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Bagdad, 7. Februar 1934
Es regnet seit gestern abend. Die Kälte scheint gebrochen, und der Regen nimmt sich wie ein lauer, langanhaltender Frühlingsregen aus. Als ich gestern nacht von der Deutschen Gesandtschaft nach Hause fuhr, war der Weg schon aufgeweicht; von Reiten kann morgen keine Rede sein. Auch nach Tell Asmar werde ich nicht fahren können, sondern zunächst einige Tage in der Stadt festsitzen.
In Europa spielt das Wetter kaum mehr eine Rolle; hier ist man noch vom Wasser, vom Staubsturm, vom Fluss abhängig und steht dadurch zur Natur in einer nahen Beziehung. Man versteht, dass die Menschen hoffend und fürchtend zu den Göttern beten, und dass ihre Gewalten unserm Willen gegenüberstehen und immer den Sieg davontragen. Das gibt eine ganz andere Geduld.
Wären wir gestern nachmittag nicht gerade vor Beginn des Regens aus dem Süden zurückgekommen, so würden wir jetzt vermutlich irgendwo zwischen Kut und Ktesiphon im Schlamm stecken. Und der Himmel bewahre mich vor einer zweiten Nacht in Kut! Aber der Ausflug nach Süden war ausserordentlich, ein Erlebnis, welches ein Stück Europa-Hochmut in Stücke schlug.
Ich war Freitag abend mit Dr. Jordan aus Babylon zurückgekommen – es ist schade, dass diese Ruine so leicht erreichbar geworden ist. Nun fahren Scharen von Ausflüglern dorthin, mit Picknickkörben und englischem Geplauder, durchschreiten Babel und treiben sich respektlos auf 92 dem Pflaster von Nebukadnezars Prozessionsstrasse herum, erkennen erfreut die schönen, klugschreitenden Fabeltiere am älteren Ischtartor, die bescheidenen Geschwister der späten, blauglasierten, welche man vorher im Museum von Bagdad gesehen hat, und der Löwe, den Miss Bell auf ein Postament stellte, damit er leichter fotografiert werden kann, hält langmütig dem täglichen Ansturm der Kodaks und Leicas stand. Aber ich vermute, dass es ihm nicht viel anhaben kann; er späht über alles hinweg nach der Ebene, während der Mensch unter ihm sich verzweifelt auflehnt und mit den klobigen Händen in seine Mähne greift; man sieht schon: vergebens.
Man hat gesagt, dass der »Löwe von Babylon« für seine Erzeuger den Beweis einer naturalistischen Begabung liefere, die ihnen sonst fehle. Aber er wirkt nicht entfernt so unbeschwert anregend und erfreuend wie die ägyptischen Jagdtiere der Amarna-Zeit – er steht ihnen nicht näher als dem babylonischen Symbol und den Fabeltieren (für die uns meistens die Phantasie und die Einbildungsgabe fehlen). Ich glaube, er ist das Werk eines verhältnismässig freien Geistes innerhalb einer gebundenen Welt, eines grossen Künstlers, der aber den tiefen Gesetzen der religiösen Offenbarungs-Kunst nicht entgangen ist. Vermutlich wäre der Löwe im Lauf der Zeit zu einem Symbol geworden; für uns ist er erst eine Vision, aber schon viel mehr als »naturalistisch«, eben noch unserm Verständnis zugänglich.
Ich sah Dr. Jordan nachdenklich und, so schien es mir, mit leicht getrübtem Auge vor seinem Löwen stehen. Es kann für ihn keine Freude sein, der wachsenden »Profanierung« der Weltstadt Nebukadnezars und Alexanders 93 durch soviel unberufene Touristenneugier beizuwohnen. Aber wie nahe steht uns noch Alexander! In Babylon fand seine Hochzeit mit Roxane statt und die Massenhochzeit seiner mazedonischen Offiziere mit persischen Frauen, und hier starb er und erlag seinem europäischen Schicksal: verstrickt in ein Abenteuer, welches über seine Kraft ging.
Auf der Rückfahrt von Babylon hatten wir ziemlich starken Wind und viel Staub. Es war das erste Mal, dass ich einen »Sandsturm« sah, von dem hier so viel gesprochen wird. Aber er war nur ein kleiner Anfang.
Noch am späten Abend wurde ich von einem Herrn angerufen, der mir vorschlug, am nächsten Tag mit einer jungen Amerikanerin und einem palästinensischen Ingenieur nach Ur und Warka zu fahren. Ich sagte sofort zu, packte meine Sachen und machte mich auf halb acht Uhr morgens bereit.
