.

Der vollzogene Untergang und seine beständige Drohung reichten sich die Hände. 130

 


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