Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Teheran

März 1934

Keine Jahreszeit hätte sich besser eignen können, um die Bekanntschaft Persiens zu machen, als dieser herbe und liebliche Frühling! Die Sonne hat schon einige Kraft, aber die Luft ist frisch und immer von leichtem Wind bewegt. Die grossen Hochebenen sehen aus wie dem Himmel entrissen, die Gebirge an ihrem Rand glänzen in überirdischen Farben – aber trotzdem ist das Land nicht urweltlich, sondern präsentiert sich als alter, geschichtlicher Boden und weckt abwechselnd Ehrfurcht und Neugier. Man versteht immerhin, dass es den Arabern so leicht gelang, die Perser von ihrer Vergangenheit zu trennen und ihnen ihre Religion zu nehmen und durch den Islam zu ersetzen; und man versteht noch besser, dass später die Legenden Firdausis zur nationalen Tradition erhoben wurden, ohne dass es jemandem einfiel, an ihrer mehr als geschichtlichen Wahrheit zu zweifeln. Denn jedes Geschehnis muss hier einen gleichsam übernatürlichen Charakter erhalten, und es konnte keinen Anstoss erregen, Städte, Tempel und Paläste Göttern und Heroen zuzuschreiben, wie auch die Throne, die Grabmäler und die Bilder, die man in Felsen eingehauen fand und deren Inschriften von niemandem mehr gelesen wurden . . .

Man liest sie heute, und wenn die Ausgrabungen fortschreiten, Ekbatana und Rhagai freigelegt werden und Persepolis seine letzten Geheimnisse hergibt, wird man alles beim rechten Namen nennen und den Ereignissen ihren 143 rechten Platz zuweisen können. Aber die Tatsache wird nur bestätigt werden, dass dieses den irdischen Massen entrückte Land der Schauplatz aller riesenhaften und furchtbaren, zuweilen auch erhabenen menschlichen Geschehnisse wurde, gerade, als ob die Menschen der Nähe des Himmels nicht gewachsen wären und in taumelnde Selbstüberhebung gerieten. In diesem Zustand machte die Legende sie zu Halbgöttern – Persien war damals die Heimat eines unruhigen, hochfahrenden und begabten Volkes geworden, dessen Jünglinge ich gern von Hölderlin beschrieben wüsste; sie waren ritterlich und schwärmerisch, vom Wert ihrer kriegerischen Tugenden überzeugt, dabei von verletzlichem Stolz. Man lehrte sie »mutig sein und gut reiten« – aber diese Ideale verblassten während der jahrhundertelangen Fremdherrschaft von Türken und Mongolen. Ihre Heimat war das »Tor von Asien« und unendliche Völkerzüge wälzten sich über seine Hochebenen, nicht ohne etwas davon zurückzubehalten; sei es auch nur die Erinnerung an seine Grösse. Für alles büssten die Perser. Mit der Dynastie des Schah Abbas begann eine neue nationale Geschichte, aber es war die einer langen Degeneration. Eine solche Verfeinerung der Kunst, mit der sie sich fast ausschliesslich beschäftigten, ist immer schon das Zeichen der Abwendung von den groben, handfesten Aufgaben des Kriegführens und vom nationalen Ehrgeiz.

Die Perser verraten heute eine Genügsamkeit, wie sie Völker eigen ist, die eine grosse Aufgabe hatten und ihre Rolle erfüllten, und nun bereit sind, in den grossen Schoss der Geschichtslosigkeit zurückzukehren. Es mag etwas orientalische Indolenz mit dabei sein, doch soll man sie nicht 144 mit der Erschöpfung aus tieferen Ursachen verwechseln. Die Inder erfanden nach einem verwandten Schicksal eine Religion der Passivität und beschwören die unendliche Auflösung in unsere endliche Zeit. Die Perser aber sind heute noch, wenigstens in religiösen Gefühlen, eines Fanatismus fähig, der wie ein Aufflackern bedrohter und im Kern schon angegriffener Energien ist. Sonst aber warten sie, anscheinend ohne grosse Hoffnungen, darauf, dass die Pforten des Paradieses sich ihnen öffnen.

Ali, ihr Prophet, und ihr Liebling Hussein tragen Märtyrerkronen, doch kennen sie nicht die Verklärung des Leidens, die dem Christentum eigen ist, und haben deshalb auch keinen Trost demütiger Herrlichkeit zu vergeben.

Wirksamer ist jener unbenennbare Zustand des Keif, der die Grenzen zwischen angenehmen und leidenden Empfindungen verwischt, den schwachen Willen des Individuums auslöscht und ihm eine körperlose Hand aus den Wolken leiht . . . 145

 


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