Es war ein sehr schlechter Tag. Bis Hilla hatten wir starken Sturm und kamen nur langsam vorwärts. Der Sand sah wie dicker Nebel aus, und man verlor nach kurzer Zeit jede Orientierung und folgte blind den breiten Wagenspuren, welche man hier als »Strasse« bezeichnet. Manchmal tauchten dicht vor uns Kamele oder Reiter schattenhaft auf, und zweimal begegneten wir Lastwagen und stiessen beinahe mit ihnen zusammen. Das grosse Pfeifen des Windes war sehr schön und gab den Eindruck unendlicher Weite, aber der Staub verschloss sie und engte uns ein, und man glaubte sich in einer anderen Welt mit unbekannten Sensationen. Unsere Handtaschen, Decken und Mäntel waren sofort mit einer dicken Staubschicht bedeckt; nach einiger 94 Zeit begannen wir zu husten und hatten ausgetrocknete Kehlen. Von Babylon sah ich diesmal nichts ausser dem Hügeltor Babylon und einem Wegweiser. Ich glaubte, dass wir vielleicht doch, wie es im Märchen von der Stadt Vineta auf dem Meeresgrund erzählt wird, die Jahrtausende übersprungen hätten und nun mit sausenden Ohren und leicht erblindeten Augen den Wegweisern »nach Kisch« und »nach Babylon« begegneten, und dass demnächst ihre Stadtmauern aus der Ebene auftauchen würden.
Hinter Hilla wurde das Wetter besser. Wir folgten eine Strecke weit dem Flussufer und fuhren durch grosse Gärten und Palmenwälder. Ausserhalb des Flusses ist hier Wüste, aber die Ufer des Euphrats und die der grossen Kanäle sind liebliche, gesegnete Strassen; das Leben findet sich hier zusammen, es gibt hellgrüne Grasflächen und braune, frischgepflügte Äcker; man sieht Esel und Büffel weiden, und die grossen Segelboote tauchen zwischen den Palmen auf und fahren langsam flussabwärts. Es ist ein Bild wie aus den Frühzeiten der Erde, und ich will nicht zweifeln, dass die Menschen, die aus der Wüste zu diesen schönen Ufern kamen, sich so und nicht anders den Garten des Paradieses vorstellten.
Man lernt hier die einfachen Gesetze der Menschheit wie aus einem Bilderbuch: Die schönen, blühenden Ortschaften liegen unweigerlich an einem Flussarm, der reichlich Wasser führt – so Hilla und Samawa, dessen Schiffsbrücke und Basar und Reismühlen wir fotografierten. An den trockenen Kanälen liegen die verlassenen Dörfer und unten im Süden die begrabenen Königsstädte, deren Gärten in Wüste verwandelt wurden, weil der Euphrat nach Westen 95 wanderte und die nachkommenden Geschlechter den Kanal Hammurapis vernachlässigten.
Es wurde früh dunkel, aber man wusste nicht, ob es schon die Abenddämmerung war oder ob der Sand die Sonne verdeckte und uns in diese sonderbare, gleichmässige gelbe Nacht hüllte. Ich hatte den Eindruck, dass wir viele Stunden so gefahren seien: immer in der Ebene, die endlos schien oder kreisrund, und wir darin gefangen und fast schwindlig von den wehenden, auf- und abgleitenden Staubschwaden.
Gegen fünf Uhr klärte es sich plötzlich auf, und wir sahen hinter uns die Sonne untergehen. Es war ein herrliches Schauspiel, und der Himmel glänzte weithin von den farbigen Strahlen, bevor er erlosch und nur noch ein schmaler gelber Streifen übrig blieb.
Die Leute fahren hier ungern in der Dunkelheit. Man fühlt sich schon am Tag verlassen genug. Aber des Nachts wird es fast unerträglich, und man ist nur noch ein einziger Punkt in einem grossen Kreis von Wind, Ebene, Sand, schwarzem Horizont.
Es war eine schreckliche Einsamkeit. Wir trafen lange Zeit nichts Lebendiges mehr an ausser ab und zu einem Beduinenzelt. Man sah die Bewohner um ein kleines Feuer sitzen, welches vor dem Eingang brannte. Auch die Frauen erkannte man, sie waren unverschleiert und sahen dunkel und schön aus und reich geschmückt. Aber wahrscheinlich war der blitzende Schmuck sehr gewöhnlich, denn die Nomaden dieser Gegend sind meistens arm. Es ist fast unbegreiflich, wie sie in solcher Abgeschlossenheit existieren können. Doch sie sind anspruchslos, und Entbehrungen bedeuten ihnen nichts; sie haben ja Zeit. Wir fuhren an ihren 96 roten Feuern vorbei, den einzigen Lichtern in der Nacht, und dann wieder in das Dunkel vor uns. Die Strasse war sehr schlecht. Manchmal war sie eine runde Muhle wie ein trockenes Bachbett, manchmal breitete sie sich aus und war nur ein breiter Spurenstreifen in der Ebene.
Endlich erreichten wir einen Wald und wussten, dass wir in der Nähe von Wasser waren. Wir tauchten unter und befanden uns unter einer Decke von verschlungenen Ästen und Laubwerk und unter schwerer, feuchter Luft. Wir kamen zu einer Lehmhütte und riefen, bis der Besitzer herauskam: ein dunkler Araber, fast so schwarz wie ein Neger, nur mit einem kurzen weissen Hemd bekleidet. Er erklärte unserm Chauffeur den Weg nach Ur, und wir fuhren tiefer in den Wald hinein und atmeten die warme Treibhausluft. Die Strasse war ein schmaler Damm zwischen den tiefen, dunklen und verschlungenen Pflanzen. Der Boden musste hier sumpfig sein.
Als wir wieder ins Freie kamen, sahen wir rechts von uns die Lichter von Ur-Junction: eine ausgedehnte Reihe von Lampen in regelmässiger Entfernung; wir vermuteten, dass es die Bahnlinie sei. Wir erreichten den Ort eine halbe Stunde später.
Ich dachte daran, dass wir uns nun auf dem Boden von Abrahams Herden befanden, aber es sagte mir nichts und ich wünschte nur, dass wir möglichst bald das Rasthaus finden würden. Es war ein sehr kleines Haus mit einem Schlafraum und einem Wohnraum, der ziemlich sauber und angenehm aussah. Ein Inder bediente uns still, ein netter alter Mann, der die Betten überzog, Tee bereitete und sogar aus irgendeiner Stationskneipe spärlichen, schlechten Whisky 97 und laues, fadschmeckendes Wasser brachte. Ich schlief sehr gut und erwachte erst um halb sieben Uhr. Die anderen hatten fast gar nicht geschlafen und waren schon auf und warteten, ob es gutes Wetter geben würde. Es wurde hell, während wir frühstückten; wir sahen, dass wir einen schönen Tag vor uns hatten.
Wir fuhren an der Station vorbei über die Eisenbahnschienen und über die Pipeline, welche das Wasser vom Fluss zur Station leitet. Die ganze Zeit sahen wir die Zikurrat von Ur vor uns und waren alle überrascht, wie gross und beherrschend sie war, und wie gut erhalten. Es war Sonntag; es wurde deshalb nicht gegraben, aber Herr Woolley war schon angezogen und führte uns zur Zikurrat und in die archaischen Königsgräber, aus denen der berühmte Schmuck stammt. Am meisten interessierte mich die Stadt mit dem »Haus Abrahams«, weil sie genau die Anlage eines modernen arabischen Ortes hat, mit den gleichen engen Gassen und den L-förmigen Korridoren, die das Innere des Hauses vor den Blicken Neugieriger schützen. Ein wenig später kam auch Mrs. Woolley und begleitete uns bis zu der Stelle, wo dieses Jahr gegraben wird.
Man hat im vergangenen Jahr in der Nähe der jetzigen Grabung Gräber aus der Dschemdet-Nasr-Zeit gefunden und hofft nun, auf einen Begräbnisplatz dieser Periode zu stossen. Natürlich sahen wir auch die Tiefgrabung, wo Woolley die Ablagerung der »Sintflut« festgestellt hat. Er spricht von diesen Dingen mit grosser Liebe und so, als handle es sich um Ereignisse von gestern. Man verliert dadurch den Respekt vor den Jahrtausenden und erfasst leichter, dass es sich um menschliche Schicksale gehandelt hat, 98 deren Spuren wir hier noch finden. Ich für mein Teil zweifle, ob diese Methode der Popularisierung wirklich den geschichtlichen Vorgängen gerecht wird. Alles, was man in Ur sieht, ist schon ein Programm geworden: die »Königsgräber«, der »Golddolch«, das »Haus Abrahams«, und man muss sich erst darauf besinnen, dass die Funde von Ur ja in irgendwelche Zusammenhänge und Abläufe und namentlich auch in die wissenschaftliche Diskussion gehören.
Herr Woolley kann allerdings nichts dafür, dass Ur durch die Station Ur-Junction so leicht erreichbar geworden ist. Ur besucht zu haben wird bald zum guten Ton des irakischen Touristenkodex gehören.
Wir fuhren um elf Uhr von Ur weg, kauften in Nassirija Benzin und fuhren auf Anregung von Herrn Woolley nordwärts nach Schatra. Gewöhnlich geht man, um nach Uruk-Warka zu kommen, nach Chidr, setzt dort über den Euphrat und hat dann bis Warka noch ungefähr dreiviertel Stunden zu fahren. Wir wollten vermeiden, über den Fluss zu setzen, machten auf diese Weise aber einen enormen Umweg. In Schatra gab man uns einen Führer mit. Schatra ist eine richtige Fluss-Stadt: Man fühlt, dass sie wie Hilla nur durch den Fluss existiert, und dass sich das ganze Leben um den Fluss abspielt. Wir sahen die Frauen aus den Hoftüren kommen und mit grossen Tonkrügen zum Ufer hinabgehen; kleine Mädchen trugen sorgfältig flache Schalen voll Wasser über die Strasse, eine Mutter wusch den verwundeten Fuss ihres Bübchens im Fluss und umwickelte ihn dann sorgfältig mit einem alten Tuchfetzen. Auf der Brücke und am Ufer entlang standen die Männer beisammen, rauchten und spuckten und tranken Kaffee; ein grosser 99 Überland-Omnibus kam gerade angefahren, der Chauffeur mit schwarzweisser Kufija liess sich ein Glas Wasser geben und trank es in einem Zug leer. Und dies alles spielte sich am Ufer ab, man hörte Singen und die traurigen Eselsschreie, Knaben spielten im seichten Wasser, und ein Kind hob sein Kleid hoch, bückte sich und schöpfte umständlich mit der kleinen Hand das Wasser zum Mund.
Inzwischen kam unser Führer, ein alter, prächtig aussehender Beduine, mit einer langen Flinte bewaffnet. Er ist der Führer der Gendarmerie von Schatra und kennt die Wüste seit dreissig Jahren. Er setzte sich neben den Chauffeur, legte die Flinte zwischen die Knie, und die Fahrt begann. Wir verliessen bald die Strasse und das Flussufer und bogen nach links ab. Zuerst gab es viele Spuren, denen wir folgten, aber sie verteilten sich, gingen auseinander, kreuzten sich irgendwo wieder, ohne dass man darin ein vernünftiges System hätte erkennen können. Und bald fuhren wir überhaupt ins Leere, nach Westen, der sinkenden Sonne zu, immer tiefer in Sand und Weglosigkeit. Es gab Büsche, Dünen, manchmal ein ausgetrocknetes Wadi. Der Beduine fand die Richtung, wie ein Hund eine Spur findet: er wich manchmal ein wenig nach links und rechts ab, machte einige Kurven, die uns sinnlos schienen und befand sich auf diese Weise plötzlich wieder auf einer Spur, die man jetzt, gegen die Sonne, schwach erglänzen sah. Dabei sprach der Alte unentwegt; ich liess mir sagen, dass er von seinen Wüstenreisen und Abenteuern erzähle, aber ich verstand kaum hier und da ein Wort und fand den rauhen, erregten Ton seiner Stimme ziemlich unangenehm. Wir kamen zu dem geschlossenen Expeditionshaus einer Grabung, welche 100 die französische Expedition von Tello letztes Jahr begonnen hat. Dort stieg ein Beduine zu uns ein, der die Aufsicht über die Ruinen des Gebietes hat, eine Art Polizeibeamter. Er hatte auch ein Gewehr bei sich, so dass wir nun doppelt geschützt waren. Er war jung und beinahe schwarz, aber ganz ohne negroide Züge – ein sehr wild und sehr gut aussehender Mann.
Wir befanden uns jetzt mitten in der Wüste und durchquerten den breiten, trockenen Schatt al-Kar, der einmal der alte Euphrat gewesen ist. Es gab Städte und Gärten und Felder an seinem Ufer, und das Land war voll von Leben. Jetzt läuft der Schatt al-Kar wie ein verlassener Riese durch die Wüste; als wir über die steile Böschung hinunterfuhren, sagte ich, um gerecht zu sein, etwas von »gesegnetem Boden«, aber es gab nur Schakale und Schlangen, die davon noch etwas halten . . .
Wir hatten die schreckliche und fast schon schöne Vergänglichkeit aller menschlichen Bestrebung vor unseren Augen, und ich gestehe, dass ich geneigt war, angesichts der Wüste, die einmal der Boden der frühesten Kultur gewesen ist, an allen Realitäten der Vergangenheit wie der Zukunft zu zweifeln, denn wir glauben so recht von Herzen doch nur an den Augenblick, den es nicht gibt.
Wir kamen kurz vor Sonnenuntergang nach Warka. Die Sonne hatte uns schon lange als gelber, von Dunst eingehüllter Ball begleitet und sank nun langsam, ein getragenes Götterbild, unter den Rand der Wüste.
Wir sahen zuerst Dr. Heinrich und Dr. Falkenstein und später die anderen Mitglieder der Expedition. Sie sind alle ziemlich jung und sehen aus wie Leute, die zu arbeiten 101 verstehen. Sie gleichen gar nicht den amerikanischen Ausgräbern, die immer etwas vom Boy-Scout beibehalten, sondern sie sind junge Wissenschaftler, die sich in einem wahren Fieber der Arbeit befinden und sich ganz ihrer Aufgabe bemächtigt haben – oder vielmehr, die Aufgabe hat von ihnen Besitz ergriffen.
Dieser Eindruck bestätigte sich mir am nächsten Tag, und ich fühlte, wie von dieser Ausgrabung eine gefährliche Intensität ausging, der man sich wahrscheinlich nicht entziehen kann, wenn man sich erst einmal mit den Jahrtausenden einlässt . . .
Am Abend gab es ein Gewitter, das nicht richtig zum Ausbruch kam. Wir sahen, vom Dach des Expeditionshauses, die Blitze und den roten, feurigen Schein am Rand der Wüste und die gelbgefärbten Wolken, welche wie riesige Tierherden über die endlosen Sandflächen gejagt wurden. Und die ganze Nacht hindurch hörte man den Wind um das Haus pfeifen.
Ich stand am nächsten Morgen um sechs Uhr auf und sah, wie der Tag in der Wüste beginnt. Vor dem Expeditionshaus stehen die Hütten der Arbeiter aus Hilla, aus Strohmatten gemacht und mit runden Tonnendächern. Die Frauen kamen heraus und machten Feuer; auch im Hof brannte ein Feuer, und einige Männer sassen davor, an die Wand des Hauses gelehnt, und wärmten sich. Unsere beiden Beduinen standen mit ihren langen Gewehren draussen wie Wächter. Es wurde sehr rasch hell, und die Wüste bekam eine warme graue Farbe. Man sah die Sonne nicht aufgehen, der ganze Horizont war mit Nebel bedeckt, und das Licht wurde gebrochen und rieselte durch die poröse Wand.
102 Um sieben Uhr begann die Arbeit. Man sah von allen Seiten Männer auf die Zikurrat zukommen, die einen aus einem entfernten Dorf, die anderen von einem zweiten Lager, das ich nicht sah. Die Frauen gingen in ihre Hütten und blieben den ganzen Tag verschwunden.
Wir waren nachher vier Stunden auf der Ausgrabung, und diese Zeit genügte kaum, um das Wichtigste zu sehen, obwohl ich die Grundrisse und Pläne der Stadt schon kannte. Ich war natürlich am meisten auf die archaischen Schichten an der Südseite von Eanna gespannt, und obwohl in diesem Jahr auch an anderen Stellen sehr wichtige Grabungen im Gang sind, merkt man doch gleich, dass das eigentliche fieberhafte Interesse sich auf diese Schichten konzentriert. Es ist ein aufregender Augenblick, wenn man zum erstenmal in die Tiefgrabung hinuntersieht, die Dr. Jordan 1930/31 begann, und unten den Schlick des natürlichen Bodens erkennt, der einmal der Grund des Persischen Golfes war. Darüber bemerkt man die Schicht der frühesten Siedler, die Schilf zu einem festen Boden zusammentraten und ihre Hütten, ebenfalls aus Schilf, darauf errichteten. Und so, Schicht um Schicht, bis zu den Fundamenten der Periode IV, die immer noch weit vor den Anfangen unserer datierbaren Geschichte liegt und schon der Höhepunkt einer wundervollen Kultur war. Die Grabung ist so weit vorgerückt, dass man sich leicht das Bild jener glänzenden Stadt vorstellen kann, mit der weithin sichtbaren Zikurrat, dem leuchtenden Roten Tempel und dem prunkvollen Gebäude, dessen Wände und mächtige Pfeiler mit Tonstift-Mosaiken in roter, schwarzer und weisser Farbe verkleidet waren.
103 Später sahen wir noch den sogenannten Südbau. Man überspringt in Uruk mit jedem Schritt ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende. Dieser Bau ist das getreue, vergrösserte Seitenstück zu dem Anu-Antum-Tempel, der noch babylonischen Grundriss aufweist, obwohl er aus seleukidischer Zeit stammt.
Chaldäische Priester haben diese Tempel gebaut, konservative Feinde des neuen hellenistischen Geistes. Die uralte Kultstadt mit den beiden prächtigen Riesentempeln muss auf die jungen Griechen aus der Schule des Aristoteles wie ein Wunder und wie das Symbol des unbegreiflichen Ostens gewirkt haben.
Man sieht jetzt nur die breite Eingangsfront des »Südens«, breit, horizontal, flächenhaft wie alle monumentalen Bauwerke der Babylonier – einige Reste der blauen Glasur helfen der Phantasie nach.
Leider wird man den Tempel nicht weiter ausgraben; vermutlich wäre er, freigelegt, das prachtvollste Monument dieser Art im ganzen Orient, und Cook müsste in Uruk ein Zeltlager einrichten wie in Petra. Aber daran kann dem Expeditionsstab freilich wenig liegen . . .
Wir liessen den Wüstengendarmen bei dem französischen Expeditionshaus und fuhren bis zur Strasse, die von Schatra bis Hajj und Kut führt. Dort gaben wir unserem Alten Geld für ein Pferd und verabschiedeten ihn. Er machte sich unter vielen Segenswünschen auf den Weg. Wir zogen bis Kalaat Sukkar und setzten dort in einer Fähre über den Hajj-Fluss. Es war noch hell, als wir ankamen, der Fluss lag still und gelb zwischen seinen Ufern. Wir sahen, wie die Fähre herüberkam – sie bestand aus zwei zusammengekoppelten 104 Booten mit einem losen Bretterboden darüber; zwei Männer in hochgeschürzten Kleidern schleppten sie an einem Seil über den Fluss. Sie standen auf den Bootkielen, stemmten sich mit den nackten Füssen gegen das Holz und hängten sich mit ihrem ganzen Gewicht an das Seil. Ein dritter Mann steuerte das Fahrzeug mit einer langen Stange. Am andern Ufer standen die Männer von Kalaat Sukkar vor den Häusern und beobachteten, was auf dem Fluss vorging. Es war die erste Stunde des Abends, die Frauen gingen zum Wasser hinunter und trugen die schweren, gefüllten Krüge auf dem Kopf zurück. Knaben ritten auf Eseln zur Schwemme, jagten die Tiere hinein und liessen sie im strömenden Wasser stehen. Ein wenig flussaufwärts gab es einen schönen Palmenhain, und auf dem schmalen Uferweg wurde die Schafherde des Dorfes heimwärts getrieben. Dann kamen zwei Balams um die Ecke des Flusses und zielten mit langsamen Ruderschlägen auf uns zu. Als die Fähre angelegt hatte, fuhren wir die steile Uferböschung hinunter und über zwei schmale Balken auf die krachenden Bretter. Die Burschen hängten sich an das Seil, und wir wurden langsam in die Flussmitte hinausgezogen. Die Wasserfläche wurde jetzt von der untergehenden Sonne getroffen und war, so weit man sehen konnte, ein Spiegel aus sanftem gelbem Licht. Auch die Ufer, die Palmen und die Hütten des Dorfes glänzten in der Abendsonne; es war ein wunderbar friedfertiges Bild. Drüben angelangt, mussten wir wieder über die beiden Balken fahren und mit einem Anlauf das lehmige und steile Ufer nehmen. Kurz hinter Kalaat Sukkar wurde es dunkel, und wir hatten lange nur noch Nacht und Ebene um uns, ohne ihre Grenzen unterscheiden zu können. In 105 Hajj, am Eingang des gedeckten Basars, sagte man uns, dass wir nicht mehr bis Kut fahren könnten, weil die Fähre des Nachts ausser Betrieb sei. Man führte uns zum Chan, und wir gingen die Treppe hinauf auf den Balkon, der rings um den Hof läuft und auf den alle Räume des Chan münden. Man brachte uns eine Laterne, und wir leuchteten in einen der Räume hinein, aber er war so schmutzig, dass wir beschlossen, im Auto zu schlafen. Als wir die Treppe hinunterstiegen, war der ganze Hof voll von Leuten und die Gasse vor dem Chan so überfüllt, dass man kaum über die Schwelle konnte. Dann kam Gendarmerie, und wir wurden nach unseren Namen, unseren Pässen und Reiseabsichten gefragt. Man führte den Ingenieur zum Ortskommandanten, ein Gendarm blieb als »Wache« beim Auto zurück. Während wir warteten und von den Leuten wie ein Weltwunder angestaunt wurden, erschien am Ende der Gasse ein Mann mit einer Laterne und hinter ihm ein grösserer Mann in einem schönen Mantel und weisser Kopfbedeckung. Bei seinem Anblick hob sich ein Gemurmel, die Menge wich auseinander, eine Gasse öffnete sich, durch welche der würdige Mann rasch und ohne sich umzublicken hindurchschritt. Man sagte uns, dass er der Scheich von Hajj sei, das religiöse Oberhaupt des Ortes. Ich sah, als er an uns vorüberging, sein sonderbar verschlossenes, beschäftigtes Gesicht und den milden und abwesenden Blick unter einer sehr weissen Stirne. Viele Leute drängten zu ihm, bückten sich und küssten seine Hände. Der Diener lief eilig vor ihm her und trug die Laterne hoch, um damit den schlechten Weg zu erleuchten. Dann verschwanden sie durch die schmale Türe eines Hauses.
106 Bald darauf kam der Ingenieur mit einem bewaffneten Gendarmen zurück, der uns bis Kut begleiten und dafür sorgen sollte, dass wir mit dem Fährboot übergesetzt würden. Wir brauchten eine Stunde bis zum Fluss und sahen plötzlich das rote Licht des Anlegeplatzes in der Dunkelheit vor uns. Die Gendarmen kamen alle aus dem Wachhaus gelaufen. Hunde bellten irgendwo unsichtbar, unsere Ankunft mitten in der Nacht verursachte grosse Aufregung. Wir sahen den Tigris, einen breiten, schwarzen Strom – und drüben, sehr weit weg, wie es uns vorkam, ein paar zerstreute Lichter. Unser Polizist ruderte mit einem zweiten Mann hinüber, um die Fährleute zu wecken; er sagte uns, dass er in ungefähr zwei Stunden zurück sein würde. Es war ungefähr zehn Uhr . . .
Da es ziemlich kalt war, setzten wir uns in den Wagen und assen dort ein wenig Käse und Cream Crackers, nachher schliefen wir ein und wurden erst gegen Mitternacht geweckt, als die Hunde zu bellen anfingen und die Gendarmen an das Ufer hinabliefen.
Drüben sah man jetzt die Lichter des Fährbootes. Sie wanderten langsam über den Fluss auf uns zu, und wir erkannten die Umrisse des Schiffes und die Männer mit ihren dunklen Gesichtern und weissen Kufijas und nackten Beinen, deren Haut dunkel glänzte. Es war diesmal ein richtiges Fährboot mit einem Motor und gross genug für zwei oder drei Autos. Wir fuhren über eine solide, kleine Brücke hinauf, die Männer stiessen ihre langen Stangen ins Wasser, und ratternd und stossend schwammen wir in den Fluss hinaus. Es war eine klare Nacht; es gab so viele Sterne, dass der Himmel davon schimmernd erhellt war, und 107 unter uns spiegelten sie sich im schwarzen Wasser, und die Ufer warfen lange Schatten. Wir hielten immer auf das rote Licht des Anlegeplatzes zu, und als wir ihn fast erreicht hatten und schon in seichtem Wasser waren, sprangen einige der Fährleute hinunter, wateten bis ans Land und zogen die Brücke hinüber.
Wir landeten ohne Schwierigkeiten und fuhren nach Kut hinein. Der ganze Ort schlief, wir fuhren zwischen den gelben Lehmhäusern hindurch und an Palmengärten vorbei, dann in das neue Quartier, dessen gelbe Backsteinhäuser die Engländer gebaut haben, nachdem Kut im Krieg fast völlig zerstört wurde. Ich dachte an den Brief Gertrude Bells, worin sie Kut, »this poor little place«, beschreibt. Sie fuhr damals den Tigris hinunter und sah es vom Schiff aus.
Wir hatten einige Mühe, das Government Resthouse zu finden, das man uns in Kut versprochen hatte.
Ein alter, einäugiger Mann öffnete uns endlich die Türe. Das weitere war dann allerdings eine herbe Enttäuschung: das Resthouse bestand nämlich aus zwei kalten, kleinen Räumen, völlig kahl bis auf einen kleinen Feuerplatz und einige verstaubte und gebrechliche Liegestühle. Daneben ein »Badezimmer« – nach Ansicht des Einäugigen: eine feuchte Kammer mit einer Blechbadewanne ohne Wasser. Wir zündeten zuerst ein Feuer an, aber das half auch nicht viel, denn das Holz verbrannte sehr schnell und nach einer halben Stunde war das Feuer erloschen und liess kaum die Ahnung von etwas Wärme zurück. Da es zu spät war, um für irgendeine Bequemlichkeit zu sorgen, setzten wir uns in die Liegestühle und verbrachten eine äusserst kalte und ungemütliche Nacht.
108 Ich hatte, zum Überfluss, meinen Mantel in Warka vergessen und war deshalb wehrlos gegen die Kälte, die von überallher eindrang, durch die Wände und Fensterscheiben und besonders vom steinernen Fussboden herauf.
Um sechs Uhr gelang es uns, Tee zu bestellen. Ein kleiner, blasser Knabe, vermutlich der Enkel des Einäugigen, stieg zu diesem Zweck auf das Reservoir des WC, welches aus besseren Zeiten übrig geblieben war (natürlich ausser Funktion), und schöpfte daraus einen Krug Wasser. Auch unser Waschwasser entnahm er dieser Quelle und kroch mit seinem Krüglein behend wie ein Affe an der Leitungsröhre auf und ab.
Wir rösteten ein wenig frisches Chubs am Feuer und frühstückten recht und schlecht. Dann gingen wir zum Fluss hinunter, wo die grossen Lastboote lagen und Esel mit Ziegelsteinen beladen vorbeigetrieben wurden. Weiter flussaufwärts arbeitete eine Schar von Sträflingen. Die Schiffer kamen aus ihren geflochtenen Hütten und unterhielten sich mit uns oder vielmehr mit meinen Begleitern, denn meine Arabischkenntnisse sind in der Praxis so gut wie unbrauchbar. Die Schiffe waren unbeladen und ragten mit ihren Kielen hoch über die Wasserfläche. Sie waren hellblau und gelb dekoriert und sahen mit ihren Masten und Tauen, mit den Schilfhütten, grossen Bastmatten und Backöfen aus Lehm altertümlich und malerisch aus. Die Leute sagten uns, dass sie bis Bagdad zwei Wochen oder zwanzig Tage brauchen – mit dem Auto fährt man die gleiche Strecke bei gutem Wetter in vier Stunden!
Wir verliessen Kut erst um neun Uhr und fuhren bis Ktesiphon. Dort kannte sich der Ingenieur gut aus – er hat 109 einen Winter lang in Seleukia, der hellenistischen Stadt, gegraben, die der Partherresidenz Ktesiphon gegenüber am anderen Tigris-Ufer liegt. Wir setzten uns an die Mauer der mächtigen Königshalle, wo wir vor dem Wind geschützt waren, und assen dort ein wenig Chubs und ein paar Eier, die wir aus Kut mitgebracht hatten.
Wir unterhielten uns über die Parther und stellten fest, dass wir über ihre Fähigkeiten und besonders über den Wert ihrer Kunst ganz verschiedener Ansicht waren; es gibt dafür wohl noch keinen rechten Massstab. Dann gingen wir über das grosse Ruinenfeld, der Wind jagte darüber hinweg und wirbelte den Staub auf, Schafherden weideten, von zerlumpten Knaben und grossen weissen Schäferhunden bewacht. Wir fuhren um zwei Uhr weiter, kamen auf die asphaltierte Strasse, die durch das Fliegercamp Hinaidi der Engländer führt, und waren eine Stunde später in Bagdad.
Es war sehr gut, im Anschluss an Uruk-Warka die Ausgrabungen in Tell Asmar und Chafaja zu sehen. Dr. Frankfort schickte mir einen Wagen, der mich in wenig mehr als einer Stunde nach Tell Asmar brachte. Das Expeditionshaus ist viel grösser als dasjenige in Rihanija, aber der Stil bleibt derselbe; es gab auch einen Ford-Stationcar und einen grossen Kamin und noch manches, was mich stark an Rihanija erinnerte. Miss Lucie Smith war mit mir herausgefahren, und Dr. Frankfort nahm sich die Mühe, uns die ganze Grabung ausführlich zu erklären. Man ist hier schon weit fortgeschritten, der Plan der Stadt, die nach der Zeit Hammurapis aufhörte zu existieren, ist schon in grossen Zügen bekannt und leicht verständlich. Der grosse Tempel fehlt noch, dafür ist man bei einem kleineren Tempel dieses Jahr bis in 110 die Schichten hinuntergelangt, die den archaischen Schichten von Warka entsprechen.
Wir fuhren am Nachmittag nach Chafaja, das ungefähr eine Stunde von Tell Asmar entfernt ist. Der »ovale Tempel« mit seinen konzentrischen Zingeln aus verschiedenen Zeiten, von denen je ein ovaler und ein rechteckiger mit abgestumpften Ecken miteinander abwechseln, liegt so übersichtlich und sauber freigelegt da, dass selbst ein ungeübtes Auge den Grundriss begreift und sich die Hochterrasse mit dem Tempel, die Säulenreihen davor und die gestuften Toranlagen vorstellen kann. Und nun noch die Prozession, welche sich durch die Tore auf die Terrasse hinaufbewegte, und das göttliche Bildnis: jener unheimlich starräugige Gott, den man mir in Tell Asmar gezeigt hat, aufrecht sitzend, mit spitzen Knien und spitzen Ellbogen und Schultern, einem flachen Kopf mit ungeheurer sumerischer Nase; die Augen aber, unnatürlich vergrössert, verbreiten ein leeres und göttliches Entsetzen . . . 111